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  1. Inhalt
    1. Inhaltsverzeichnis
    2. 0 Inhalt
    3. 0.1 Inhaltsverzeichnis

      0.2 Abbildungsverzeichnis

      1 Einleitung

      2 Geschichte I: Kapitalismus-Konzepte

      2.1 Adam Smith

      2.2 John Stuart Mill

      2.3 Manchester-Liberalismus und Neoklassik

      2.4 Karl Marx

      2.5 John Maynard Keynes

      2.6 Neoliberalismus und Monetarismus

      2.6.1 Neoliberalismus

      2.6.2 Ordoliberalismus

      2.6.3 Monetarismus

      2.7 Resümee

      3 Geschichte II: Die wirtschaftspolitische Ausrichtung der BRD seit ihrer Gründung

      4 "Globalisierungshysterie": Die BRD im Umbruch

      4.1 Bestandsaufnahme

      4.2 Gründe und Erklärungen

      5 Schlußbetrachtung

      6 Literatur

      6.1 Monographien

      6.2 Aufsätze u. dgl.

       

    4. Abbildungsverzeichnis

    Tabelle 1: Chronik des Sozialabbaus

     

    Diagramm 1: Arbeitslosenquote in der BRD 1991 bis 1996; zum Vergleich: Einkommen
    aus Unternehmertätigkeit und Vermögen

    Diagramm 2: Studierende an Hochschulen in der BRD; daneben: BAföG-BezieherInnen
    1991 bis 1995

     

  2. Einleitung
  3. Ein ganz neues Kapitel scheint aufgeschlagen. Das marktwirtschaftlich orientierte System scheint nicht mehr das alte zu sein, und allerorten wird eine neue Qualität von Fragestellungen und eine Einschränkung der Handlungsoptionen postuliert. Wo dies nicht geschieht, scheinen PolitologInnen, WirtschaftswissenschaftlerInnen und PolitikerInnen gleichermaßen paralysiert: Sie resignieren, ohne auch nur den Rest eines gestaltbaren Spielraums zu erkennen, vor den behaupteten Sachzwängen des entfesselten Marktes.

     

    Robert Heilbroner nennt unter Hinweis auf die dem Kapitalismus innewohnende Dynamik fünf industrielle Revolutionen, die Entwicklungsstufen im Prozeß der Ausformung der Gesellschaft darstellen: 1. die Erfindung von Dampfmaschine und Baumwollspinnerei, 2. die Stahlerzeugung, und damit verbunden die Entwicklung von Eisenbahn und Dampfschiffen, 3. die Elektrifizierung, 4. die "automobile" Revolution und schließlich 5. die Computerisierung. Für eine aktuelle Betrachtung müßte man dieses Stufenmodell wohl um zwei Stufen ergänzen, nämlich: 6. den Zusammenbruch der ehemaligen Mitgliedsstaaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW-Staaten) und 7. (eng zusammenhängend mit der 5. Stufe) die Globalisierung der Märkte, die Herausbildung eines sog. "Turbokapitalismus". Keine Diskussion, in der nicht spätestens das dritte Wort "sparen" lautet, keine Debatte über die gesellschaftlichen und staatlichen Perspektiven ohne die beschwörende Andeutung von Standortvor- und -nachteilen.

     

    Die vorliegende Arbeit soll die Frage beleuchten, ob wirklich eine qualitativ neue Entwicklung vorliegt, und sie will angesichts der Tatsache, daß alle wie in einem Hühnerstall zwar aufgeregt herumgackern, Lösungsvorschläge aber nicht unterbreiten und die vorhandenen Analyseinstrumente nicht anwenden, zeigen, daß angesichts (scheinbar?) neuer Entwicklungen nicht alles über Bord geworfen werden muß, was in Zeiten, die noch gar nicht so lange her sind, als Gemeingut galt.

     

    Die Bearbeitung soll in mehreren Schritten erfolgen. Nachdem im 2. Abschnitt zunächst die klassischen ökonomischen Auffassungen von Smith über Marx und Keynes bis hin zu den Neoliberalisten angerissen werden, beschäftigt sich das 3. Kapitel in knapper Form mit der Veränderung des wirtschaftspolitischen mainstream in der BRD seit ihrer Gründung. Das 4. Kapitel zeigt zunächst den Umfang des Sozialabbaus der letzten Jahre auf und geht dann der Frage nach, was vom Topos "Globalisierung" als Rechtfertigung des Marktradikalismus zu halten ist.

     

    Die Arbeit ist auch ein Plädoyer dafür, dem erwähnten Gegackere wieder die ernsthafte Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen folgen zu lassen. Dieses Plädoyer richtet sich im übrigen auch an den Betreuer dieser Arbeit, dessen Aufsatz "Krise des Wohlfahrtsstaates?" dem Verfasser Anlaß zum Wutausbruch war.

  4. Geschichte I: Kapitalismus-Konzepte
    1. Adam Smith
    2. Adam Smith, geboren 1723, Klassiker der marktwirtschaftlichen Theorie, sieht im kapitalistischen Handeln und Tauschen ein Grundbedürfnis des Menschen verwirklicht. Diese Neigung sei "allen Menschen gemein".Ausdruck dieses Bedürfnisses und zugleich Voraussetzung für erhöhte Arbeitsproduktivität ist nach seiner Theorie die arbeitsteilige Lohnarbeit. Selbständige und auch lohnabhängig Beschäftigte tragen zum gesamtgesellschaftlichen Wohlstand bei, obwohl (oder: gerade weil) sie rein eigennützig handeln, indem sie um die Aufbesserung des bloßen eigenen Einkommens bemüht sind:

      "Jeder Mensch ist stest darauf bedacht, die ersprießlichste Anwendung alles Kapitals, über das er zu verfügen hat, ausfindig zu machen.Tatsächlich hat er nur seinen eigenen Vorteil und nicht den der Gesellschaft im Auge; aber natürlich oder vielmehr notwendigerweise, führt ihn die Erwägung seines eigenen Vorteils gerade dahin, daß er die Kapitalbenutzung vorzieht, die zugleich für die Gesellschaft höchst ersprießlich ist."

       

      Die Summe der Aktivitäten der eigennützig Handelnden führt nach Smith aber nicht zur Entwicklung eines völligen Chaos – der entstehende Markt sorge vielmehr in einer letztlich für alle befriedigenden Weise über den Mechanismus von Angebot und Nachfrage für die kollektive Wohlfahrt. Infolgedessen propagiert Smith den Wegfall aller Konkurrenz- und Marktbeschränkungen (einfaches System der natürlichen Freiheit). Dem Staat verbleiben nur noch das Wehr- und Verteidigungswesen, den Schutz der Gesellschaftsmitglieder vor Ungerechtigkeit und Unterdrückung und die Unterhaltung öffentlicher Anstalten in Bereichen, in denen privatwirtschaftliches Engagement aufgrund der zu erzielenden niedrigen Profitraten nicht zu erwarten ist (dazu gehören etwa Verkehrswesen und Schulen bzw. Hochschulen).

       

       

       

    3. John Stuart Mill
    4. Der Ökonom John Stuart Mill veröffentlichte 1848 die "Principles of Political Economy", die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Stellenwert einer "Bibel" der Wirtschaftswissenschaften erreichten. Mill begründet mit diesem Werk den klassischen Liberalismus.

       

      Der Liberalismus stellt die individuelle Freiheit des Menschen in den Vordergrund. Nach Mill soll die Betätigung des einzelnen ihre Schranke erst dort finden, wo die Folgen seines Handelns andere Mitglieder der Gesellschaft treffen bzw. schädigen. Mills Freiheitsvorstellung bezieht sich sowohl auf die individuellen bürgerlichen Rechte als auch auf die wirtschaftliche Betätigung. Gegen diese Freiheitsvorstellung wurde der Einwand erhoben, sie schütze nur die ohnehin besitzende Klasse, also eine Minderheit der Gesellschaft, da etwa die Freiheit, Verträge abzuschließen und Geschäftsbeziehungen auszugestalten, immer nur dem etwas nütze, der auch die wirtschaftliche Durchsetzungsmacht besitze.Ebendieses Argument fand in der BRD in jüngerer Zeit etwa Berücksichtigung bei der Neuregelung des bürgerlichen Rechts, u. a. durch die Einführung des Gesetzes über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz) im Jahre 1976.

       

      Aus der Freiheitsdefiniton des klassischen Liberalismus folgt nach Mill das Recht auf privates Eigentum an Produktionsmitteln. Der Ertrag der eigenen Arbeit und Sparsamkeit müsse dem Individuum wiederum zugute kommen, und im übrigen ergäbe sich durch das privatwirtschaftliche Prinzip ein Effizienzvorteil – das materiell spürbare Ergebnis der Arbeit führe zu höheren Leistungsanreizen als jeder gesellschaftliche oder gesetzliche Ansporn.

       

      Staatlichen Interventionismus lehnt Mill ab, außer in folgenden Ausnahmesituationen: Unvermögen des einzelnen, das Wert eines gesellschaftlich interessanten Gutes oder seine eigenen Interessen zu erkennen (das betrifft auch Geschäftsunfähige wie Kinder), Fälle eines faktischen Monopols wie bei der Wasser- und Energieversorgung (hier soll der Staat Preise und Gewinnverwendung kontrollieren) sowie Situationen, in denen ein Gruppeninteresse das individuelle Interesse eines Gesellschaftsmitglieds überwiegt (als Beispiel nennt Mill die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit, die nur per Gesetz erreicht werden könne, um zu verhindern, daß einzelne Arbeiter durch unsolidarisches Handeln das Gemeininteresse unterlaufen könnten). Die grundsätzliche Ablehnung staatlicher Intervention in das Wirtschaftsgeschehen bezeichnet Mill als den laissez-faire-Grundsatz.

       

      Mill (man beachte das Erscheinungsjahr seines Werks!) ist aber kein geradliniger Verfechter der kapitalistischen Wirtschaftsweise; er erkennt auch die Notwendigkeit von Reformen und lehnt insbesondere die Zuspitzung des Klassengegensatzes zwischen Arbeitern und Kapitalisten ab. Langfristig prognostiziert er daher die Herausbildung einer kooperativen Form der Teilhaberschaft der Arbeiter an ihren Betrieben "nach den Grundsätzen der Gleichheit mit gemeinsamen Besitz des zur Durchführung des Unternehmens nötigen Kapitals und mit der Arbeitsleistung unter von ihnen gewählten und wieder absetzbaren Leitern".

       

    5. Manchester-Liberalismus und Neoklassik
    6. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm man zwar Mill durchaus nicht nur zur Kenntnis, sondern berief sich auch auf viele seiner Thesen. Die reformerischen Visionen und die marktkritischen Ansätze kollidierten aber mit dem Postulat der Manchester-Liberalen, die die staatlichen Funktionen auf die Sicherung der inneren und äußeren Ordnung reduziert sehen ("liberaler Nachtwächterstaat") und dem freien Markt die Regelung aller wirtschaftlichen (und damit sozialen) Angelegenheiten überlassen wollten. Hauptanliegen dieser neuen Schule, zu deren Vertretern Cobden (England), Prince-Smith (Deutschland) und Bastiat (Frankreich) gehörten, war die Durchsetzung des globalen Freihandels.

       

      Kromphardt faßt den Leitgedanken an den ökonomischen Fakultäten so zusammen:

      "Die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion entfernt sich ihrerseits weit von den Fragen der Ordnung und Steuerung des Wirtschaftssystems; sie akzeptiert das kapitalistische Wirtschaftssystem als Rahmen, über den nicht zu diskutieren ist, und analysiert dementsprechend nur das nutzenmaximierende Verhalten der einzelnen Produzenten und Haushalte in einer unveränderlichen, unbeeinflußbaren Umwelt."

       

      Dieses minimalistische Sebstverständnis der Ökonomen sei charakteristisch für den Aufbruch der Neoklassik, einer Richtung, die sich mit staatlichen Lenkungs- und Interventionsmöglichkeiten, der Frage des Eigentums an Produktionsmitten und gesellschaftlichen Perspektiven allenfalls noch am Rande befaßt. Die Neoklassiker behandeln die Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital ökonomisch wie moralisch gleich. Sie rechtfertigen die gegebene Verteilung der Produktionsfaktoren und rechnen die Tatsache der Profitereinvestition den Kapitalisten als produktiven Beitrag, der dem Beitrag der Arbeiter gleichkomme, an.

       

    7. Karl Marx
    8. Die kapitalistische Produktionsweise ist nach Marx gekennzeichnet durch die Entfremdung oder Entäußerung des Arbeiters sowohl von seiner Tätigkeit als auch vom Produkt dieser Tätigkeit. Der Entfremdungsprozeß führt schließlich auch zur Entfernung von anderen Menschen und zur Selbstentfremdung:

      "Die entfremdete Arbeit macht also: [...] das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur, als sein geistige[s] Gattungsvermögen zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur ausser ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen."

       

      1867 erscheint mit dem "Kapital" das Hauptwerk von Karl Marx. Im ersten Band untersucht er den "Produktionsprozeß des Kapitals". Er stellt einen Doppelcharakter der im Kapitalismus hergestellten Ware fest – einerseits diene sie der puren Bedürfnisbefriedigung (habe also einen Gebrauchswert), andererseits werde sie gerade für den Austausch produziert (und habe damit einen Tauschwert). Waren sind nach Marx Produkte menschlicher Arbeit; ihr Wert bestimme sich durch das Quantum der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, die in ihnen verkörpert sind.

      "Das Produkt – das Eigentum des Kapitalisten – ist ein Gebrauchswert, Garn, Stiefel usw. Aber obgleich Stiefel z.B. gewissermaßen die Basis des gesellschaftlichen Fortschritts bilden und unser Kapitalist ein entschiedner Fortschrittsmann ist, fabriziert er die Stiefel nicht ihrer selbst wegen. Der Gebrauchswert ist überhaupt nicht das Ding qu’on aime pour lui-même in der Warenproduktion. Gebrachswerte werden überhaupt nur produziert, weil und sofern sie materielles Substrat, Träger des Tauschwerts sind. Und unsrem Kapitalisten handelt es sich um zweierlei. Erstens will er einen Gebrauchswert produzieren, der einen Tauschwert hat, einen zum Verkauf bestimmten Artikel, eine Ware. Und zweitens will er eine Wahre produzieren, deren Wert höher als die Wertsumme der zu ihrer Produktion erheischten Waren, der Produktionsmittel und der Arbeitskraft, für die er sein gutes Geld auf dem Warenmarkt vorschoß. Er will nicht nur einen Gebrauchswert produzieren, sondern eine Ware, nicht nur Gebrauchswert, sondern Wert, und nicht nur Wert, sondern auch Mehrwert."

       

      Nach Marx stellt auch die Arbeitskraft eine Ware dar. Der Arbeiter besitzt keine anderen Waren (aufgrund der ungerechten Ressourcenverteilung insbesondere keine eigenen Produktionsmittel) außer seiner Arbeitskraft. Um sich zu reproduzieren, also seinen Lebensunterhalt zu verdienen, muß er diese Ware dem Kapitalisten verkaufen. Der Tauschwert der Arbeit, also der empfangene Lohn, entspricht dem Reproduktionswert. Die Entlohnung ist i. d. R. so bemessen, daß der Arbeiter seine Arbeitskraft gerade erhalten und für den Nachwuchs sorgen kann.

      "Bei Marx geht der Konkurrenzdruck auf die Löhne insbesondere von der industriellen Reservearmee aus. Hiermit bezeichnet Marx die im Wachstumsprozeß durch Konjunkturschwankungen, Strukturwandel und technischen Fortschritt freigesetzten Arbeitskräfte, die an anderer Stelle wieder Arbeit suchen müssen. Da bei steigenden Löhnen die Unternehmer besonders stark an einer Substitution von Arbeit durch Kapital interessiert sind, stellt die Freisetzung von Arbeitskräften einen selbstregulierenden Mechanismus dar, der die Löhne stets wieder auf das Subsistenzniveau (Reproduktionskostenniveau) herabdrückt."

       

      Immer dann, wenn der Arbeiter länger arbeitet, als es zu seiner eigenen Reproduktion erforderlich ist, handelt es sich nach Marx um Mehrarbeit: Es entsteht eine Differenz zwischen dem Tauschwert der Ware Arbeitskraft und dem Gebrauchswert. Der Gebrauchswert manifestiert sich nämlich im Arbeitsprodukt. Den erzeugten Mehrwert eignet sich der Kapitalist an. Die erzielten Profite werden weitgehend in den Produktionsprozeß reinvestiert (Akkumulation), wodurch die Produktion vergrößert und das Kapital weiter vermehrt wird.

       

      "Die allgemeine Formel des Kapitals ist" nach Marx Geld – Ware – Geld Strich oder "G – W – G’; d.h. eine Wertsumme wird in Zirkulation geworfen, um eine größre Wertsumme aus ihr herauszuziehn. Der Prozeß, der diese größre Wertsumme produziert, ist die kapitalistische Produktion; der Prozeß, der sie realisiert, ist die Zirkulation das Kapitals."

       

      Marx sieht in den zyklischen Krisen des Kapitalismus eine Gesetzmäßigkeit, die aus dem tendenziellen Fall der Profitrate resultiert. Die Profitrate ist definiert als das Verhältnis der geleisteten Mehrarbeitszeit zum Gesamtkapital: . Es zeigt sich die Tendenz, daß dieselbe Zahl von Arbeitern durch eine erhöhte Arbeitsproduktivität und durch die Veränderung der Produktionsmitteln schließlich in der Lage sei, eine höhere Kapitalmenge in Bewegung zu halten. Die Relation wird damit kleiner (höhere organische Zusammensetzung des Kapitals). Da Quelle des Mehrwerts aber die menschliche Arbeit ist, muß die Profitrate p’ sinken. Trotz der Anstrengungen der einzelnen Kapitalisten, die Produktion auszuweiten und durch eine Erhöhung der Umsätze die geringere Profitrate wettzumachen, bleibt die Tendenz zum Fall der Profitrate erhalten. Gleichzeitig verschärft sich aber die Situation auf den Warenmärkten; es kommt zu relativer Überproduktion verbunden mit Absatzstockungen – die Krise ist programmiert:

      "Diese Versuche der Kapitalisten müssen jedoch scheitern; sie führen zum rapiden Fall der Profite, dann zu Konkursen etc., welche die Krise auslösen."

       

      Als Ausweg erscheint dann nur noch die Vernichtung konstanten Kapitals, also von Produktionsmitteln, zur "Gesundung" der organischen Zusammensetzung:

      "Im Verlaufe der Krise erfolgt eine wertmäßige Vernichtung von Kapital, viele Investitionen erweisen sich als Fehlinvestitionen, Sachanlagen werden abgerissen, abmontiert oder verrosten. Auf diese Weise schrumpft das eingesetzte Kapital, die Profitrate steigt wieder an."

       

      Krisen sind somit sowohl Ausdruck des inneren Widerspruchs des Kapitalismus (Ausweitung der Produktion und Steigerung der Arbeitsproduktivität einhergehend mit der Verringerung des Einsatzes menschlicher Arbeitskraft, obwohl nur diese eigentliche Mehrwertquelle und damit Triebfeder des kapitalistischen Systems ist) und damit systemimmanent; gleichzeitig dienen sie aber zur Selbstreinigung.

       

    9. John Maynard Keynes
    10. Mit seiner 1936 vorgelegten "Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" tritt Keynes der oben (vgl. 2.3) angerissenen neoklassischen Position entgegen: Er geht von der Annahme aus, daß das rein marktwirtschaftliche System instabil ist und der staatlichen Unterstützung und Steuerung bedarf, um beispielsweise das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen. Keynes wendet sich vor allem gegen die Meinung der Neoklassiker, durch Lohnzurückhaltung könnten Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl geschaffen werden – möge dies im Einzelfall noch zutreffen (ein einzelner Arbeiter wird wegen seiner niedrigen Lohnforderung eingestellt), könne dies nicht auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge übertragen werden, da durch kollektive Reduzierung der Löhne auch die Nachfrage der Haushalte der Arbeiter sinke. Keynes empfiehlt, die Löhne nicht zu drücken und

      "die mit steigender Gesamtnachfrage einsetzende Preissteigerung zu tolerieren, um bei unverändertem Nominallohnniveau einen sinkenden Reallohn und steigende Beschäftigung zu erhalten."

       

      Nach Keynesscher Vorstellung obliegt es dem Staat, durch öffentliche Investitionsprogramme, fiskalische Anreize und entsprechende Gestaltung der Steuertarife zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und zur Steigerung der Einkommen beizutragen (Konzept der indirekten Globalsteuerung). Keynes fordert gleichzeitig eine Umverteilung zugunsten derer, deren Einkommen sich am unteren Ende der Skala befinden.

       

      Auf Teile der Keynesschen Theorie berufen sich die Keynesianer. Die keynesianischen Paradigmen der Wirtschaftspolitik waren vor allem in der Zeit nach 1945 in den meisten westlichen Industriestaaten hegemonial; für die BRD drückt sich dies nach Ansicht von Kromphardt im "Gesetz zur Förderung von Stabilität und Wachstum der Wirtschaft" (1967) aus, das als wirtschaftspolitische Zielsetzungen Preisstabilität auf der einen, Vollbeschäftigung auf der anderen Seite nennt.

      --> plus Ebermann/Trampert

       

    11. Neoliberalismus und Monetarismus
    12. In Abgrenzung gegen die keynesianischen Vorstellungen von einer gewissen Wohlfahrtsrolle des Staates ist seit den siebziger Jahren die Position derjenigen stärker geworden, die die reine Marktwirtschaft als ein sich selbst steuerndes und stabilisierendes System ansehen.

       

      1. Neoliberalismus

Die moderne Position des Wirtschaftsliberalismus sieht den Staat jedoch nicht mehr nur in der Rolle des "Nachtwächters", die ihm der Laissez-faire-Liberalismus noch als ausschließliche Aufgabe zuschreiben wollte. Milton Friedman etwa sieht drei Fallgruppen, bei denen ein Eingreifen des Staates wünschenswert ist:

  1. Handlungen von Individuen haben Rückwirkungen auf andere Individuen; Beispiele: Eingreifen des Staates bei Umweltverschmutzung (negative Rückwirkung), Eingreifen des Staates zugunsten des Erziehungswesens (positive Rückwirkung: Stabilisierung der Gesellschaft),
  2. "paternalistische Sorge" für diejenigen, die nicht voll verantwortlich sein können (Beispiele: Kinder, Geisteskranke), und
  3. "technische Monopole" wie Gas- und Wasserversorgung sowie Telekommunikation (Friedman spricht sich hier für staatlich kontrollierte Privatmonopole, nicht jedoch für eine wirtschaftliche Betätigung des Staates aus).

 

Deutlicher als Kromphardt, der Friedman als prominenten Vertreter neoliberaler Theorie anführt, formuliert Schui:

"Der Neoliberalismus ist nicht einfach eine Wirtschaftsdoktrin unter vielen; es handelt sich vielmehr um eine politische Bewegung, in der die ökonomische Rechte mit der politischen Rechten eine Verbindung eingeht, um der Epoche des Wohlfahrtsstaates und der Demokratisierung ein Ende zu setzen. Theoretischer Neoliberalismus und politischer Marktradikalismus sind ein einheitliches Ganzes."

 

      1. Ordoliberalismus
      2. Die Ordoliberalen fordern vom Staat die Garantie der freien Wettbewerbsordnung. Dazu soll er Monopole auflösen und Machtzusammenballungen im Wirtschaftsgefüge verhindern, also beispielsweise der Eigentumskonzentration entgegenwirkt. Die Ordoliberalen halten das Privateigentum an Produktionsmitteln für eine unabdingbare Voraussetzung individueller Freiheit. Die Verwirklichung des "echten" Wettbewerbs macht nach ihrer Vorstellung die Marktwirtschaft so leistungsfähig, daß sich eine staatliche Lenkung erübrigt.

         

      3. Monetarismus

Die monetaristische Theorie gründet sich zunächst auf die Ablehnung des keynesianischen Modells. Nachfrage der privaten Haushalte könne nicht über kurzfristig wirksame Einkommenserhöhungen geschaffen werden, sondern nur durch das Vertrauen der privaten Haushalte in eine dauerhaft positive wirtschaftliche Entwicklung (Dauereinkommen-Hypothese). Der Monetarismus geht von den Selbstheilungskräften des Marktes aus, betrachtet also den privaten Sektor im Gegensatz zu Keynes als stabil, und hält staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen für in aller Regel schädlich.

 

Einige Autoren, die dem neoliberal-monetaristischen Konzept zuneigen, verharmlosen u. a. die Existenz von Arbeitslosigkeit im Kapitalismus. Sie behaupten, daß Arbeitslosigkeit von den Arbeitnehmern freiwillig in Kauf genommen werde, da diese nicht bereit seien, vorhandene Arbeitsangebote anzunehmen, sondern nach besser bezahlten Arbeitsplätzen suchten. Kromphardt kommentiert zu Recht:

"Je häufiger man [bei den Monetaristen] dieser Tendenz zur Verharmlosung oder Verleugnung von Fehlentwicklungen begegnet, desto mehr muß der Verdacht berechtigt erscheinen, daß [ihre] Bemühungen [...] kaum darauf gerichtet sind, die Realität besser zu erklären und die existierenden wirtschaftspolitischen Probleme gemäß den Wünschen und Bedürfnissen, die von der Mehrheit der Bevölkerung [...] zum Ausdruck gebracht werden, zu lösen; vielmehr scheinen sie bemüht zu sein, die Realität so zu interpretieren, daß sie mit einer wirtschaftspolitischen Konzeption vereinbar wird, die das kapitalistische Wirtschaftssystem im besten Licht erscheinen läßt und so alle Forderungen abblockt, die auf eine Einschränkung der Dispositionsfreiheit der Privateigentümer von Produktionsmitteln [...] abzielen."

 

    1. Resümee

Kapitel 2 stellte in knapper Form die klassischen, neoklassischen und materialistischen Wirtschaftstheorien vor. Es soll zeigen, daß viele der Vorschläge, die heute zur Lösung der "Globalisierungsprobleme" in die öffentliche Diskussion geworfen werden und die meisten der Rezepte, die der politische mainstream anwendet, gar nicht das sind, was sie zu sein vorgeben. Sie sind weder neu noch innovativ. Das trifft insbesondere auf neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeptionen zu, denen der Ideologieverdacht (Kromphardt) nicht abgesprochen werden kann.

 

Mit dieser Feststellung sei die These verbunden, daß Abbau des Sozialstaats und Abkehr von einer "sozialen" Variante der Marktwirtschaft weniger mit real existierenden wirtschaftlichen Tendenzen zu tun hat als vielmehr mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz durch die ehemaligen Comecon-Staaten seit deren Zusammenbruch 1989/90.

  1. Geschichte II: Die wirtschaftspolitische Ausrichtung der BRD seit ihrer Gründung
  2. Noch vor der Gründung der BRD im Jahre 1949 beschäftigte sich die Politik mit dem Leitbild einer bundesdeutschen Wirtschaftspolitik. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929/1930 wollte man die gesellschaftlichen Folgen des Marktes und des freien Wettbewerbs abmildern. In das Grundgesetz fand das Gebot Aufnahme, daß die junge Republik ein sozialer und demokratischer Bundesstaat werden solle (Art. 20 Abs 1 GG); die Eigentumsrechte fanden in die provisorische Verfassung Eingang unter Sozialisierungsvorbehalt für Schlüsselindustrien und mit einer Sozialbindungsklausel (Art. 14 Abs. 2 f. GG). Durch die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) wurde auch den Gewerkschaften die Möglichkeit der organisierten Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung eingeräumt.

     

    Noch 1947 befürwortete die CDU im Ahlener Programm unter Hinweis auf möglichen Machtmißbrauch durch wirtschaftliche Monopole die Vergesellschaftlichung von Schlüsselindustrien und bewies damit, daß sie politische (bzw. Verfassungs-)vorgaben für elementarer hielt als die individuelle Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung.

     

    Unter diesen Prämissen entwickelte sich ein Konsens bezüglich der wirtschaftspolitischen Ausgestaltung des Staates BRD. Den Keynesianern stimmte man zu, daß die öffentliche Hand in konjunkturschwachen Phasen zu einer Steigerung des Massenkonsums beitragen müsse. Dazu gehörte etwa die Akzeptanz der Rolle der Gewerkschaften, die über Lohnsteigerungen die Nachfrage der Arbeitnehmerhaushalte erhöhen. Über öffentliche Transferleistungen sollte auch denen, die über Arbeitseinkommen nicht oder nur in geringer Höhe verfügten, der Konsum ermöglicht werden. Bei diesen Transferleistungen handelt es sich aber nicht um fremdfinanzierte Zahlungen, sondern:

    "Der Sozialstaat lebt nicht vom gegebenen Stand der Produktion; vielmehr wird durch seine Regulierungen diejenige zusätzliche Produktion erst geschaffen, die ihn alimentiert." (Ebd.)

     

    Nach Schui war Ergebnis dieser Zielvorstellungen ein "gemischtwirtschaftliches System", das vom Dualismus privater und politischer Entscheidungsbefugnis einerseits, vom Nebeneinander verschiedener Formen des Eigentums an Produktionsmitteln (privatwirtschaftliche, genossenschaftliche oder staatliche Lenkung von Betrieben) gekennzeichnet war. Voraussetzung für dieses reformistische System waren die starke Position der Gewerkschaften, die Verbesserung der sozialen Sicherungssysteme und Umverteilungseffekte durch Progressionstarife bei der Einkommensteuer.

     

    Bis zur Ölkrise zu Beginn der 70er Jahre (in Teilen der Literatur als exogener Schock angesehen) führten diese Strategien zu (annähernd erreichter) Vollbeschäftigung, steigendem Lebensniveau und steigender Prosperität. Für die Zeit danach ist eine zunächst gleichbleibende, später wachsende Sockelarbeitslosigkeit in erheblichem Ausmaß festzustellen.

     

    Schui konstatiert aber auch, und das wiegt schwerer als ein exogener Schock, eine Abkehr vom Ziel der Vollbeschäftigung seit Mitte der 70er Jahre; velmehr habe nun eine monetaristische Ära begonnen. Die neoliberal-monetaristische Wirtschaftsauffassung aber lasse letztlich keinen Platz für die Durchsetzung sozialer Gleichheit und gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Diese seien in einem neokonservativen Denkmodell als Ziele nicht definierbar, vielmehr könnten solche Ideale nur "prozedural" realisiert werden - durch die Gewährleistung von Vertragsfreiheit und durch das Vertrauen auf die bereits erwähnte Selbstregulierung und -stabilisierung qua Marktgeschehen. Deutlicher: Das Primat, durch politische Entscheidungen soziale Veränderungen durchzusetzen, sei zugunsten der bedingungslosen Unterwerfung unter soziale Realitäten aufgegeben worden.

     

    Ein schlanker Staat Bundesrepublik oder das "Ende des Rheinischen Modells" hat also nun nicht mehr das Ziel, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu beseitigen und die Opfer der Marktwirtschaft vor dem Ruin zu bewahren. Sein Primat ist vielmehr die Deregulierung möglichst vieler Bereiche, und damit beschäftigt sich das nächste Kapitel.

     

     

  3. "Globalisierungshysterie": Die BRD im Umbruch
    1. Bestandsaufnahme

Im Jahr 1995 machte ein Ausspruch des ehemaligen Chefs des Bundesverbands der deutschen Industrie, Tyll Necker, die Runde: man müsse die Krise nutzen, jetzt seien die Menschen reif. Diese ebenso zynische wie prägnante Aussage trifft den Angelpunkt des Diskurses in der BRD recht genau. Eine zyklische Krise des Kapitalismus wird instrumentalisiert, um den Sozialstaat zurückzufahren und die schon immer mißliebigen Aspekte bundesrepublikanischen Wirtschaftslebens umzugestalten. Mit anderen Worten:

"Es besteht wenig Zweifel: Der die Bundesrepublik lange Jahre prägende sozialstaatliche Konsens, dessen Stabilität und Breitenwirkung zweifelsohne durch die Erfahrungen mit Faschismus und Krieg, aber auch durch die spezifischen Bedingungen der Systemkonkurrenz, zu erklären sind, löst sich auf."

 

Oder in der Formulierung der Gruppe von Lissabon:

"Der Abbau des Sozialstaats ist in Großbritannien am weitesten fortgeschritten und hat die Soziallandschaften in Westeuropa tiefgreifend verändert. Das Ausmaß des Abbaus wurde bis vor kurzem in Deutschland, den Niederlanden und in Skandinavien in Grenzen gehalten. Doch ist der Druck, den Sozialabbau voranzutreiben, so stark, daß der Widerstand dagegen auch in Deutschland und den Niederlanden nachgelassen hat und der Umbau des Sozialstaats in vollem Gange ist. [...] In Deutschland stellt die Verabschiedung des ‘Sparpakets’ im Oktober 1996, in dem soziale Errungenschaften wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall abgeschafft wurden, einen vorläufigen Höhepunkt dar."

 

In der Tat ist in den letzten Jahren in der BRD ein wahrer "Katalog der Grausamkeiten" zusammengezimmert worden, ein Katalog, der unter den Stichworten "Reform" und "Entschlackung" oder "Verschlankung" verkauft wurde. Alle "Grausamkeiten" der jüngeren Vergangenheit an dieser Stelle aufzuzählen, wäre müßig; einige Beispiele und der Verweis auf das zitierte Sparpaket 1996 sollen genügen.

 

In der chronologischen Übersicht sieht das so aus:

1989

Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes; Einsparung: 1,29 Mrd. DM

Erhöhung der Versicherten-Zuzahlungen für Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung; Kosten für Zahnersatz und Brillengestelle werden nicht mehr vollständig erstattet

1990

Nach einer Studie von DGB und DPWV beziehen in den alten Bundesländern 4 Mio. Menschen Sozialhilfe

1991

Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 4,3 Prozentpunkte

1992

Mit einem "föderalen Konsolidierungsprogramm" sollen in den nächsten vier Jahren 28,3 Mrd. DM an Aufwendungen für Sozialhilfe, BAföG, Wohngeld und Lohnersatzleistungen eingespart werden

10 % der Bevölkerung verfügt über ein monatliches Pro-Kopf-Einkommen von unter 806 DM und gilt damit als arm

1993

Die Mehrwertsteuer wird um einen Prozentpunkt erhöht

Die Kündigungsfristen für Angestellte werden verkürzt

Das Arbeitszeitgesetz wird so angepaßt, daß längere Wochenarbeitszeiten ermöglicht werden

Neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden nicht mehr bewilligt

Die Zuzahlung der gesetzlich Krankenversicherten zu Medikamenten und bei Krankenhausaufenthalten wird erhöht

Das Lohnabstandsgebot für den Bezug von Sozialhilfe wird eingeführt

Nach Schätzungen leben etwa 5 Mio. BundesbürgerInnen von Sozialhilfe

1994

Senkung der Höhe der Lohnersatzleistungen, Begrenzung der Bezugsdauer für Arbeitslosenhilfe auf ein Jahr

Zwangsverpflichtung von SozialhilfeempfängerInnen zu Arbeitsleistungen

1997

Gesundheitsreform: Erhöhung der Zuzahlungen, Leistungskürzung, Verkürzung der Regeldauer von Kuren

1998

Verschärfung der Bezugsbedingungen für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe

Ab April: Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt

Tabelle 1: Chronik des Sozialabbaus

Diese Aufzählungen erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. – Clemens Knobloch würdigt die Legitimationsschlagwörter für den Sozialabbau:

"Vom ‘Rückbau’ des Sozialstaates ist die Rede. Wer da in den Umkreis einer ‘Anpassung’ oder gar einer ‘Reform’ gerät, der tut gut daran, sich warm anzuziehen. Daß diese Ausdrücke im Munde der Politiker einen drohenden Unterton angenommen haben, ist noch milde formuliert."

 

Der Abbau von Transfer- und Ausgleichsleistungen wird begleitet von einer Stigmatisierung der BezieherInnen etwa von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe. Ganz im Sinne der monetaristischen Vorstellung von "Sucharbeitslosigkeit" war noch bis vor wenigen Jahren der Ausspruch "wer arbeiten will, findet auch einen Arbeitsplatz" Gemeingut. Heute aber läßt sich ein solches Stigma des Arbeitslosen, der nur zu faul zum Arbeiten (oder eben zum Suchen einer Arbeitsstelle) ist, angesichts von Massenarbeitslosigkeit schlecht verkaufen. Aktuell wird daher gerne auf Begriffe wie "Sozialmißbrauch" oder "Leistungserschleichung" zurückgegriffen; sie dienen zugleich als Kampfbegriffe, um die "soziale Hängematte", die den "kollektiven Freizeitpark Deutschland" (Kohl) abfedert, zu stutzen.

 

Niemand – und da scheinen die Gewerkschaften erst in jüngster Zeit wieder eine Ausnahme zu bilden – aber spricht davon, daß bei steigender Arbeitslosigkeit gleichzeitig die Gewinne aus Unternehmertätigkeit und Vermögen stetig gewachsen sind, wie Abbildung 1 zeigt.

 

Diagramm 1: Arbeitslosenquote in der BRD 1991 bis 1996; zum Vergleich: Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen

 

In anderen Bereichen der Gesellschaft sind die materiellen Probleme sozial Schwacher ebenfalls offensichtlich. Exemplarisch seien in Abbildung 2 die Gesamtzahl der Studierenden und die Zahl derjenigen StudentInnen, die Ausbildungsförderung nach dem BAföG erhalten, gegenübergestellt. Bezogen im Jahr 1991 noch knapp 25 % der Immatrikulierten BAföG, waren es vier Jahre später nicht einmal mehr 17 %.

Diagramm 2: Studierende an Hochschulen in der BRD; daneben:
BAföG-BezieherInnen 1991 bis 1995

 

    1. Gründe und Erklärungen

Die offiziellen Begründung der Sparprogramme und der aufgezeigten Umverteilung von unten nach oben: Die Globalisierung der Wirtschaft habe dazu geführt, daß der internationale Wettbewerb immer schärfer wurde. Gelinge es der BRD nicht, behauptete "Standortnachteile" abzubauen, werde sich die wirtschaftliche Situation noch weiter verschlechtern, mithin die Arbeitslosigkeit weiter steigen. Neben den oben geschilderten Folgen für das System der sozialen Sicherung steht die Forderung der Arbeitgeberverbände und der konservativ-liberalen Koalition im Raum, die Löhne und Gehälter zu flexibilisieren (sprich: zu reduzieren). Die Industrieverbände fordern darüber hinaus eine Abkehr vom System der Flächentarifverträge und damit eine Schwächung der Durchsetzungsmacht der ArbeitnehmerInnenseite.

 

Rainer Trampert formuliert das unter Bezug auf eine Roman-Herzog-Rede so:

"Alle sollen Opfer bringen und Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Wirklich alle? Nein. [Bundespräsident Herzog] meint selbstverständlich nicht – wie man annehmen könnte, wenn von Besitzständen geredet wird – die Enteignung des Kapitals, sondern die Enteignung von Lohn, Arbeitslosen- und Sozialhilfe, und von Geld, das für kranke Menschen aufgewendet wird. Arbeitszeiten und Löhne sollen, sagt er, mit den Ansprüchen des Unternehmens in Einklang gebracht werden."

 

Ist die Globalisierungshysterie gerechtfertigt oder dient der "Standort" mit seinen komparativen Vor- oder Nachteilen nur der Legitimation der Abkehr von sozial abgefederter Marktwirtschaft? Gerhard Bäcker warnt vor der Hysterie und plädiert dafür, die echten Kriterien im Blick zu behalten, die die Wettbewerbsfähigkeit eines Staates ausmachen: das Verhältnis zwischen Arbeitsproduktivität und Lohnkosten. Dieses Verhältnis, die Lohnstückkosten, liefere aber für die alte BRD, verglichen mit anderen westlichen Industriestaaten, keinen Wert, der Horrorszenarien rechtfertige:

"Von einer generellen Kostenkrise in Westdeutschland kann folglich nicht gesprochen werden; die Steigerung von Lohnkosten wie von Lohnnebenkosten einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung sind durch Produktivitätssteigerungen ‘verdient’ worden."

Bäcker verweist ferner auf die Überschüsse in der Außenhandelsbilanz der BRD; der Ausdruck "Kostenweltmeister Deutschland" sei populistisch zu verstehen. Die BRD sei nicht etwa unschuldiges Opfer eines internationalen Wettbewerbs, sondern als stärkstes EU-Mitglied mit hoher Wirtschaftskraft selbst Träger und Motor des globalen Wettlaufs um Deregulierung und Sozialstaatsabbau.

 

Wenn zwar Globalisierungstendenzen und ein größeres Arbeitskräfteangebot durch den Zusammenbruch der RGW-Staaten vorhanden sind, diese aber gerade auf die Bundesrepublik scheinbar keine so gravierenden Auswirkungen haben, wie gerne behauptet wird, verdichten sich die Anzeichen dafür, daß die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und die Verschärfung des globalen Wettbewerbs dramatisiert und überspitzt werden, um ein neoliberales Modell durchzusetzen. Um meine These vom Ende des 2. Kapitels noch einmal aufzunehmen: Vielleicht kann man sich genau das nach dem Scheitern des Realsozialismus auch wieder leisten. Hoffnungsalternativen in Form eines wirklich existierenden anderen System gibt es nicht mehr; der Kapitalismus ist (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) hegemonial geworden. Warum sollte er dann noch als soziales System verkauft werden, lassen sich die Aufwendungen dafür doch besser als Profit einstreichen?

 

 

  1. Schlußbetrachtung
  2. "Der historische Kommunismus ist gescheitert. Doch die Herausforderung, die er dargestellt hat, ist geblieben. Wenn wir nun sagen, daß wir in diesem Teil der Welt die Zweidrittelgesellschaft hervorgebracht haben, können wir die Augen nicht vor der weit größeren Zahl jener Länder verschließen, wo die Zweidrittel- oder Vierfünftel- oder sogar die Neunzehntelgesellschaft der andere Teil der Gesellschaft ist.

    Angesichts der Realität ist die Unterscheidung zwischen rechts und links, für die das Ideal der Gleichheit immer der Polarstern war, eindeutig und klar. Es genügt schon, den Blick auf die internationale soziale Frage zu richten, um sich darüber klar zu werden, daß die Linke ihren Weg nicht nur nicht zu Ende gegangen ist, sondern ihn überhaupt erst beginnt." (Noberto Bobbio)

     

    Ob es innerhalb der kapitalistischen Systemlogik eine Wende geben kann, die eine Wiedererlangung einer sozialen Marktwirtschaft zum Ziel hat, erscheint fraglich. Schon Karl Marx stellt fest, daß Ergebnis der Lohnarbeit auch die Bildung einer "industriellen Reservearmee" ist – für die Produktion überflüssige Menschen, eine "konsolidierte Überbevölkerung". Marx nennt dies das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, u. a. mit der Konsequenz, daß die Arbeitslosen qua Arbeitsangebot massiven Druck auf die Löhne ausüben.

     

    Wenn dies so ist, und die Phänomene scheinen dieses Axiom zu bestätigen, ergibt sich die Frage, ob ein marktwirtschaftliches System überhaupt in der Lage ist, die Probleme der Menschheit zu lösen. Womit die gesamte Menschheit gemeint ist, nicht nur der Teil, der Brot und Arbeit hat. Wenn die Leitfrage allen politischen Handelns die ist, wie allen Menschen eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten ist, ist nicht das sozialistische Modell gescheitert, sondern angesichts dessen, "was hinten herauskommt" (Kohl), die Marktwirtschaft.

     

     

  3. Literatur
    1. Monographien
    2. Ebermann, Thomas/Rainer Trampert: Die Offenbarung der Propheten. Über die Sanierung des Kapitalismus, die Verwandlung linker Theorie in Esoterik, Bocksgesänge und Zivilgesellschaft. 2. Aufl., Hamburg 1996.

      Die Gruppe von Lissabon: Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit. (1995) Bonn 1997 (Lizenzausgabe für die BZpolB).

      Heilbroner, Robert: Kapitalismus im 21. Jahrhundert. München/Wien 1994.

      Klein, Dieter et al. (Hg.): Politische Ökonomie des Kapitalismus. 5. Aufl., Ost-Berlin 1988.

      Kromphardt, Jürgen: Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus. Göttingen 1980.

      Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 3 Bde. (1890) Separatdruck Ost-Berlin 1971 (identisch mit und zit. als MEW Bde. 23 bis 25).

      Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. (1844) 4., unveränd. Aufl., Leipzig 1988, V, XXIV.

      Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 1997. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1997 (= Schriftenreihe der BZpolB Bd. 340; zit. als Datenreport 1997).

       

    3. Aufsätze u. dgl.

Bäcker, Gerhard: Der Sozialstaat hat eine Zukunft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 48-49/97, S. 12-20.

Bischoff, Joachim: Ende des Rheinischen Modells. In: Johanna Klages/Peter Strutynski (Hg.): Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Hamburg 1997,
S. 26-40.

Knobloch, Clemens: Alles eine Frage des Standorts. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 46 (1996) Nr. 5, S. 527-531.

Schui, Herbert: Die politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates und der Neoliberalismus. In: Johanna Klages/Peter Strutynski (Hg.): Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Hamburg 1997, S. 9-25.

Trampert, Rainer: Rede auf der Veranstaltung "Heraus zum Roten 1. Mai" am 1.5.1997 in Siegen (unveröffentlichtes Manuskript, Privatarchiv des Verfassers).

O. Verf.: Sozialer Kahlschlag. In: unsere zeit-Magazin Nr. 1/98, S. 4 f.