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1 Einleitung

Beginnen möchte ich mit einem Fallbericht eines Jungen, der autistische Züge zeigt.
Clifford wurde geboren am 21.8.1947. Der Vater ist ein ehemaliger Offizier der Armee, die Mutter hat eine verantwortliche Stellung in der Verwaltung. Beide haben eine höhere Schulbildung. Beide sind rechtshändig und hatten selbst keine Verzögerungen in ihrer Sprachentwicklung; allerdings hat der Vater einige Mühe mit dem Lesen und Schreiben und schaffte es mit 13 Jahren nur mit Mühe, in die Grammar School zu kommen, machte dann aber rasche Fortschritte. Die Mutter war 20, als Clifford als ältestes von 4 Kindern nach normaler Schwangerschaft und Entbindung geboren wurde. Alle Geschwister sind rechtshändig, aber Clifford ist beidhändig. Der zweite Junge, Richard, hat etwas Schwierigkeiten bei der Rechtschreibung (Vertauschung von Silben und Verwechslung von Buchstaben wie "b" und "p"). Er hat eine zögernde, stoßweise Art zu sprechen, was sich, wenn er verlegen ist, sehr ähnlich wie bei Clifford anhört. Richard ist sonst normal.
Clifford saugte von Geburt an nicht richtig und brauchte einen Nuckel mit sehr großem Loch. Er schrie während der ersten zwei Monate sehr viel und war anscheinend in der Nacht lebendiger als am Tag. Er schien auf seine Eltern nicht zu reagieren und streckten ihnen nicht die Arme entgegen, in Erwartung, aufgenommen zu werden. Auch zeigte er nicht auf Gegenstände und reagierte nicht mit irgendwelchen Lauten auf vorübergehende Menschen. Er war ein ruhiger Säugling, der gut schlief und auf dem Arm anschmiegsam war. Er saß mit 10 Monaten, stand mit 2 Jahren und lief mit 2 ½ Jahren, jedoch sehr unsicher. Seine ersten Wörter kamen mit 2 Jahren und waren klar ausgesprochen, aber die Sprache entwickelte sich nie richtig. Er hatte eine ausgeprägte Echolalie und wiederholte häufig immer dieselben Ausdrücke, auch hatte er große Schwierigkeiten bei der Benennung von Dingen. Seine Aussprache war schlecht, man konnte ihn manchmal schwer verstehen; er selbst wußte aber, was die von ihm gesprochenen Wörter bedeuteten. Er vertauschte nie die Pronomen und hatte keine Schwierigkeiten beim Gebrauch des "ja". Seine Eltern waren sicher, daß er weit mehr verstehen als selbst ausdrücken konnte. Aus diesem Grund zog er es vermutlich vor, still zu bleiben. Es gab z.B. oft lange Pausen, ehe er auf Fragen antwortete.
Was ist das für eine Krankheit, die sich durch so viele Symptome zeigt, wobei aber nicht alle Symptome auf einmal auftreten. Im ICD-10 wird der Autismus so beschrieben:
"Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung definiert ist und sich vor dem 3. Lebensjahr manifestiert; außerdem ist sie durch eine gestörte Funktionsfähigkeit in den drei folgenden Bereichen charakterisiert: In der sozialen Interaktion, der Kommunikation und in eingeschränktem repetitiven Verhalten. Die Störung tritt bei Jungen drei- bis viermal häufiger auf als bei Mädchen."[1]

2 Klinische Aspekte des Autismus

2.1 Symptome und Verbreitung

2.1.1 "Autistisches" Verhalten

Das erste Symptom, der eigentliche "Autismus", die Abkapselung von der menschlichen Umwelt, ist häufig schon im ersten Lebensjahr erkennbar. Das Kind antwortet dem Blick der Mutter nicht mit einem Lächeln; es streckt ihr nicht die Arme entgegen, wenn sie es hochnehmen will. In anderen Fällen scheint die Entwicklung zunächst ungestört zu verlaufen, um dann (meist im Alter von 2 bis 3 Jahren) in das autistische Verhalten umzuschlagen..
Die Tendenz des jungen autistischen Kindes, an Gegenständen und Personen vorbeizusehen, sie nur für sehr kurze Zeit zu fixieren hat zu der Annahme geführt, daß der "Autismus" (d.h. die Unfähigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen) der Kern des Syndroms ist.
Sie betrachten den anderen Menschen nur als Gegenstand, der ihnen vielleicht beim Laufen durch das Zimmer im Wege steht und dem sie ausweichen oder den sie auch überklettern. Dieser Gegenstand Mensch kann sich aber auch als Sesselersatz brauchbar erweisen. Die Hand des Erziehers wird als Werkzeug benutzt: das Kind führt sie zu einem erwünschten Gegenstand, um diesen damit zu ergreifen,
Das Ignorieren des eigentlich Menschlichen ist so auffallend, daß man eine "Störung des Physiognomie-Erkennens"[2] vermutet hat.
Auch der Mangel an Initiative kann kaum ein primäres Symptom sein. Wenn die Beeinträchtigung der Wahrnehmung sehr stark ist, hat das Kind vermutlich fast nur Mißerfolge erlebt und ist deshalb wahrscheinlich an Versuchen, etwas zu lernen, kaum noch interessiert. Jedenfalls widerlegt der außerordentliche Einfallsreichtum und die große Ausdauer vieler autistischer Kinder bei der Verfolgung solcher Ziele, die sie wirklich verstehen konnten, die Ansicht, daß Antriebsmangel ein allgemeines Charakteristikum des kindlichen Autismus ist.

2.1.2 Probleme der auditiven Wahrnehmung

Autistische Kinder haben Schwierigkeiten, auditive Informationen zu verwerten. Typisch ist, daß sie in irgendeiner Phase auf bestimmte Geräusche augenscheinlich nicht reagieren. Es kommt vor, daß ein Kind auf ein lautes Geräusch hinter seinem Rücken nicht reagiert, sich aber bei leisem Papiergeraschel umdreht. Manchmal scheint es, als habe das Kind Mühe festzustellen, aus welcher Richtung ein Laut kommt. Oft wird gefragt, ob das Kind taub sei. Das Kind geht fort und hält sich die Ohren zu oder gerät in Spannung, Unruhe und Angst. Andererseits interessieren sich manche Kinder für bestimmte Laute sehr: für ein Echo, für Klopfen, für das Geräusch eines Windrädchens usw. Besondere Freude haben sie an Musik. Viele können singen, auch wenn sie nicht sprechen können, und geben selbst komplizierte Melodien vollkommen richtig wieder. Es bestehen große Schwierigkeiten im Sprachverständnis, obwohl manche Kinder mehr verstehen, als sie selbst in Worten ausdrücken können.

2.1.3 Probleme der visuellen Wahrnehmung

Viele Kinder haben Schwierigkeiten, gesehene Dinge wirklich zu erfassen, es kommt mitunter vor, daß ein Kind das eigene Haus von weitem nicht erkennt..
Sie haben oft die Neigung zu sekundärem statt zentralem Sehen.
Häufig kann man auch beobachten, daß sie den Kopf hin und her bewegen, um einen ruhenden Gegenstand zu beobachten.
Sie kratzen und klopfen oft an Oberflächen, wegen des Geräuschs und der Tastempfindung. Manche Farben , Strukturen oder Umrisse sind sehr anziehend für diese Kinder.

2.1.4 Sprachstörungen

Bei manchen Kindern kommt es gar nicht zu einer Sprachentwicklung, bei anderen geht sie wieder verloren.
Manchmal funktioniert der Ausdruck der Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) nicht richtig, oder andere grammatische Regeln können nicht zufriedenstellend gebraucht werden. Manchmal hat man den Eindruck, daß die Kinder überhaupt den eigentlichen Sinn der Sprache als Kommunikationsmittel nicht richtig verstanden haben.
Echolalie: Das Kind wiederholt den letzten Ausdruck oder das letzte Wort, das gesagt wurde, oft mit der gleichen Flexion. Es wiederholt bestimmte Ausdrücke ständig. Es beantwortet keine Fragen, sondern spricht sie als Echo nach.
Bei den Autisten bleibt jedoch die Echolalie über Jahre - evtl. bis ins Jugendalter - erhalten. Es spricht Sätze im gleichen Tonfall aus, wie sie vorgesprochen wurden. Man beobachtet aber auch verspätetet Echolalie, d.h. Sätze der Mutter, oft Aufforderungen oder Verbote, werden bei einer anderen Gelegenheit wieder formuliert. Dann wiederholt das Kind diese Sätze oft ständig, was man Literation nennt. Man hat den Eindruck, daß es Beschäftigungslücken einfach mit dieser Echolalie ausfüllt, die gar keinen Bezug zur augenblicklichen Situation hat.
Im Zusammenhang mit der Echolalie entwickelt sich bei autistischen Kindern oft eine weitere, recht spezifische Spracheigentümlichkeit: die pronominale Umkehr. Aus der Fragewiederholung entsteht die Tendenz, sich selbst mit Du zu benennen. Auch dieses Phänomen kann bei autistischen Kindern über viele Jahre erhalten bleiben. Sie benennen sich grundsätzlich nicht mit Ich, sondern mit Du, evtl. mit ihrem Eigennamen. Letzteres passiert auch in einer Durchgangsphase in der Sprachentwicklung normaler Kinder, bis sie schließlich begriffen haben, daß die Sprache für die eigene Person das Wort Ich vorgesehen hat.
Dieses verspätete oder erschwerte Ich-Sagen autistischer Kinder ist offenbar kein psychologisches, sondern ein linguistisches Phänomen.
Wenn die Sprache entwickelt ist, lernen sie viel schneller das Wort "Nein" als "Ja".
Es kommt zu spontanen Äußerungen, die in der Ausdrucksweise und der grammatischen Form fehlerhaft und oft schwer verständlich sind. Manchmal werden Wörter zu konkret verwendet: z.B. kann "Schüssel" nur die Abwaschschüssel bedeuten, aber nicht die Schüssel, woraus der Hund Wasser trinkt. Es werden Namen von Gegenständen verwechselt, aber nicht die Gegenstände selbst. Charakteristisch ist die Nominalphase, d.h. das z.B. ein Teekessel "Noch-eine-Tasse-Tee" genannt wird, oder ein Hammer wird "Schlag-es-hinein" genannt.
Aus Wörtern, die es nicht kennt, macht das Kind Sequenzen aus vertrauten Wörtern. Sprachfragmente werden als Bedeutungsträger verwendet
Auch kommt es häufig vor, daß die Kinder im Telegrammstil reden.
Andere Kinder ziehen längere Sätze zu einem einzigen Wort zusammen, so das es für Andere kaum noch verständlich ist.
Sätze werden in grammatikalisch falscher Reihenfolge gebildet. Autistische Kinder verstehen am besten Substantive. Abstrakte Bedeutungen werden meist sehr schwer verstanden. Eine typische Antwort auf die Frage: "Was würdest du tun, wenn du dich mit dem Messer schneidest?" lautet "Blut"
Das autistische Kind hat Schwierigkeiten, eine ganze Reihe von Sprachregeln richtig zu verstehen. Manche Autisten haben Probleme mit den Präpositionen; sie tun sich z.B. schwer, auf, über und unter richtig anzuwenden.
Komplizierte sprachliche Konstruktionen sind für sie sehr schwer verständlich. Ihre nonverbale Kommunikation ist kaum ausgeprägt.
Die gesamte Sprachentwicklung ist meistens gestört, oft verzögert. Teils in Zusammenhang mit der Tendenz zur Isolierung - das Kind hat Sprache als Kommunikationsmittel nicht nötig -, aber wahrscheinlich auch wegen gewisser Defekte der Sprachzentren, entwickelt sich eine qualitativ andere Sprache als bei anderen Menschen.
Wenn sie intelligent sind und (nicht so selten) ein gutes Gedächtnis für gehörte, evtl. auch für gelesene Sprache haben, so übernehmen sie einfach ganze Sätze oder bestimmte Ausdrücke aus irgendeiner Sprachquelle, um sie dann immer in der gleichen Weise anzuwenden. Sie formulieren nicht kreativ.
Ein typisches Zeichen dafür, daß Sprache nicht zur Kommunikation angewandt wird, ist die Neigung zu Selbstgesprächen. Ein autistisches Kind spricht kaum mit Partnern, aber allein gelassen viel mit sich selbst. Spiele werden mit Sprechen begleitet. Man unterhält sich mit Puppen, oder diese sprechen miteinander. Bei höherer Intelligenz werden im eigenen Zimmer sogar komplizierte Diskussionen geführt, manchmal mit verteilten Rollen.
Gelegentlich kommt bei Autisten ein eigenartiges Sprachphänomen vor, sie erfinden Ausdrücke oder sogar eine eigene, für niemand verständliche Sprache. Die Eltern verstehen nicht, wieso ein Gegenstand in einer ganz seltsamen Weise benannt wird. (Neologismus) oder bei den Selbstgesprächen ein unverständliches Kauderwelsch gesprochen wird, das mit keiner bekannten Sprache Ähnlichkeit hat.
Neben diesen linguistischen Besonderheiten autistischer Sprache fällt auch ihr gedanklicher Inhalt oft als außergewöhnlich auf. Hier sieht man meistens Negatives, Unerfreuliches, Makabres, manchmal aber auch ungewöhnliche naturwissenschaftliche oder historische Kenntnisse. Charakteristisch ist die Beschäftigung mit dem eigenen Körper, der manchmal als abnorm oder krank erlebt wird.
Wenn man davon absieht, daß etwa 40% der autistischen Kinder mutistisch sind, d.h. keine aktive Sprache und manchmal auch kein Sprachverständnis haben, so zeigt auch der größte Teil der restlichen 60% irgendwelche Sprachabnormitäten.

2.1.5 "Sonderleistungen"

Es ist schon lange bekannt, daß Autisten, wenn ihre Intelligenz im Bereich der Norm oder der Lernbehinderung liegt, manchmal auffallende Sonderleistungen zeigen. Bei solchen Menschen sind in der Literatur schon öfters hervorstechende Fähigkeiten auf bestimmten Spezialgebieten beschrieben worden. Sie stehen in auffallender Weise von sonstigen Mängeln ab. Bekannt sind hier vor allem musikalische Sonderbegabungen. Erstaunlich sind das schnelle Lernen von Melodien, welches oft mit der entsprechenden Einordnung nach Komponisten bzw. Schallplatten einhergeht. Ferner gibt es zahlreiche Autisten, die Instrumente spielen, von denen einige sich das sogar selber beigebracht haben.
Unter anderen Sonderleistungen autistischer Menschen sind vor allem solche zu nennen, die sich auf das Gedächtnis beziehen.
Hier ist immer wieder auf das sog. Kalendergedächtnis hingewiesen worden[3]. Es handelt sich dabei um Menschen, die in der Lage sind, von jedem beliebigen Datum nach einigen Sekunden den richtigen Wochentag zu sagen. Eine solche Fähigkeit kommt wohl nicht allein von einer gesteigerten Leistung der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses, vielmehr muß auch das Vorstellungsvermögen auf visuellem oder akustischem Gebiet besser funktionieren als im Normalfall. Dazu gehört dann noch ein starkes Interesse für ein bestimmtes Gebiet wie hier die Daten.
Neben den "Kalenderrechnungen" wird aber auch über andere erstaunliche Fähigkeiten von typischen Autisten oder wenigstens Menschen mit autistischen Zügen berichtet, z.B. lernen Manche ganze Lexika auswendig oder können die Fahrpläne von Bussen und Bahnen auswendig.
Als Mehrleistungen, die über denjenigen Gleichaltriger stehen, können auch das hervorragend exakte und schnelle Lösen von schwierigen Puzzles sowie das erstaunlich schnelle Zeichnen autistischer Kinder gelten.
Das Bedauerliche an solchen Mehrleistungen ist, daß sie selten praktische Bedeutung haben, d.h. sie lassen sich fast nie beruflich nutzen. Dergleichen ist im heutigen Leben kaum gefragt. Der Computer kann das alles viel besser. Außerdem stehen diesen Mehrleistungen immer so viele typisch autistische Verhaltensweisen gegenüber, vor allem die sozialen Schwierigkeiten, daß ihr praktischer Nutzen gering ist.
Eine bisher noch nicht beschriebene Mehrleistung ist der Umgang mit auf dem Kopf stehenden Bildern und Buchstaben. Bei einer Gegenüberstellung von 20 autistischen und 20 normalen Kindern konnten die Autisten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem Kopf stehende Elemente besser erkennen, d.h. Bilder benennen und Schrift lesen, als die Kontrollgruppe.[4]

2.1.6 Motorisches Verhalten

Betroffene bewegen sich oft graziös, in jüngerem Alter oft unbeholfen, besonders in der Feinmotorik. Mit 3-4 Jahren kommt es häufig zu Überaktivitäten.
Besonders Bewegungen, wie Handgelenke verdrehen, mit den Armen schlenkern, auf und ab hüpfen, Gesichter schneiden, auf Zehenspitzen oder in sonst besonderer Gangart gehen, sind charakteristische Merkmale. Sie treten besonders auf, wenn das Kind erregt ist. Blinde Kinder zeigen ebenfalls viele dieser Bewegungen, besonders wenn sie allein sind. Fingerbewegungen an der Peripherie des Gesichtsfeldes findet man auch oft bei partiell blinden Kindern.

2.1.7 Absonderliches und stereotypes Verhalten

Viele der folgenden Verhaltensweisen sind erklärbar, wenn man sie als einen Versuch des Kindes auffaßt, in eine als chaotisch erlebte Welt einen Sinn hineinzubringen, und zwar mit Hilfe von Strukturen, die es schon gelernt und verstanden hat und die es aus eigenem Willen nicht aufgibt.
Manche Kinder legen sich eine Sammlung von Gegenständen zu - Deckel von Blechdosen, Steine, Plättchen, Stückchen von Fotonegativen, Garnrollen - wirklich von all und jedem. Wenn ein Stück davon verlorengeht, ist der Kummer oft groß. Manchmal begeben sie sich in große Gefahr, um etwas zu sammeln, was sie haben möchten..
Linien und Muster werden mit allen möglichen Gegenständen hergestellt, ganz unabhängig von deren eigentlichem Zweck. An Stelle des normalen Spielens entwickeln sich absonderliche Sterotypien - ein Stückchen Schnur wird in der Luft herumgedreht, ein Deckel in kreisende Bewegungen versetzt, eine Müllschaufel immer und immer wieder im Kreis gedreht. Solche stereotypen Gewohnheiten sind um so komplizierter, je leichter die allgemeine Behinderung ist. Dem Kind fällt es schwer, einmal erworbene feste Gewohnheiten zu ändern: es beharrt z.B. auf einer speziellen Anordnung von Möbeln, einer speziellen Route bei einem täglich gegangenen Weg, einer besonderen Art zu gehen; es weigert sich, etwas anderes außer ganz bestimmten Kleidungsstücken anzuziehen oder besteht auf einer einzigen Art von Nahrung. Eine charakteristische Eigenheit ist die Weigerung, Neues zu lernen, ferner die Schwierigkeit, routinemäßige Gewohnheiten aufzubauen, seien sie biologischer oder sozialer Art.

2.1.8 Abnormitäten in Gefühlen und Stimmungen

Abkapselung, Indifferenz und Unzugänglichkeit sind mit 3 bis 4 Jahren am deutlichsten ausgeprägt. Später, etwa vom fünften bis sechsten Lebensjahr an, kann es zu Hause oder in einer vertrauten Umgebung zärtlich und aufgeschlossen werden, in einer fremden Umgebung hingegen, wie einer Krankenhausstation, wirkt es immer noch sehr in sich selbst zurückgezogen.
Viele haben einen verwirrten Blick. Wutausbrüche, Tränen, Füßestampfen und Treten kommen häufig vor - oft durch Frustrationen ausgelöst, oder als Reaktion auf Vorgänge wie das Haarekämmen oder aus überhaupt keinem erkennbaren Anlaß. Die Kinder sind dann schwer zu besänftigen, können aber ganz plötzlich ohne sichtbaren Grund wieder ruhig werden. Oft haben sie Perioden, in denen sie lachen und kichern, ebenfalls ohne verständlichen Anlaß.
Viele autistische Kinder, gerade die mit intellektuellen Einschränkungen, sind im Allgemeinen fröhlich und guter Stimmung. Bei Anderen beobachtet man Schwankungen. Bei ihnen zeigen sich Perioden von schlechtem Befinden, Reizbarkeit, ungenügendem Schlaf etc., die gewöhnlich ein paar Tage, manchmal aber auch länger andauern. Der Versuch, dergleichen mit der Witterung oder mit den Mondphasen in Verbindung zu bringen, ist unzulänglich. Wenn nicht äußere Erlebnisse und besondere Ereignisse, etwa in der Schule, die Krankheit einer Bezugsperson als Auslöser gelten , so kann es sich um innere Vorgänge handeln. Manchmal sind es richtig depressive Phasen. Man erfährt dann gelegentlich von ähnlichen Vorkommnissen in der näheren Blutsverwandtschaft. Jedenfalls gibt es bei den intelligenteren Autisten, sozusagen als psychiatrische Komplikation depressive Phasen.
Manchem Kind fehlt die Furcht vor realen Gefahren: es klettert auf ein Dach, rennt direkt vor eine schwingende Schaukel oder vor ein fahrendes Auto. Andererseits fürchten sie sich manchmal vor ganz harmlosen Dingen, wie dem Baden in der Wanne, dem Tragen von Schuhen oder bestimmten Möbelstücken oder Bussen. Manchmal läßt sich der Beginn einer derartigen Furcht auf einen besonderen Vorfall zurückführen.
Intelligentere Autisten sind in der Lage, einzusehen, daß sie anders sind als die meisten Menschen ihrer Umgebung. Manche leiden darunter und können dies auch beschreiben. Andererseits fällt bei autistischen Kindern und Jugendlichen auf, daß ihre Gefühlswelt nicht normal und einfühlbar ist. Es fällt oft schwer, ihre Gemütsverfassung zu erkennen. Wenn sie lachen, bedeutet das nicht unbedingt, daß sie in guter Stimmung sind, Weinen ist nicht mit Sicherheit Ausdruck von Schmerz und Angst.
Mit der Gefühlswelt der Autisten hängt auch manches negative Verhalten zusammen, wie z.B. ganz unbegründetes Losschlagen auf ein anderes Kind, das Zerstören von Spielzeug oder Mobiliar oder sogar eine Grausamkeit gegen ein Tier.
Die gleichen Autisten sind bei anderen Gelegenheiten durchaus in der Lage, mit ihren Partnern, vor allem mit ihren Müttern, zärtlich umzugehen. Schwierig ist es für ihre Betreuer, mit diesem Problem fertig zu werden. Vor allem unbeteiligte Beobachter können dergleichen überhaupt nicht verstehen und glauben, es seien Erziehungsfehler.

2.1.9 Eßstörungen

Nicht selten beobachtet man bei autistischen Kindern Störungen, die mit der Nahrungsaufnahme und der Darmentleerung zusammenhängen. (mangelndes Kauen, eigentümliche Vorlieben, viel Trinken usw.) Zusätzlich beobachtet man aber auch unmäßiges Essen und Verschlingen von nicht eßbaren Dingen.
Nicht nur der Verzehr, auch die Ausscheidung der verdauten Nahrungsmittel kann bei autistischen Menschen gestört sein. Unabhängig vom Einnässen und Einkoten im Zusammenhang mit einer Entwicklungsverzögerung gibt es vor allem Stuhlverhaltungen, die im Grunde nichts mit Verstopfung zu tun haben. Der Stuhl wird mehr oder weniger bewußt - oder zwanghaft? - zurückgehalten. Er wird nur unter ganz bestimmten Bedingungen, viel zu selten, entleert. Die Kinder oder Jugendlichen manipulieren in ihrem After und schmieren dann mit ihrem Kot.
Diese Symptome hängen wahrscheinlich auch mit der gestörten Wahrnehmungsverarbeitung zusammen. Dabei können Hunger- und Durstgefühl und die Wahrnehmung des gefüllten Enddarms nicht normal sein. Aber auch das normale Gefühl des Ekels scheint zu fehlen. Irgendwie werden von den Autisten nicht nur die Reize aus der Umwelt, sondern auch diejenigen aus dem eigenen Körper in gestörter Weise wahrgenommen. Deswegen fällt es auch so schwer, bei einem autistischen Kind etwas über sein Befinden, über Schmerzen oder Unwohlsein zu erfahren.

2.1.10 Epileptische Anfälle

Die Neigung zu epileptischen Anfällen kommt häufig vor. Gelegentlich treten diese schon im Säuglings- oder Kleinkindalter auf - evtl. auch als sog. Fieberkrämpfe -, häufiger werden sie aber erst von der Pubertät an beobachtet. Die Anfallstypen sind unterschiedlich; oft sind es sog- psychomotorische Anfälle (Temporallappen-Epilepsie)[5], aber auch alle anderen Arten von hirnorganischen Anfällen kommen vor, von Absencen[6] über BNS-Anfälle[7] und myoklonische Epilepsie[8] bis zu großen Anfällen.
Über die Häufigkeit von Anfällen beim autistischen Syndrom sind die Angaben unterschiedlich: 14% bis 42%; diese nimmt mit zunehmendem Alter zu. Epileptische Anfälle treten bei schwerer geistig behinderten Autisten häufiger auf als bei den übrigen.

2.1.11 Aggression und Autoaggression

Aggressiv sind viele Kinder, denken wir zum Beispiel an die normale Trotzphase und gerade heute an die Aggressivität vieler Jugendlicher in den Schulen.
Manche Eltern und Betreuer klagen darüber, daß die Kinder plötzlich Spielsachen, Geräte und Möbel zerstören oder sich gegen den Partner richten. Oft kann man nicht feststellen, inwiefern das mit der augenblicklichen Situation oder der vorhergegangenen Handlung zusammenhängt. Für den Autisten wird eine solche Verbindung wohl vorhanden sein. Möglicherweise wird die Situation falsch wahrgenommen und verkannt. Eine Handlung des Partners, eventuell nur eine Bewegung oder sein Gesichtsausdruck werden falsch ausgelegt und bewirken Widerstand und/oder Angriff in Form von Schlägen, Beißen, Kratzen und verbaler Aggression (soweit Sprache vorhanden). Auch als Zärtlichkeit gemeinte Handlungen können in für den Partner schmerzhafte Berührungen umschlagen. Manchmal haben Autisten auch nicht das rechte Gefühl für die Stärke ihrer Handgreiflichkeiten, aber auch nicht die Einsicht, daß sie dem Partner Schmerzen zufügen.
Wenn autistische Kinder oder Jugendliche sich durch Schlagen gegen den Kopf oder andere Körperteile, durch Schlagen mit dem Kopf gegen harte Gegenstände, durch Sich-Beißen oder Sich-Kratzen selbst beschädigen, so kann das erhebliche Formen annehmen und zu schlecht heilenden Wunden, zu Knochenbrüchen und sogar zum Verlust eines Auges oder dergleichen führen. Erklären kann man sie als entgleiste Selbststimulation. Sie kann sich zur Selbstbeschädigung steigern.
Da viele Autisten, zumindest in frühen Lebensphasen, Schmerzen, manchmal auch Kälte, weniger stark empfinden als ein normales Kind, ist es verständlich, daß bei ihnen Autoaggressionen kaum als schmerzhaft und damit nicht als unangenehm erlebt werden.
Das Problem der Autoaggression autistischer Menschen ist neben ihrer Intensität gelegentlich die Dauer dieser Handlungen. Manche Kinder und Jugendliche schlagen und beißen sich stundenlang, oder sogar tagelang ununterbrochen. Man kann dann kaum noch einen annehmbaren Kontakt mit ihnen bekommen. Sie sind auf diese Weise ständig so stark mit sich selbst beschäftigt, daß sie nichts anderes tun, aber auch für therapeutische Maßnahmen nicht zugänglich sind.

2.1.12 Andere Agnosien und Apraxien

Sie verwechseln häufig rechts und links, Messer und Gabel werden in falscher Ordnung auf den Tisch gelegt, die Kleidung falsch herum angezogen.
Es fällt ihnen unheimlich schwer im Takt von Musik zu klatschen, Schwimmbewegungen zu imitieren oder zu hüpfen.
Buchstaben und Figuren werden verdreht und Buchstaben wie "b" und "d" verwechselt.

2.2 Epidemiologie

2.2.1 Anzahl autistischer Kinder

Die Frage, wie viele Autisten es überhaupt gibt, wie sie sich auf die Geschlechter und auf bestimmte Bevölkerungsgruppen verteilen, ist vor allem vom politischen und sozialen Standpunkt interessant. Wenn Maßnahmen zur Diagnostik, Beschulung und Therapie gefordert werden, so muß man zunächst einmal feststellen, wie viele Personen das überhaupt betrifft. Allein die fast nicht mehr zu überschauende Masse von Literatur über dieses Thema läßt vermuten, daß das autistische Syndrom einigermaßen häufig vorkommt.
Es ist wohl das Beste, Hochrechnungen nicht auf die Gesamtbevölkerung, sondern auf die Altersgruppen zu beziehen, für die die Erkennung des autistischen Syndroms, die Betreuung und die Therapie am wichtigsten sind. So hat J. Wendeler die Anzahl der Kernautisten unter den 5-15jährigen Kindern in den alten Bundesländern auf 1900, die der nicht absolut typischen Autisten auf 2100 geschätzt, so daß eine Gesamtzahl von 4000 resultiert.[9] Diese Zahlen liegen weit über denen der Blinden (1000), Sehbehinderten (1250) und nur um 300 unter den Gehörlosen, die 1969 eine staatlich anerkannte Sonderschule besuchten. Dabei muß man berücksichtigen, daß die Kinder zwischen einem und fünf Jahren und die Jugendlichen und Erwachsenen noch nicht einmal mit berücksichtigt sind, was natürlich auch für die Seh- und Hörbehinderten gilt.
Aufgrund dieser Zahlen sind verschiedentlich Hochrechnungen vorgenommen worden, um abzuschätzen, wieviele Autisten es etwa in den alten Bundesländern gäbe. Dabei muß man berücksichtigen, daß sich die jeweils erhobenen Werte immer auf eine bestimmte Altersstufe von Kindern beziehen. Je jünger die Kinder sind, um so unsicherer wird die Diagnose sein, weil die Patienten doch länger beobachtet werden sollten. Aber auch bei den älter und schließlich erwachsen gewordenen Autisten liegt ein Unsicherheitsfaktor darin, daß man manchmal nicht genau weiß, wie autistisch sie vielleicht früher gewesen sind..

2.2.2 Stellung in der Geschwisterreihe

Kindlicher Autismus, so wird oft gesagt, findet sich häufiger unter den Erstgeborenen als unter Spätergeborenen, aber eine exakte Untersuchung ist darüber noch nicht angestellt worden. Die einfachste Erhebungsmethode besteht darin, Geschwistergruppen gleicher Größe zu nehmen und die Häufigkeit der Erkrankung für jeden Rangplatz in der Reihe miteinander zu vergleichen. Lotters Daten zeigen keine Häufung bei den Erstgeborenen; im Gegenteil, es besteht bei größeren Geschwisterzahlen die Tendenz, daß die betroffenen Kinder der zweiten Hälfte der Geschwisterreihe angehören.[10]

2.2.3 Anteil der Geschlechter

Es findet sich ein höherer Anteil von Jungen, als von Mädchen. Auch bei anderen Behinderungen findet man einen hohen Anteil von Jungen, aber das Verhältnis von Jungen zu Mädchen ist selten 2:1 oder höher, wie beim Autismus, bei dem es teilweise 4:1 beträgt.
Sehr interessant ist das Ergebnis, daß bei spezifischen Sprachstörungen der Anteil der Jungen oft sehr hoch ist.

2.3 Ursachen des frühkindlichen Autismus

2.3.1 Störung der Wahrnehmungsverarbeitung

Es steht fest, daß beim voll ausgeprägten autistischen Syndrom eine Störung der Wahrnehmungsverarbeitung vorliegt. Das Kind kann die sensiblen und sensorischen Reize aus seiner Umwelt, wahrscheinlich auch aus seinem eigenen Körper, nicht richtig koordinieren. Die Synthese, die zum normalen psychischen Funktionieren notwendig ist, gelingt nur unvollkommen. Diese Schwierigkeit in der Wahrnehmungsverarbeitung beginnt wahrscheinlich schon bei der Auswahl der angebotenen Reize der Umwelt. Um sich in der Umwelt zu orientieren, um sich auf die relevanten Dingen zu konzentrieren, bedarf es eines Filters, der das in der aktuellen Situation nicht Notwendige aussondert. Es wird angenommen, daß ein Reglersystem im Gehirn gestört ist. Man kann gut verstehen, daß ein Kind, das nicht in der Lage ist, aus dem normalen Angebot von Umweltreizen aller Sinnesarten, die ständig auf uns einströmen, einen Teil zu ignorieren, sich abschirmt, die Augen verdeckt, sich die Ohren zuhält oder sich zurückzieht.
Möglicherweise im Zusammenhang mit diesen Störungen ist aber auch die Koordination der Reize auf den verschiedenen Sinnesgebieten beeinträchtigt.
Die Annahme einer solchen Koordinationsstörung der Wahrnehmung erklärt u.a. das Ausweichen autistischer Kinder auf die "niederen Sinne", Riechen, Tasten und Bewegungsempfindung. Wieviele autistische Kinder befühlen erst einen Gegenstand, führen ihn an die Lippen, riechen an ihm, wo beim normalen Kind ein Blick genügt, um ihn zu identifizieren
Über diese Störung der Wahrnehmungsverarbeitung hinaus, und wahrscheinlich damit zusammenhängend, funktioniert das Gedächtnis bei autistischen Menschen anders als bei anderen. Sie behalten Geschehenes und Gehörtes im Gedächtnis, was man normalerweise vergißt, andere Erlebniseindrücke vergessen sie. Sie können oft nicht verallgemeinern: Für sie ist es z.B. beim Auswendiglernen belanglos, ob der Text sich reimt, ob eine Wortfolge Sinn ergibt oder nicht. Das führt beim Erinnern zu Schwierigkeiten, kann sich aber auch positiv auswirken. So entstehen einige der weiter oben bereits beschriebenen Mehrleistungen.

2.3.2 Theorie des Denkens

Eine neuere psychologische Erklärung für das Zustandekommen autistischer Verhaltensstörungen beschäftigt sich mit der Theorie des Denkens. Mehrere englische Forscher (Baron-Cohen, Uta Frith, Happé) haben festgestellt, daß autistische Kinder bestimmte Denkprozesse, die normale Kinder schon vom 3. Lebensjahr an vollziehen, nicht gelingen. Sie können die Bedeutung des Als-ob nicht erkennen, nichts vortäuschen, z.B. nicht lügen. Die Anerkennung dieser Hypothese würde die Grundstörung bei autistischen Menschen, nämlich die der Kognition, des Vorstellungsvermögens und der Sozialisation zumindest zum Teil erklären.
Die Störung der Theory of Mind läßt sich durch ziemlich einfache Versuche feststellen: Das Kind wird aufgefordert, auf Bildern, die zwei Mädchen , Mary und Anne, darstellen, folgenden Vorgang zu erklären: Mary legt einen Ball in einen Korb. Nun verläßt Anne das Zimmer, und Mary nimmt den Ball aus dem Korb und legt ihn in eine Schachtel. Anne kommt zurück und wird gefragt, wo sie den Ball sucht. Ein normales Kind, das wie das autistische den ganzen Vorgang auf den Bildern verfolgt hat, wird richtig sagen, der Ball befindet sich im Korb, da Anne die Veränderung ja nicht gesehen hat. Nach den oben genannten Autoren sagen circa 80 % der autistischen Kinder, Anne vermute, der Ball befinde sich in der Schachtel. Sie können nicht nachvollziehen, daß Anne die Veränderung nicht gesehen hat.[11]
Ein Problem bei der experimentellen Untersuchung der Theorie des Denkens ist die Tatsache, daß sie bisher nur bei einem kleinen Teil von Autisten überprüft werden konnte, nämlich nur bei solchen mit einem hohen Funktionsniveau. Für die Durchführung des Versuchs müssen die Probanden die Anweisungen verstehen und in der Lage sein, die Vorgänge auf den Bildern sprachlich zu erklären.

2.3.3 Anatomische Befunde

Um sich in die Morphologie des Gehirns Einblick zu verschaffen, kann man sich auch des Computertomogramms[12] bedienen. Nachdem bei einigen früheren Untersuchungen - auch solchen mit dem Pneumencephalogramm[13] - Asymmetrien der Hirnhohlräume und einen fraglichen Schwund im Bereich der Schläfenlappen festgestellt worden waren, haben Rumsey und Mitarbeiter 1988 bei 15 Autisten Computertomogramme angefertigt und sie mit einer Kontrollgruppe verglichen. Von den Autisten waren neun durchschnittlich intelligent, drei geistig behindert, und drei hatten spezifische Sprachbehinderungen. Man fand keine signifikanten Unterschiede, die auf Hirnatrophien oder dergleichen hinweisen würden.[14]
Mit der Reifung des Kleinhirn-Vestibularis-Systems, wenn das Kind älter wird, wird das Bedürfnis zu schaukeln und seine beruhigende Wirkung geringer. Für den Erwachsenen nimmt diese gleichmäßige Vestibularisreizung gelegentlich eher einen unangenehmen Charakter an und führt zu Schwindelgefühl, wie z.B. das Schwanken eines Schiffes zur Seekrankheit. Die Hypothese, daß eine Störung im Kleinhirn-Vestibularbereich zumindest eine Reihe von Symptomen des autistischen Syndroms erklärt, hat also einiges für sich. Sie läßt sich mit einer Verminderung der Purkinje-Zellen[15] in der Kleinhirnrinde, aber auch mit einem Defekt in der Gegend der Vestibulariskerne in Zusammenhang bringen. Dabei weiß man nicht ob es sich um Reifungsverzögerungen oder um eine erworbene Störung handelt.
Es bestehen aber sicher auch Beziehungen zwischen autistischer Symptomatik und den Schläfenlappen des Gehirns. Das geht u.a. aus der frappanten Ähnlichkeit mit dem Klüver-Bucy-Syndrom[16] hervor. Wenn beide Schläfenlappen etwa durch Verletzung gestört sind, kann das Individuum die Bedeutung von Objekten, die es sieht oder anfaßt, nicht erkennen; es untersucht sie mit den Lippen, mit der Zunge oder mit dem Geruchssinn. Zum Klüver-Bucy-Syndrom gehört auch die Unfähigkeit, Personen und Ereignisse zu erkennen, und ein unsinniges Untersuchungsverhalten.
Die beidseitige Zerstörung des sog. Hippocampus, der in der Tiefe des Schläfenlappens liegt, ruft das sog. Korsakoff-Syndrom hervor - es kommt auch bei Alkoholkranken vor. Es ist durch schwere Gedächtnisstörungen gekennzeichnet. Da zum autistischen Syndrom immer irgendwie geartete Spracheigentümlichkeiten gehören, liegt es ebenfalls nahe, Gewebeveränderungen im jeweils dominierenden Schläfenlappen - beim Rechtshänder links - anzunehmen; denn hier liegt ein wichtiges Sprachzentrum. Anatomische oder durch bildgebende Verfahren erhobene Befunde am Hippocampus sind bisher bei Autisten noch nicht erhoben worden.
Es bestehen zweifellos auch Zusammenhänge mit einigen Hirnkrankheiten wie Entzündungen, die in frühen Entwicklungsstadien durchgemacht wurden, oder mehr diffusen Erkrankungen wie z.B. der tuberösen Sklerose oder der Lipoidose. Topographische Verdachtsmomente haben sich sowohl von der Psychopathologie her als auch aufgrund einiger - noch umstrittener - Befunde für den Schläfenlappen und das Kleinhirn ergeben.

2.3.4 Die psychogene Entstehung

Die Hypothese der Entstehung des Autismus durch negative Erfahrungen des Kindes, und damit z.T. durch Betreuungsmängel im weitesten Sinne des Wortes, schien anfangs ziemlich einleuchtend zu sein. Kommt es doch bei einem Mangel von Mutterliebe bei Kindern in frühen Entwicklungsstadien zu einer autismusähnlichen Symptomatik zum sog. Hospitalismus-Syndrom. Auch die Schilderung der Persönlichkeiten der Eltern bei Kanners ersten autistischen Kindern hatte eine solche Annahme nahegelegt.
Dennoch hat eine exakte Prüfung der Elternpersönlichkeiten und der Betreuungspraxis der Mütter ergeben, daß der Umgang der Mütter mit dem Kind nicht die Ursache des Autismus sein kann, sondern daß derartige Umweltfaktoren gelegentlich als weitere verschlimmernde Ursache in Frage kommen.
N. und E. A. Tinbergen haben eine Reihe von möglichen "autismogenen Faktoren" angeführt, die näher betrachtet werden müssen:
In der Schwangerschaft der Mutter soll es "Mangel an Selbstvertrauen" oder "unsanftes Knuffen", wenn sich das Kind im Mutterleib bewegt, sein.
Während der Geburt sollen Benommenheit der Mutter und die eventuelle Narkose autismogen sein. Bei Zangengeburten werde das Kind durch diese Manipulation furchtbar erschreckt und könne damit "tiefgreifend seelisch geschädigt" werden. Nach der Geburt wird der sofortige Körperkontakt mit der Mutter "schon in den ersten Minuten, ja Sekunden" gefordert. Es wird beanstandet, daß die Hebamme das Neugeborene zuerst wasche oder Manipulationen mit ihm vornehme, damit es atme; weiter wird das Aufziehen in einem Brutkasten bei einem Frühgeborenen als autismogener Faktor genannt.
In etwas späteren Phasen der Entwicklung des Säuglings werden als solche Faktoren angeführt: die Geburt eines Geschwisterkindes vor dem 18. Lebensmonat des ersten, häufige Besuchsfahrten mit dem Kind, z.B. am Wochenende, falsches Füttern mit der Flasche, Fehlverhalten der Mutter als übertriebene Ängstlichkeit und Mangel an Selbstvertrauen.
Weiter werden von Tinbergen als autismogen aufgezählt: "eine Postpartumdepression der Mutter", "Flaschenernährung statt Stillen", "bewußtes Fernhalten des Kindes von der Mutter, z.B. durch Berufstätigkeit", Verlust eines Elternteils, z.B. durch Scheidung, "Fehlen jeder Ordnung" in der Familie, "elterlicher Ehrgeiz", also Überforderung, "Zweisprachigkeit" der Eltern.[17]
Inwieweit man diese von den Tinbergens aufgeführten Erlebnis- und Erfahrungsfaktoren des Kindes als "autismogen" gelten lassen kann, erscheint sehr fraglich. Gegen diese hypothetischen Faktoren sprechen folgende Argumente:
Diese und ähnliche Erlebnisse haben Hunderttausende oder sogar Millionen von Kindern auf der ganzen Welt, sicher auch in einer gewissen Summierung, gemacht und wurden nicht autistisch. Daß manche dieser Erfahrungen für die Entwicklung des Kindes negativ sein können, ist nicht zu bestreiten. Autismusspezifisch dürften sie jedoch nicht sein. Empirische Untersuchungen über derartige Zusammenhänge gibt es jedenfalls nicht. Sie beruhen lediglich auf Spekulationen.
Gabriele Fallinger[18] hat bei 44 autistischen Kindern mehr Trennungen von der Mutter in den ersten 30 Lebensmonaten nachgewiesen als bei einer Kontrollgruppe von gesunden Kindern. Diese Trennungen kamen meist durch Krankenhausaufenthalte zustande, die bei den Autisten sehr viel häufiger notwendig waren als bei den anderen Kindern. Als Krankheiten wurden vorwiegend solche des Zentralnervensystems angegeben.
Das bedeutet: am Anfang stand die hirnorganische Symptomatik, die zum Trennungserlebnis führte. Diese mehr oder weniger schwere Deprivation löste in einigen Fällen typische autistische Symptome aus, die vorher nicht vorhanden gewesen waren.

2.3.5 Vererbung

Ich habe in der gesamten Literatur kein Fall gefunden, in dem mit Sicherheit ausgesagt worden wäre, daß der Vater oder die Mutter eines autistischen Kindes ebenso autistisch ist oder war wie Sohn oder Tochter. Die Kinder mit einem voll ausgeprägten autistischen Syndrom kommen - weil sie eben so autistisch sind - kaum zur Fortpflanzung, so daß auch aus dieser Sicht autistische Nachkommen sehr unwahrscheinlich sind.
Eine andere Frage ist die nach Wesenseigentümlichkeiten in der Blutsverwandtschaft, die eventuell Ähnlichkeit mit den Symptomen des Autismus haben. Hier wären vor allem Kontaktarmut und Zwangsmechanismen zu nennen. Ein solcher Zusammenhang ist nicht von der Hand zu weisen. Exakte Untersuchungen über diese Frage an einer größeren Population fehlen aber noch.
Für das Vorliegen einer genetischen Disposition des autistischen Syndroms sprechen auch einige andere neuere Untersuchungen. Hier fand man, daß die Brüder und Schwestern autistischer Kinder viel häufiger Wahrnehmungsstörungen und Sprachentwicklungsverzögerungen, Lernschwierigkeiten sowie geistige Behinderungen aufwiesen als die Geschwister von normalen Kindern, aber auch als solche mit Down-Syndrom.
Auch die Zwillingsforschung erlaubt Aussagen darüber, welche Rolle eine erbliche Disposition für die Entstehung des autistischen Syndroms spielt. Es ergibt sich aus den Zwillingsuntersuchungen, daß bei den eineiigen Paaren sehr viel häufiger beide Kinder autistisch sind als bei zweieiigen, wo dies nur für 23,1 % zutrifft.[19]
Alle Untersuchungen zusammen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob Vererbung als Ursache des autistischen Syndroms eine Bedeutung hat, bestätigen, daß eine vererbte Disposition offenbar eine Rolle spielt. Diese Erbdisposition ist jedoch wahrscheinlich ganz unspezifisch. Sie könnte sich nur auf kognitive Störungen, aber ebenso auf Störungen des Hirnstoffwechsels beziehen. Da man weiß, daß für sehr viele Krankheiten eine erbliche Disposition Voraussetzung ist, sicher für die bösartigen Geschwülste, aber selbst dafür, ob man von einer bestimmten Infektionskrankheit befallen wird, sollte die Bedeutung der Erbdisposition beim autistischen Syndrom nicht überbewertet werden. Sie ist wohl nur ein Ursachenfaktor unter anderen.

2.3.6 Hirnschädigung als Ursache

Bei einer Untersuchung von Gabriele Wilhelm, bei der 80 autistische Kinder 40 gesunden gegenübergestellt worden waren, mußte bei 64 % der Autisten nach der Vorgeschichte oder den erhobenen Befunden ein prä- oder perinataler Hirnschaden angenommen werden. Eine Korrelation mit dem Ausprägungsgrad des Autismus konnte nicht festgestellt werden.[20]
Offenbar können auch auf das Gehirn einwirkende Schädigungen nach der Geburt (postnatal) für die Entstehung des autistischen Syndroms eine ursächliche Bedeutung haben; denn auch sie treffen ein in der Entwicklung befindliches Gehirn.
Zweifellos kommen auch andere in den ersten 1 ½ - 2 Lebensjahren das Gehirn schädigende Einflüsse als Ursachenfaktoren in Frage. Das gilt für Entzündungen verschiedener Art, für Hirnverletzungen ebenso wie für Vergiftungen. Es ist möglich, daß sich auch mangelnde Nährstoff- und Sauerstoffzufuhr zum Gehirn bei schweren Ernährungsstörungen im Säuglingsalter ähnlich auswirken.

2.3.7 Abnormitäten des Zentralnervensystems

Die Ähnlichkeit in den epidemiologischen Ergebnissen zu anderen Störungen der Kommunikation wie der Entwicklungsaphasie und anderen spezifischen Sprachbehinderungen sowie die großen Übereinstimmungen in der Symptomatik bei diesen Erkrankungen und beim frühkindlichen Autismus helfen leider nicht, eine Hirnschädigung zu lokalisieren. Bei Erwachsenen wären die Symptome ein Anzeichen für eine ausgedehnte und variable Störung der Funktionen der Assoziationsfelder, vielleicht besonders in der dominanten Hirnhälfte.
Auch das Bindegewebe wurde mit Autismus in Verbindung gebracht. Es wird angenommen, daß es nicht richtig funktioniert, so daß es eine Überaktivierung bewirkt. Diese Ansicht beruht hauptsächlich auf der Beobachtung, daß autistische Kinder in einer komplexen Umgebung mehr mit den Armen schlenkern, die Finger verdrehen und ähnliche Bewegungen vollführen als in einer einfacher strukturierten; außerdem gibt es auch in EEG-Aufzeichnungen einige Hinweise darauf.
Es gibt 6 Syndrome (kindliche Alexie, Agraphie, rezeptive Aphasie, motorische Aphasie, Apraxie und Stottern), die zu verschiedenen Arten von Lernstörungen führen können. Frühkindlicher Autismus entsteht vielleicht aus einer Kombination verschiedener Elemente dieser Syndrome; das Kind würde demnach unter einer Mehrfachbehinderung leiden. Aber ebenso, wie das taub-blinde Kind nicht einfach nur die zusammenaddierten Probleme eines tauben und eines blinden Kindes hat, sondern zusätzliche Schwierigkeiten wegen eines Zusammenspiels beider Behinderungen.

2.3.8 Autismus bei anderen Erkrankungen des Zentralnervensystems

Es gibt noch eine Reihe von anderen Krankheiten des Zentralnervensystems, bei denen manchmal autistische Symptome beobachtet werden. Hier ist zunächst die Phenylketonurie zu nennen, die eine autosomal vererbte Störung der Tyrosinsynthese ist. Weiter ist das Vorkommen von Autismus gelegentlich bei folgenden Krankheiten beschrieben worden: Gille-de-la-Tourette-Syndrom[21], Neurofibromatose[22], Muskeldystrophie[23].
Erwähnt werden müssen auch noch Beziehungen zwischen dem autistischen Syndrom und hormonellen Störungen. Hier sind zunächst solche der Schilddrüse zu nennen. Der Zusammenhang zwischen solchen endokrinen Defekten und geistiger Behinderung ist lange bekannt. Man sprach früher von Kretinismus. Untersuchungen der Schilddrüsenfunktion bei autistischen Kindern haben keine eindeutigen Ergebnisse erzielt.
Gelegentlich sind auch noch andere Ursachenfaktoren genannt worden, die zur Entwicklung eines autistischen Syndroms führen sollen. Hier wäre z.B. eine Fehlernährung zu nennen. Dabei muß der Tatsache Beachtung geschenkt werden, daß einer Fehlernährung sekundäre Bedeutung zukommen könnte. Bei manchen autistischen Kindern sind Eßstörungen ein hervorstechendes Symptom. Es gibt autistische Kinder, bei denen die völlige Nahrungsverweigerung eine Gefahr für Leib und Leben bedeutet. Andere kauen mit 10 Jahren und älter noch nicht und müssen deswegen flüssig und breiig ernährt werden. Dies gilt nicht nur für schwer geistig behinderte Kinder, sonder auch für solche mit nur geringer geistiger Einschränkung (im Lernbehindertenbereich). Bei solchen Autisten kann es vorkommen, daß in ihrer Nahrung bestimmte Nährstoffe oder Vitamine fehlen. Eine Rolle in dieser Beziehung mag auch spielen, daß viele autistische Kinder bei der Nahrungsaufnahme sehr wählerisch sind, evtl. eine ganze Reihe von Speisen ganz verweigern. Aus Sorge, daß sie vom Fleische fallen, werden solche Kinder von ihren Müttern einseitig ernährt und können dabei auf einem bestimmten Gebiet zu kurz kommen.
Solche Mangelernährung ist aber nicht die Ursache des autistischen Syndroms, sondern dessen Folge. Sie kann tatsächlich körperliche Mangelzustände hervorrufen; das hat aber mit der Entwicklung eines autistischen Syndroms nichts zu tun. Ebenso wie beim hyperkinetischen Syndrom[24] ist auch schon angenommen worden, Autismus habe etwas mit zuviel Phosphaten in den Speisen zu tun. Diese Hypothese hat sich bei den hyperkinetischen Kindern durch exakte Untersuchungen nicht beweisen lassen. [25]
Auch Vitaminmangel kommt als primäre Ursache des Autismus kaum in Frage. Das schließt nicht aus, daß eine Multivitamintherapie nicht eventuell einen positiven Effekt haben könnte.

2.3.9 Biochemische Störungen

Ein gerade in der letzten Zeit viel beachteter Ansatz, die Ursachen des autistischen Syndroms abzuklären, ist der biochemische. Alle Vorgänge, die sich im Gehirn abspielen, sind mit chemischen Umsetzungen verbunden. In diese chemischen Prozesse greifen in irgendeiner Weise alle Psychopharmaka, aber auch andere Medikamente ein.
Eine besonders wichtige Gruppe von Stoffen im Nervensystem sind die Neurotransmitter. Das sind Substanzen, die bei der Erregungsübertragung in den Synapsen der Nervenzellen freigesetzt werden. Ihre Anwesenheit und die Menge, in der sie im Gehirn ausgeschüttet werden, haben sicher etwas mit den Reaktionen und mit dem Verhalten zu tun. Eindeutige und detaillierte diesbezügliche Zusammenhänge sind allerdings noch nicht bekannt.
Der in diesem Zusammenhang am meisten erforschte Neurotransmitter ist das Serotonin. Es soll folgende physiologische Funktionen und Verhaltensweisen beeinflussen: Schlaf, Körpertemperatur, Schmerzempfinden, sensorische Perzeption, Sexualverhalten, motorische Funktionen, neuroendokrine Regulation, Appetit, Lernen und Gedächtnis wie Immunvorgänge. Es liegt also nahe, zu untersuchen, ob beim autistischen Syndrom die Serotoninmenge im Gehirn von der Norm abweicht. Dies festzustellen ist aber nicht einfach. Die gängigste, aber nicht ganz zuverlässige Methode ist die Serotoninbestimmung in den Blutplättchen..
Eine zuverlässigere Methode der Serotoninbestimmung im Gehirn ist die Untersuchung im Liquor cerebrospinalis. Eine solche ist aber nur durch eine Lumbalpunktion möglich. Zu einer solchen Maßnahme, die im Grunde harmlos ist, wird man sich aber nicht so schnell bei einem autistischen Kind entschließen, zumal sie nur stationär durchgeführt werden sollte.
Die Ergebnisse der Serotoninuntersuchungen bei autistischen Kindern und Jugendlichen sind unterschiedlich. Das liegt z.T. an der Meßmethode, aber auch daran, daß sich der Serotoninspiegel im Blut im Laufe des Tages deutlich verändert und wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit verschiedenen Lebensbedingungen tut. So könnten auch Angst, Unruhe u.ä. eine Rolle spielen. Bei etwa einem Drittel der untersuchten Autisten fand man eine Erhöhung des Serotoninspiegels. Eine Beziehung zwischen dem Schweregrad der Ausprägung des Syndroms oder der Symptomatik konnte nicht festgestellt werden. Im cerebrospinalen Liquor haben die meisten Untersucher bei Autisten einen eher etwas erniedrigten Serotoninspiegel gefunden. Man könnte daraus auf eine verminderte Mobilisation von Hemmungsmechanismen bei autistischen Kindern schließen.
Noch andere bedeutsame Aspekte für die biochemische Erforschung der Ursachen des Autismus ergeben sich aus neueren Untersuchungen der Endorphine. Das sind Eiweißstoffe, die im Gehirn oder in der Hypophyse gebildet werden. Man hat festgestellt, daß einer von diesen Stoffen, das Dynorphin, zwei Stunden nach einer Hirnverletzung vermehrt auftritt. Die Endorphine bewirken, daß Schmerz und Durchblutung der verletzten Stelle verringert werden und daß eine gewisse Beruhigung eintritt. Man hat nun die folgende Hypothese aufgestellt: Die Symptome des autistischen Syndroms könnten auf einer verstärkten Aktivität der Endorphine im Gehirn beruhen.
Ein Hinweis in dieser Richtung ist die bei vielen autistischen Kindern verminderte Schmerzempfindung. Man stellt sich vor, daß eventuell schon von der Geburt an das Endorphinsystem im Gehirn gestört ist. Die mit dieser Hypothese in Zusammenhang stehenden Überlegungen sind auch für die Therapie von Bedeutung.

2.3.10 Multikausale Genese

Versucht man die Quintessenz aus den zahlreichen Beobachtungen und Untersuchungen über die Ursachen des autistischen Syndroms zu ziehen, so ergibt sich eindeutig, daß es sich ursächlich nicht um eine einheitliche Krankheit handelt. Eine Einheit läßt sich nur aus der Symptomatik, die auf die gestörte Wahrnehmungssynthese zurückgeht, herstellen. Bei der Ätiologie des autistischen Syndroms müssen mehrerer Ursachenfaktoren zusammenkommen, damit sich ein autistisches Syndrom entwickelt.
Es können leichte frühkindliche Hirnschäden - die sog. Minimal brain damages - als Ursachenfaktoren eine Rolle spielen, ohne die intellektuellen Fähigkeiten stärker zu beeinflussen.

3 Pädagogische und Psychologische Aspekte

3.1 Pädagogische Einrichtungen

Die Entscheidung, welche pädagogischen Maßnahmen bei einem autistischen Kind erforderlich sind, muß vollkommen unabhängig davon sein, ob es außerhalb der Familie leben soll oder nicht. Das gilt ganz allgemein, besonders aber für Kinder mit schwer gestörtem Verhalten, die auf eine Form von Schulunterricht häufig gut ansprechen. Ein schwer gestörtes Kind darf nicht automatisch als "nicht bildungsfähig" angesehen werden.
Man kann unmöglich vorhersagen, ob ein Kind von einem heilpädagogischen Unterricht profitieren wird, um das zu beurteilen, muß man einen längeren und ernsthaften Versuch in dieser Richtung unternehmen. Wenn man ohne ausreichende Informationen entscheidet, daß ein Kind nur für eine kindergartenähnliche Einrichtung in Frage kommt, in der keine gezielte Unterrichtsarbeit geschieht, so bedeutet das, daß man ihm seine beste Chance zum Vorankommen vorenthält. Der einzige Weg, wenigstens mit einiger Sicherheit herauszufinden, ob ein Kind "bildungsfähig" ist, besteht in dem Versuch, ihm eine Bildung zu geben.
Schon im Vorschulalter, aber auch während des ersten Schuljahres, kann eine Kindergartensituation autistischen Kindern sehr gut tun. Abgesehen davon erhält die Mutter etwas Entlastung von der ständigen Spannung, in der sie lebt, wenn sie das Kind den ganzen Tag über zu Hause hat.
Einige autistische Kinder haben in normalen Schulen recht gute Fortschritte gemacht, wenn der Lehrer verständnisvoll und die Klasse klein war, und besonders, wenn sie sich gesittet verhielten und ein bestimmtes Spezialtalent hatten. Probleme können entstehen, weil das autistische Kind Schwierigkeiten hat, Freundschaften zu schließen, weil es im Verhalten etwas absonderlich ist oder weil ihm das Gefühl für soziale Umgangsformen fehlen. Die Hauptschwierigkeiten ergeben sich in diesem Fall meist zur Zeit des Schulaustritts, weil Eltern und Lehrer mitunter recht unrealistische Vorstellungen davon haben, was der Jugendliche tun kann, und weil keine Hilfseinrichtungen zur Verfügung stehen, die den Übergang von der Schule zur Arbeitswelt erleichtern.
Die meisten autistischen Kinder gehören jedoch nicht in normale Schulen. Zwar ist man in vielen Schulen sehr tolerant und verständnisvoll, selbst wenn die Verhaltensprobleme ziemlich schwerwiegend sind, aber oft sind die Klassen zu groß und die Mitarbeiter ungeübt, um auf autistische Kinder in der richtigen Weise einzugehen. Einige Kinder haben in Sonderschulen für Lernbehinderte gute Fortschritte gemacht, aber es wäre unrealistisch, wenn man erwarten würde, daß dies allgemein zutrifft.
Der beste Kompromiß scheint darin zu bestehen, autistischen Kindern in der Schule einen Spezialunterricht zu erteilen und ihnen zu anderer Zeit die Möglichkeit zu geben, mit anderen Kindern zusammen zu sein, die sprechen und spielen können. Dieses Zusammenkommen mit anderen Kindern muß von einem Erwachsenen beaufsichtigt werden, der dem autistischen Kind helfen kann, am gemeinsamen Tun teilzunehmen; denn sonst zieht es sich vermutlich in einen Winkel zurück und konzentriert sich auf seine eigenen absonderlichen Beschäftigungen.
Jede wirklich spezialisierte Einrichtung für autistische Kinder ist voraussichtlich teuer, weil das Lehrer-Schüler-Verhältnis hoch sein muß. Wenigstens einige Spezialschulen für autistische Kinder sind erforderlich. Sie müssen für Schüler aller Altersstufen eingerichtet sein, über Wohnplätze in nahegelegenen Familiengruppen verfügen, auch schwerer behinderte Kinder zur Beurteilung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten aufnehmen, neue Methoden erproben und Speziallehrer ausbilden können. Sie müssen den Kindern auch die Möglichkeit geben, mit normalen Kindern zusammenzukommen und für immer längere Zeit andere Schulen am betreffenden Ort zu besuchen.
Anders als Spezialschulen lassen sich Spezialklassen, die bestehenden Schulen angegliedert sind, in viel größerer Zahl einrichten. Welche Schulen dafür ausgewählt werden, ist vom verfügbaren Mitarbeiterstab, von der Schulleitung und von anderen Faktoren abhängig. Es ist wichtig, die Frage der Integration nicht aus dem Auge zu verlieren. Bevor autistische Kinder ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht haben, profitieren sie allerdings nicht viel davon, wenn sie mit anderen Kindern zusammenkommen. Beobachtet man, wie sie sich in Gegenwart ihrer normalen Geschwister und ihrer Spielgefährten verhalten, so wird man kaum zu der Ansicht gelangen können, daß die Integration an sich schon zu vermehrtem sozialem Verhalten führen wird. Das geschieht nur durch Reifungsvorgänge und durch guten Unterricht und geschickte Lenkung durch Erwachsene.

3.2 Unterricht autistischer Kinder

Am allerbesten ist es, wenn ein autistisches Kind eine Schule besucht, in der es von erfahrenen Lehrern unterrichtet werden kann, die seine besondere Situation verstehen. Das ist manchmal unmöglich, weil keine derartige Schule vorhanden ist und selbst ein Hauslehrer nicht gestellt werden kann. Manche Eltern haben versucht, dieses Problem zu lösen, indem sie ihr Kind selbst unterrichtet haben. Hierdurch ergeben sich zahllose Schwierigkeiten, besonders, wenn noch andere Kinder in der Familie sind. Trotzdem haben einige Mütter ihre Kinder mit beträchtlichem Erfolg unterrichtet und soweit gebracht, daß sie anschließend in eine kleine Privatschule für normale oder wenig behinderte Kinder gehen konnte. Diese Lösung erfordert ungewöhnliche Energie, und nur wenige Menschen können diesen Weg gehen. Denjenigen, die zu einem Versuch bereit sind, sollte man aber nicht davon abraten, es sei denn, man könne Besseres zur Verfügung stellen.

3.3 Therapiemöglichkeiten

3.3.1 Ziele der Therapie

Die Verhaltensweisen autistischer Kinder und Jugendlicher gelten als abnorm und krankhaft. Das Ziel einer Therapie sollte also sein, hier Veränderungen herbeizuführen. Welche Ziele im Einzelfall ins Auge gefaßt werden sollten, hängt u.a. von der Ausprägung des Syndroms und vom Alter ab. Das Gleiche gilt für die Frage, welche Erwartungen und Hoffnungen man in die geplanten therapeutischen Maßnahmen setzen kann.

3.3.2 Geeignete und zuständige Therapeuten

Da bei autistischen Kindern Lernen und Erziehen eine wichtige Rolle spielen, sind neben Psychologen, Pädagogen, vor allem Sonderpädagogen auch im Zusammenhang mit der Therapie gefordert. Eine wichtige Aufgabe haben hier aber Heilpädagogen, Sozialpädagogen, Beschäftigungstherapeuten, Logopäden, Musiktherapeuten und Erzieherinnen, denen noch Krankengymnastinnen, Motopädinnen und ähnlich Ausgebildete hinzuzufügen wären.
Alle diese Berufszweige sind es, die die eigentliche therapeutische Arbeit mit den Kindern, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen einzeln und in Gruppen auszuführen haben.
Zu diesen verhältnismäßig zahlreichen von Berufs wegen mit Autismus Befaßten kommt dann noch die Gruppe der Co-Therapeuten hinzu. Dies sind in erster Linie die engeren Bezugspersonen, also die Eltern, manchmal auch die Geschwister. Ohne sie geht bei der Autismustherapie nichts. Das gilt natürlich vor allem für die in der Familie lebenden autistischen Kinder und Jugendlichen, aber auch für die in Heimen befindlichen; auch sie sollen den Kontakt zu den Eltern nicht verlieren.

3.3.3 Ort der Therapie

Das nächste Problem ist der Ort der Therapie. Hier ist zunächst die Frage stationär, teilstationär oder ambulant zu erörtern. Für alle drei Möglichkeiten gibt es positive und negative Aspekte, die von der Einzelsituation des Kindes oder Jugendlichen abhängen.
Beim stationären oder internatsmäßigen Aufenthalt liegt der Hauptvorteil in der Entlastung der Familie. Es gibt unter den autistischen Menschen jeder Altersstufe zweifellos etliche, die für eine Familie unter den üblichen Bedingungen nicht tragbar sind. Hier schlagen manchmal alle noch so liebevollen und intensiven Bemühungen der Eltern fehl. Diese sind überfordert, verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Auch die Geschwister leiden in solchen Fällen übermäßig.
Hier wäre die stationäre Behandlung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik die beste Lösung, wenn solche Einrichtungen genügend Kapazitäten, besonders auf dem personellen Sektor hätten. Es fehlen auch Einrichtungen für eine spezielle Krisenintervention. Die staatlichen und sonstigen zur Aufnahme verpflichteten jugendpsychiatrischen Einrichtungen sind für den speziellen Fall der Krisenintervention bei einem evtl. schwer autoaggressiven Autisten personell kaum eingerichtet. Hier bleibt oft nur die intensive medikamentöse Ruhigstellung oder sogar die körperliche Fixierung. Sie sind ohne psychotherapeutische und heilpädagogische Maßnahmen wenig hilfreich, wenn nicht sogar schädlich und menschenunwürdig
Ein anderes Argument für die internatsmäßige Unterbringung eines Autisten ist der Gedanke an seine oder ihre Zukunft. Irgendwann einmal werden die Eltern, wenn eine Selbstversorgung nicht möglich oder unwahrscheinlich ist, die weiter Betreuung nicht mehr leisten können. Deswegen sollte bei Jugendlichen oder Heranwachsenden daran gedacht werden, wo sie in Zukunft leben werden. Grundsätzlich sollten autistische Kinder so lange wie möglich im Elternhaus bleiben, wenn es die äußeren Umstände gestatten. Eltern sind sicher die besten Betreuer ihrer Kinder. Zu ihnen besteht vom Kleinkindalter an eigentlich immer Kontakt. Auch Geschwister sind oft ausgezeichnete Betreuer ihrer autistischen Brüder und Schwestern. Das stellte Beckmann bei einer Untersuchung von 105 Familien mit autistischen Kindern fest.[26] Das Problem dabei ist nur, wieviel man den Geschwistern in dieser Beziehung zumuten kann, ohne sie in ihrer eigenen Entwicklung zu gefährden.
Die Möglichkeit, heranwachsende und erwachsene Autisten in Heimen unterzubringen, die speziell diesem Zweck dienen, hat in den letzten Jahren einige erfreuliche Ansätze gezeigt. Eine intensive Weiterentwicklung auf diesem Gebiet ist jedoch dringend erforderlich.
Für bei weitem die größte Zahl der autistischen Kinder und Jugendlichen wird die ambulante Therapie am besten sein. Sie hat die Vorteile der weiteren Integration in die Familie und der intensiven Kooperation derselben. Sie ist sicher aber auch viel besser für den einzelnen Autisten, der lieber in der gewohnten Umgebung lebt und die Änderung des Wohnortes und der Bezugspersonen nur schwer verkraftet. Ambulante Therapie ist aber wohl auch finanziell ökonomischer.
Personen, die für ambulante Behandlung geeignet sind, befinden sich vor allem in Frühförderstellen und in Therapiezentren, die in erster Linie von den Elterninitiativen "Hilfe für das autistische Kind" eingerichtet wurden. Hier steht im allgemeinen ein kompetentes Team zur Verfügung, welches nach der individuellen Analyse ein Therapieprogramm entwickeln und in die Tat umsetzen kann. Selbstverständlich bieten auch kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken sowie sozialpädiatrische Institutionen solche Therapien an; sie werden dort aber meistens nur für einen begrenzten Zeitraum, evtl. als Einleitungsphase, zur Verfügung stehen.
Besonders wichtig bei jeder ambulanten, aber auch bei teilstationärer Therapie ist es, die Eltern, wenn möglich die ganze Familie, in die Behandlung mit einzubeziehen. Die Eltern müssen über alles gut informiert sein und Anleitung erhalten, wie sie mit dem Kind zu Hause umgehen sollen. Deswegen sollte sich die Therapie sowohl in der Einrichtung als auch zu Hause, in der Schule oder in der Tagesstätte mit den dortigen Lehrern oder Betreuern gemeinsam abspielen.

3.3.4 Behandlungsmethoden

3.3.4.1 Basistherapie

Hier ist zunächst über Therapien zu sprechen, die die Körperwahrnehmung aktivieren sollen. Autistische Kinder haben Schwierigkeiten, sich allein mit den "höheren" Sinnen, dem Sehen und Hören, in der Umwelt zu orientieren. Es greift deshalb von allein auf die "niederen" Sinne Tasten und Riechen zurück. Wenn wir ihm helfen, diese Sinnesqualitäten besser auszubauen, sie besser mit den höheren Sinnen in Beziehung zu setzen, so können wir hoffen, daß es seine Umwelt besser verstehen und, darauf aufbauend, in die Lage versetzt wird, sinnvoller zu handeln.
Aber noch ein anderes Argument spricht für die Anwendung eine solchen körperzentrierten Therapie. Die Entwicklung des Körpergefühls, der Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Orientierung an diesem spielt sich im Säuglingsalter als Vorstufe zur allmählichen Wahrnehmung der äußeren Umwelt ab. Sie ist offenbar eine Voraussetzung dafür, daß das Lebewesen die Gesamtheit seiner Sinne richtig anzuwenden lernt. Bereits vor über 20 Jahren fing man an, autistische Kinder mit körperzentrierter Therapie zu behandeln.
Inzwischen ist diese Basistherapie besser wissenschaftlich fundiert und weiterentwickelt worden. Die sensorische Integrationstherapie von Jean Ayres gehört zum festen Repertoire der Behandlungsmaßnahmen bei vielen kindlichen Verhaltensstörungen. Sie soll sich für Teilleistungsstörungen, minimale zerebrale Dysfunktion, Hyperaktivitätssyndrom, Wahrnehmungsstörungen, Lern- und Verhaltensstörungen, Spina bifida, Folgen von Schädelhirntraumen u.a. eignen.[27]
Die sensorische Integrationstherapie muß individuell geplant werden und richtet sich vor allem nach dem sensorischen Entwicklungsstand des Kindes. Geübt werden z.B. das Gleichgewicht, die visuell-motorische Koordination, die Körperwahrnehmung, der Muskeltonus, die Überkreuzung der Körpermittellinie[28].
Eine in den letzten Jahren entwickelte Behandlungsmethode für autistische Kinder ist die Aufmerksamkeits-Interaktionstherapie. Sie beruht auf einer Hypothese, die bei der Wahrnehmungsverarbeitung vor allem zwischen neuen und bekannten Umweltreizen unterscheidet. Zu dieser Therapie gehört auch das direkte Spiegeln des Kindes und das indirekte Spiegeln, was eine Veränderung des imitierten Handelns, z.B. in der Geschwindigkeit bedeutet. Die Aktionen des Kindes werden aber variiert oder unterbrochen. Dazu kommen verschiedene Reizangebote.
Ebenfalls als Basistherapie kann der Ansatz von Delacato gelten. Delacato ist der Meinung, daß infolge einer "Hirnverletzung" wichtige Entwicklungsstufen des Kleinkindes übersprungen worden seien. Daraus resultiere einmal eine "Übersensibilität", ein anderes Mal eine "Unempfindlichkeit" der Sinneswahrnehmung. Er vertritt die Ansicht, daß bei dem autistischen Kind die übersprungenen Phasen nachgeholt werden müßten. Das geschieht durch optische, akustische und Geruchsreize sowie durch Kriechen und Krabbeln bis zum Gehen.[29] Diese Therapie ist insofern sehr aufwendig, als die Betreuerin, meist die Mutter, täglich stundenlang mit dem Kind herumkriechen und es stimulieren muß. Einzelne Eltern berichten über Besserungen der autistischen Symptomatik. Kontrollierte empirische Studien liegen nicht vor.

3.3.4.2 Lerntheoretisch begründete Verfahren

Das autistische Kind soll lernen, mit seinen vorhandenen geistig-seelischen Kapazitäten die Umwelt zu verstehen und das Leben zu bewältigen. Da man annehmen muß, daß die Störungen der Warnehmungsverarbeitung auf ungenügendem Funktionieren von Hirnbahnen und/oder -zentren beruhen, ist zu erwarten, daß bei genügender Übung Kompensationsmechanismen in Gang kommen. Das Gehirn, gerade des Kindes, ist so plastisch, daß andere Bahnen und Zentren einspringen können.
Am Anfang steht eine genaue Verhaltensanalyse. Dabei geht es zunächst nur um beobachtbares Verhalten und nicht um dessen Interpretation. Dieser Gesichtspunkt ist gerade bei autistischen Kindern und Jugendlichen von Bedeutung; denn wir wissen bei ihnen manchmal nicht, welche Emotionen hinter dem Verhalten stehen. Wenn es durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen gelingt, z.B. solches Verhalten positiv zu verändern, so ist nach der Theorie von James-Lange zu erwarten, daß sich auch die Emotionen ändern. Man wird also ausgewählte Verhaltensweisen, die sich für das Kind selbst oder für seine Umwelt als besonders störend erwiesen haben, protokollieren, d.h. ihre Form und Häufigkeit unter bestimmten Bedingungen in festgelegten Zeiteinheiten aufschreiben. Dazu können technische Hilfsmittel wie ein Videorecorder sehr nützlich sein. Solche Protokolle dienen als Grundlage, auf der aufgebaut werden kann. Bei jeder neuen Verhaltensanalyse läßt sich prüfen, ob Fortschritte erzielt worden sind. Ist das der Fall, wird man die begonnene Therapie fortsetzen, hat sich das Verhalten nicht gebessert oder sogar verschlechtert, muß das Behandlungsprogramm geändert werden.
Der beste Weg, einfache Verhaltensweisen aufzubauen, wie etwa Blickkontakt oder das Erfühlen von einer Aufgabe, ist die Anwendung des operanten Konditionierens, d.h. die Vergabe von individuell ausgesuchten Verstärkern, materiell oder sozial, oder dem Entzug von sozialen Verstärkern.
Dieselben Methoden eignen sich auch für den Abbau unerwünschten Verhaltens, wie Selbststimulation, Autoaggressivität, Zornausbrüche etc. Hier hat man die Möglichkeit, Handlungen zu verstärken, die mit dem störenden Verhalten unvereinbar sind (ruhig auf dem Stuhl sitzen, mit dem Bleistift hantieren). Weiter soll bei unerwünschtem Verhalten systematisch soziale Verstärkung entzogen werden, indem man wegschaut, weggeht oder das Kind in einem Raum allein läßt.
Sowohl beim Aufbau als auch beim Abbau von Verhaltensweisen kann Modellernen zum Tragen kommen. Das Modell, dessen Handlungen automatisch imitiert werden, ist der Therapeut selbst oder ein anderes Kind in einer kleinen Gruppe. Das autistische Kind macht z.B. Erfahrungen, wie der Therapeut reagiert, wenn das andere Kind ungezogen ist, oder wie es die Aufforderungen des Therapeuten befolgt. Auf diese Weise können Verhaltensmuster übernommen und gelernt werden. Noch manche andere Techniken der Verhaltenstherapie eignen sich für die Behandlung des autistischen Syndroms. Sie können hier nicht alle aufgeführt werden.

3.3.4.3 Festhaltetherapie

Eine weitere Behandlungsmethode des autistischen Syndroms, die auch eher an der Basis angreift, ist die Festhaltetherapie. Sie geht von der Hypothese aus, daß früher, eventuell schon intrauterin, Bindungen zwischen Mutter und Kind gestört gewesen seien. Zusammen mit der New Yorker Psychoanalytikerin Walsh hat Tinbergen die Holding Therapy entwickelt. Diese Behandlungsform wird in Deutschland von der Psychologin I. Prekop propagiert und in breitem Umfang angewandt[30]. Das Kind wird von der Mutter oder dem Vater festgehalten und eng an deren/dessen Körper gedrückt. Dabei soll es "getröstet" werden. Die Festhaltetherapie ist oft effektiv, das Kind wird ruhiger, manchmal weniger aggressiv, beginnt, da es dem Gesicht der Mutter lange nahe ist, gelegentlich mit Sprachansätzen. Eine einleuchtende Erklärung für diese Erfolge kann man auch aus lerntheoretischer Sicht geben: Das Kind macht die Erfahrung, daß der bisher kaum zustandegekommene Körperkontakt mit der Mutter nach längerem Halten, und wenn Beruhigung eingetreten ist, positive Seiten hat. Die Mutter kann endlich einmal in Ruhe, ohne zeitlichen Druck, mit ihrem Kind in Verbindung treten und damit wenigstens irgend etwas bewirken. Das ist für manche Mütter eine so positive Erfahrung, die sie bisher noch nie gemacht haben, daß sich ihre ganze Einstellung zu ihrem autistischen Kind ändert. Das wiederum wirkt sich auf die Gesamtsituation positiv aus.
Wie schon erwähnt, ist die Festhaltetherapie in den letzten Jahren sehr kontrovers diskutiert worden. Ich sehe in dem gezwungenen Festhalten des Kindes, das sich anfangs heftig wehrt und schreit, eine Vergewaltigung, die man einem hilflosen Kind nicht zumuten darf, und glaube, daß es dadurch Schaden nehmen wird.

3.3.4.4 Gestützte Kommunikation

In den letzten Jahren hat eine neue Methode zunehmend an Bedeutung gewonnen: die gestützte Kommunikation. Ursprünglich in Australien als "Facilitated Communication" (erleichterte Kommunikation) entwickelt, ist sie über die USA nach Deutschland und in die übrigen europäischen Länder gekommen. Dabei handelt es sich um das eigenartige, noch nicht eindeutig abgeklärte Phänomen, daß ein bisher mutistischer Junge, Wörter und Texte in einen Computer eingibt, wenn eine Betreuungsperson seinen Arm oder seine Schulter stützt. Bei den so in den Computer getippten Texten von Autisten sind zunächst immer von Eltern erwartete Äußerungen herausgekommen, wie z.B.: "Mutti, ich liebe dich", "ich fühle mich immer von allen ausgeschlossen" und schließlich sogar Gedichte und ganze Selbstbiographien in Buchform.
Eltern und viele Betreuer waren und sind begeistert und davon überzeugt, daß das autistische Kind schon immer ganz normal und eigentlich nicht behindert sei und daß in ihm schlummernde geistige Kräfte nun endlich durch die gestützte Kommunikation zum Ausdruck kämen.
Bei der Gestützten Kommunikation gibt es zwei grundsätzliche Probleme:
1. Es hat sich gezeigt, daß das übrige autistische Verhalten bei den so behandelten Jugendlichen trotz jahrelanger Anwendung dieser Methode sich nicht verändert.
2. Es schreiben alle diese Autisten, wiederum z.T. nach jahrelanger Anwendung der gestützten Kommunikation niemals einen Text allein, ohne daß eine andere Person sie am Arm oder an der Schulter stützt.
Trotz zahlreicher von wissenschaftlicher Seite geäußerter Bedenken wird die Methode in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, in großem Stil praktiziert. Kritik und Vorbehalte werden mit der Behauptung zurückgewiesen, die Stützenden sähen ja selbst, daß die Methode gut funktioniere, ein wissenschaftlicher Nachweis ist erforderlich.
Die allgemeine Akzeptanz der gestützten Kommunikation hat folgende Gründe:
=> Die Eltern eines schwer autistisch behinderten Kindes sehen dieses auf einmal mit ganz anderen Augen.
=> Jahrelange Sorgen und Bedenken, vor allem die Zukunft betreffend, scheinen auf einmal wie weggewischt.
=> Sie glauben, sie selbst und alle Experten hätten sich bisher geirrt
=> Wenn sich ihr Kind, das bisher kein Wort gesprochen habe, auf so differenzierte Weise äußern könne, sei es doch intelligent und nicht behindert
=> seit seiner Geburt in ihm schlummernde Kräfte seien durch die gestützte Kommunikation nun an den Tag gekommen
=> Also sei man auf dem richtigen Weg und müsse mit dieser Methode fortfahren.
Wenn man monate- manchmal jahrelang mit einem jungen Menschen über den Computer kommuniziert, fördert das selbstverständlich den Kontakt vom Stützenden zum Gestützten. Wahrscheinlich geschieht das auch in der umgekehrten Richtung. Wenn man das allerdings vorwiegend über den Computertext erfährt, so bleibt zumindest fraglich, ob es wirklich aus dem Inneren des Kindes oder Jugendlichen kommt. Immerhin wird man jedoch eine gewisse kontaktfördernde Wirkung der gestützten Kommunikation nicht bestreiten können.
Wenn ein Autist über lange Zeit vorwiegend über den Computer sinnvoll kommuniziert, so bleibt er über lange Zeit vom Stützenden abhängig. Die in der Adoleszenz so wichtige Ablösung von der Bindung zur Mutter wird hinausgezögert. Was wird aus den erwachsenen und älter gewordenen Autisten, wenn sie z.B. in einer Wohngemeinschaft leben, in der niemand sie durch gestützte Kommunikation dazu bringen kann, ich einigermaßen differenziert zu äußern? Das sollte man bei der Anwendung dieser Methode stets bedenken und sie dann beenden, wenn sich nach monate- oder jahrelanger Übung zeigt, daß der oder die bisher Gestützte nicht selbständig zu den erwarteten Äußerungen kommt. Als Einstieg zum Versuch einer Sprachanbahnung könnte die gestützte Kommunikation jedoch sicher nützlich sein.

3.3.4.5 Musiktherapie

Ebenfalls zu den an der Basis angreifenden Behandlungsformen muß die Musiktherapie gerechnet werden. Sie ist ein viel angewendetes Element der Autismustherapie. Zu Anfang habe ich schon darauf hingewiesen, daß autistische Kinder häufig enge Beziehungen zur Musik haben. Das belegen auf der einen Seite das frühe Ansprechen auf Klang, Melodien und Rhythmen. Es liegt also nahe, sich der Musik als eines den akustischen Sinn ansprechenden Reizes zu bedienen. Über den akustischen Reiz hinaus ergeben sich aber auch Beziehungen zur Kinästhetik und zum Tastsinn, wenn gewisse tiefe und laute Töne über den ganzen Körper wahrgenommen werden. Schließlich ist das Hervorbringen der Musik auf einem Instrument optisch wahrzunehmen. Über den Gesang ergeben sich letztendlich Beziehungen zur Sprache.
Da empirische Untersuchungen fehlen und naheliegenderweise vorwiegend die positiv verlaufenden Behandlungen publiziert werden, lassen sich über die globale Wirksamkeit dieser Therapieform keine Aussagen machen.
Es zeichnet sich vor allem ab, daß das Vorspielen von Musik die Kommunikation mit dem autistischen Kind fördert. Die Klänge wecken sein Interesse, es interessiert sich für die Person, die sie hervorbringt, eventuell auch für das Instrument. Schließlich soll es dazu kommen, daß es selbst produziert, mitspielt oder mitsingt.
Musiktherapie ist zweifellos ein wirksames Mittel, auf die Wahrnehmungsverarbeitungsstörung autistischer Kinder einzuwirken, ihr In-sich-Verschlossensein aufzulockern und den Kontakt zum Therapeuten, eventuell auch zu anderen Partnern in einer Gruppe herbeizuführen und/oder zu verbessern.
Da die meisten autistischen Kinder Musik gern hören, läßt sie sich auch als Verstärker in einem verhaltenstherapeutischen Programm verwenden..
Empirische Studien über die Wirkung von Musik auf autistische Kinder existieren wenige. Marie-Luise Herrmann-Haunhorst[31] konnte keine signifikanten Unterschiede im Spielverhalten autistischer Kinder zwischen beruhigender und anregender Hintergrundmusik feststellen. Jochen Kramann beobachtete jedoch bei bestimmten Musikstücken von Vivaldi und Mozart eine Abnahme von Stereotypien, Kontaktaufnahme zur Betreuerin und eine gewisse Beruhigung. Ein Werk von Xenakis rief gehäuft Stereotypien und eine gewisse Aggressivität hervor. Die Interpretation eines Stückes von Khatchaturian (Säbeltanz) durch eine Rockgruppe (Exception) bewirkte keine Veränderung des Verhaltens und der Motorik.[32]

3.3.4.6 Physikalische Therapie

Auch die physikalische Therapie ist eine der Basistherapien des autistischen Syndroms. In diese Rubrik gehören Krankengymnasitk, Mototherapie und ähnliche Verfahren, d.h. Methoden, die sich ohne einen eigentlichen psychotherapeutischen Anspruch mit der Körperbewegung befassen. Da ein ziemlich großer Teil der autistischen Kinder infolge von Hirnstörungen gewisse neurologische Symptome aufweist und damit teils bleibende motorische Unvollkommenheiten, teils motorische Entwicklungsverzögerungen zeigt, sind Schritte zur Verbesserung der Körperbewegungen sehr häufig angezeigt. Sie tragen zweifellos dazu bei, dem Kind einen besseren Kontakt zu Gleichaltrigen zu ermöglichen und das Selbstwertgefühl zu erhöhen. Die äußere motorische Normalisierung ist aber auch ein Beitrag, das Anderssein des Kindes in seiner Umwelt zu verringern.
Aus der Sicht der Mototherapie spielen diese diagnostischen Überlegungen eine untergeordnete Rolle. Erhöhte Muskelspannung muß mit gezielten Lockerungsübungen behandelt werden. Bei der Frühförderung autistischer und geistig behinderter Kinder haben sich die krankengymnastischen Methoden bewährt. Sie dienen vor allem dazu, Entwicklungsverzögerungen in der Motorik soweit wie möglich aufzuholen.
Jede Mototherapie hat einen übenden Charakter. Das Kind muß auf einem oft langen, mühsamen Weg lernen, seinen Muskel- und Gelenkapparat sinnvoll einzusetzen, d.h. so zu benutzen, daß die Bewegungen des täglichen Lebens, etwa Gehen, Greifen usw. ausgeführt werden können. Dabei muß die Krankengymnastin berücksichtigen, daß die unvollkommene Bewegung beim autistischen Kind mit seiner gestörten Wahrnehmung zusammenhängen kann und nicht nervös-muskuläre Ursachen hat. Ein Kind, das beim Hinabsteigen die Treppenstufen in einer falschen Perspektive sieht, wird Schwierigkeiten beim Heruntergehen haben. Durch geduldiges Üben kann ein solches Kind lernen, trotz seiner Wahrnehmungsstörung Treppen zu bewältigen. Ähnliches gilt sicher auch für Bewegungen der oberen Extremitäten. Hier müssen meist sowohl Grob- wie Feinmotorik verbessert werden. Da vielen motorischen Störungen autistischer Kinder keine ernsthafte nervöse oder muskuläre Abnormität im Wege steht, läßt sich auf diesem Gebiet manches verbessern. Krankengymnastische Behandlung läßt sich gut mit Musik kombinieren. Sie schafft eine angenehme Atmosphäre für Patient und Therapeut und dient der Entspannung. Während Mototherapie bei autistischen Kindern vorwiegend als Einzelbetreuung eingesetzt werden kann, lassen sich im späteren Stadium evtl. auch kleine Gruppen bilden. Sie haben auch den positiven Effekt des Modellernens und der Kontaktförderung.
Eine in der letzten Zeit öfters angewandte Maßnahme ist verstärkte körperliche Tätigkeit. Gemeint ist damit schnellere und anstrengendere Tätigkeiten, z.B. als Jogging, Aerobic etc., aber auch in Form von körperlicher Arbeit.
Ein ähnliches Thema ist der Einsatz von Arbeitstherapie. Schon in den 20er Jahren hat der deutsche Psychiater Hermann Simon den Wert von körperlicher Arbeit bei psychisch Kranken erkannt. Er bildete Arbeitskolonnen, die vorwiegend in der Landwirtschaft täglich intensiv arbeiten mußten[33]. Daraus hat sich später die sog. Beschäftigungstherapie entwickelt. Bei ihr legt man Wert auf handwerkliche und künstlerische Tätigkeit, d.h. das kreative Element steht im Vordergrund. Sie ist sicher auch eine effektive Maßnahme bei der Behandlung autistischer Kinder, wenn es gelingt, sie dazu zu motivieren.
Der Einsatz von körperlicher Anstrengung als Mittel gegen Aggressivität und Hyperaktivität kommt vorwiegend für Geistigbehinderte mit autistischen Verhaltensweisen in Frage. Er kann gerade in Heimen dem Personal den Umgang mit den ihnen Anvertrauten erheblich erleichtern. Zudem ist es sehr einfach, die Kinder, Jugendlichen und evtl. auch Erwachsenen eine bestimmte Zeitlang sich intensiv bewegen, auch herumtoben zu lassen.

3.3.4.7 Medikamentöse Therapie

Sie wirkt über den Körper auf das Zentralnervensystem und soll psychische Veränderungen hervorrufen. Als Therapeut kommt hier nur der Arzt in Frage.
Auf welche Weise können Medikamente die Verhaltensstörungen autistischer Kinder und Jugendlicher positiv beeinflussen? Hier stehen theoretisch zwei Möglichkeiten offen:
1. Die symptomatische Behandlung, d.h. die gezielte Einwirkung auf bestimmte Verhaltensweisen, wie z.B. die Unruhe, und
2. eine medikamentöse Veränderung von biochemischen Störungen, die dem autistischen Syndrom zugrunde liegen.
Diese beiden Ansätze werden sich allerdings nicht immer streng voneinander trennen lassen. Ein durchaus greifbares Ziel der medikamentösen Behandlung ist es, den autistischen Menschen für psychotherapeutische und heilpädagogische Maßnahmen zugänglich zu machen.
Der erste Ansatz, die symptomatische Therapie, ist in der Psychiatrie seit langem bekannt. Nachdem es früher nur möglich war, psychisch Kranke durch Opium, Paraldehyd und einige wenige andere Stoffe zu beruhigen, geben die seit 30-40 Jahren von der pharmazeutischen Industrie entwickelten Psychopharmaka dem Arzt Mittel in die Hand, recht gezielt vorzugehen.
Am besten funktioniert die Einstellung auf ein bestimmtes Medikament, wenn vom Arzt ein genauer Behandlungsplan gemacht wird. Hier wird auf einer Art Kalender verzeichnet, wann man mit einer ganz kleinen Dosis beginnt und diese dann ganz allmählich auf mehrere Tagesgaben steigert. Zu dem Behandlungsplan gehört auch die genaue Beobachtung der Medikamentenwirkung. Eine solche Beobachtung durch die Eltern oder durch Pflegepersonal funktioniert am besten, wenn die Verhaltensweisen, die beeinflußt werden sollen, schriftlich protokolliert werden. Nur so können sich die Beobachter ein einigermaßen exaktes Bild darüber machen, was wirklich passiert ist. Dazu gehört es auch, daß Ereignisse protokolliert werden, die vielleicht für Verschlechterungen des Verhaltens verantwortlich sind und fälschlich als Nebenwirkungen eines Medikaments gedeutet werden.
Welche Mittel kommen nun zur symptomatischen Behandlung des autistischen Syndroms in Frage? Das richtet sich zunächst danach, welche krankhaften oder störende Verhaltensweise behandelt werden soll. Meistens sind es Unruhe und Aggressivität, bzw. Autoaggressivität. Hier kommt es darauf an, ein Mittel zu finden, das beruhigt, ohne müde zu machen. Dafür kommen Haloperidol, Dipiperon und Neuracen in Frage. Bei allen diesen Präparaten muß man bei längeren und höher dosierten Gaben auf sog. extrapyramidale Nebenwirkungen achten. Sie bestehen in Muskelsteifheit, vor allem im Kopf-Halsbereich, auch der Gesichts-, Augen- und Schlundmuskeln. Sie verschwinden nach Dosisreduktion oder Absetzen des Präparats. Ist die Wirkung überzeugend positiv, so können solche extrapyramidalen Symptome auch durch zusätzliche Gaben von Akineton beseitigt werden. Bei Ritalin muß man darauf achten, daß keine unerwünschten Kreislaufwirkungen auftreten.
Auch eine andere Psychopharmaka-Gruppe, die Thymoleptika, eignen sich manchmal zur Behandlung autistischer Menschen; denn
1. bestehen theoretisch gewisse Beziehungen zwischen dem autistischen Syndrom und endogenen Depressionen, und
2. kommen öfters bei Autisten auch depressive Verstimmungen evtl. mit unbegründeter Angst oder Zustände, die hieran erinnern, vor.
Sicher kommen auch manche andere Psychopharmaka zur Behandlung des Autismus in Frage und sind verschiedentlich empfohlen worden, sie können hier aber nicht alle aufgeführt werden
Als eine für autistische Menschen wirksame Medikamentengruppe sind noch die Antiepileptika zu erwähnen. Da bei manchen autistischen Kindern und Jugendlichen epileptische Anfälle vorkommen, ist es notwendig, diese medikamentös zu unterdrücken. Hierzu eignen sich verschiedene Medikamente. Sie müssen je nach der Art der aufgetretenen Anfälle und dem Befund des EEG ausgesucht werden. Auch bei ihnen gibt es Nebenwirkungen, denen Rechnung getragen werden muß, wie z.B. Müdigkeit und Zahnfleischhyperplasie. Die moderne Epileptologie ist jedoch so weit, daß praktisch immer eine erhebliche Reduktion der Anfälle oder sogar ihr völliges Verschwinden erreicht werden kann.

3.3.4.8 Neurotransmitter-Therapie

Die biochemische Forschung eröffnete in den letzten Jahren neue Wege, indem sie die von der Schizophrenieforschung schon länger bekannten Neurotransmitter beim autistischen Syndrom genauer unter die Lupe nahm.
Durch die Gabe von Fenfluramin bessern sich Unruhe, Schlaflosigkeit und Aggressivität sowie Autoaggressivität. Es senkt den Spiegel des Neurotransmitters Serotonin im Blut und im Gehirn. Mit dieser Behandlung eröffnet sich insofern ein neuer Weg, als man nicht mehr einzelne Symptome medikamentös behandelt, sonder mehr an den Grundlagen, an gestörten biochemischen Prozessen im Gehirn angreift. Deswegen muß die Forschung auf diesem Gebiet unbedingt weitergetrieben werden.
Fenfluramin ist bisher in der medizinischen Praxis als Appetitzügler empfohlen worden. Dieser den Appetit vermindernde Effekt ist bei vielen Autisten unerwünscht. Er muß also bei der Verordnung beachtet werden, d.h. den Patienten muß besondrs viel Nahrung angeboten werden. Wenn die Wirkung wirklich eindeutig positiv ist und sich das gestörte Verhalten deutlich bessert, wird man diese wie andere Nebenwirkungen bei anderen Medikamenten in Kauf nehmen müssen und eventuell durch eine besonders kleine Dosis die Einschränkung des Appetits in Grenzen halten. Am besten sprechen Kinder mit einem höheren IQ an. Bei der Verordnung von Fenfluramin ist weiter zu beachten, daß das Präparat einschleichend gegeben und vor allem nicht von einer höheren Dosis plötzlich abgesetzt wird, da dadurch stark vermehrte Unruhe und Reizbarkeit hervorgerufen werden können. Auf Teilnahmslosigkeit, Nahrungsverweigerung und Magenbeschwerden in den ersten 14 Tagen der Medikation sowie Reizbarkeit, Agitation und gehäuftes Schreien nach etwa einem Vierteljahr bei einigen autistischen Patienten wurde hingewiesen.
In der letzten Zeit sind gelegentlich Mitteilungen über neue Wirkstoffe zur Behandlung des autistischen Syndroms und von autoaggressivem Verhalten publiziert worden. Es handelt sich um Medikamente, die an den Endorphinen angreifen, nämlich an den körpereigenen Stoffen, die mit den Opiaten, deren Hauptvertreter Morphium und Heroin sind, Ähnlichkeit haben. Daher werden sie auch Opioide genannt. Diese Stoffe sammeln sich im Gehirn vermehrt an, wenn es verletzt wird, und zwar vor allem in der Nähe der Verletzung. Sie sollen Schmerzen verringern wie die von außen zugeführten Opiate, sie sollen auch die Durchblutung fördern. Es hat sich nun gezeigt, daß die Blockierung eines Endorphins, des Dynorphins, sich insofern positiv auswirkt, als dadurch Lähmungserscheinungen und Schock verringert werden. Die gleiche Blockierung des Dynorphins soll nun Symptome des Autismus günstig beeinflussen. Es wird angenommen, daß autistische Kinder ein überaktives Opioid-System haben, was auf das Sozialverhalten, aber auch auf die Schmerzverarbeitung Einfluß hat.

3.3.4.9 Therapie einzelner gestörter Verhaltensweisen

3.3.4.9.1 Toilettentraining

Im Rahmen der Erziehung zur Selbständigkeit spielt die Beherrschung der Ausscheidung von Stuhl und Harn eine wichtige Rolle. Die Unsauberkeit der Hose ist eine schwere Belastung für die Betreuer und das Kind. Es kann an vielen Aktivitäten nicht teilnehmen, obwohl die geistige Verfassung dies möglich machen würde. Auch die Gruppenfähigkeit leidet. Es muß also alles daran gesetzt werden, die Fähigkeit der Blasen-Mastdarm-Beherrschung aufzubauen. Die letzte Feststellung besagt, daß zum Sauber- und Trockenwerden höhere geistige Funktionen nicht erforderlich sind, sondern daß ein Verhaltensmuster bereitliegt, das durch gewisse Hilfe aus der Umwelt nur entwickelt zu werden braucht. Ohne solche Hilfen, die als Lernprozesse im weitesten Sinne bezeichnet werden können, kann die Kontrolle der Ausscheidungen allerdings nicht zustande kommen. Manche Eltern haben sich damit abgefunden, daß das bei ihrem Kind nicht klappt. Sie geben immer eine Windel in die Hose, was nicht gerade zur Zurückhaltung von Stuhl und harn beiträgt, sondern eher dazu, sich in die Windel zu entleeren.
Sowohl für die Behandlung des Einnässens als auch des Einkotens gibt es zunächst einen gemeinsamen Schritt: die Gewöhnung an den Toilettenraum und an das Klosett. Das Kind muß durch ein Verstärkerprogramm dazu gebracht werden, daß es diesen Raum ohne Angst und Unwillen betritt und sich auf das Klosett setzt. Wenn das allein nicht genügt, es zur Entleerung zu bewegen, kommen für Kinder, mit denen eine Verständigung hierüber schwierig ist, zwei wirkungsvolle Maßnahmen in Frage: das Musikklosett und die Anwendung von Mikroklist.
Für die Behandlung des nächtlichen Einnässens gibt es schon lange Apparate. Sie funktionieren so, daß im Bett oder in der Hose durch die ersten Tropfen des austretenden Harns ein Stromkreis kurzgeschlossen und damit ein Wecksignal ausgelöst wird. Näßt das Kind am Tag ein, so funktioniert diese Methode nicht, da es auf das Wecken nicht ankommt. Nun hat man eine Methode erdacht, bei der die Entleerung ins Klo sofort belohnt, also operant verstärkt wird. Die ersten Tropfen entleerten Urins lösen das Abspielen eines Musikstückes aus. Als operanter Verstärker dient also die Musik, deren Art nach dem Geschmack des Kindes ausgewählt werden sollte. Muß man zu lange auf eine spontane Entleerung warten, kann man versuchen, zunächst etwas lauwarmes am Unterbauch des Kindes herabrieseln zu lassen, um ihm so das Erlebnis der Musik zu ermöglichen.
Auch beim Einkoten gibt es ein Mittel, die Entleerung auf die Toilette einzuleiten: Mikroklist. Zu der Zeit, zu der man eine Darmentleerung erwartete oder für zweckmäßig hält, wird der Inhalt der Tube rektal eingeführt. Das Kind wird 5-10 Minuten später auf die Toilette gesetzt, wo eine Weile, bis zu 20 Minuten, später die Stuhlentleerung erfolgt. Diese wird sogleich mit einer speziell auf das Kind abgestimmten Belohnung verstärkt. Kommt die Entleerung auf diese Weise in Gang, so kann man sich nach etwa 14tägigem Erfolg aus der Behandlungsmaßnahme ausschleichen. Das geschieht, indem zunächst für etwa eine Woche die eingespritzte Flüssigkeit halbiert und dann weiter verringert wird. Schließlich sollte man sie nach einer weile durch lauwarmes Wasser ersetzen. Die Prozedur wird damit beendet, daß die Gaben nur noch jeden 2. Tag und dann immer seltener erfolgen.

3.3.4.9.2 Sprachtherapie

Zwei Grundkonzepte beherrschen diese Therapie: die Vorstellung mancher Tiefenpsychologen, die Sprachfähigkeit sei an sich vorhanden und müsse nur geweckt werden, und die Vorstellung, dem autistischen Kind fehlten psychophysiologische Voraussetzungen, Sprache zu produzieren, sie als Kommunikationsmittel einzusetzen, teilweise auch sie zu verstehen, so daß sie ganz von vorne angebahnt werden müsse. Beide Hypothesen sind nicht von der Hand zu weisen, wobei die 2. Für die Praxis größere Relevanz hat. Bei einem Teil der autistischen Kinder sind die Voraussetzungen zu normalem Sprechen zweifellos vorhanden. Viele von ihnen entwickeln sogar differenzierte Sprache. Hier ist eine Sprachtherapie natürlich nicht erforderlich. Sehr viele Autisten beginnen jedoch verspätet und oft unvollkommen zu sprechen, lernen aber dann später doch, sich richtig sprachlich auszudrücken. Leider ist es nicht möglich, das im Einzelfall vorauszusagen. Immerhin ist es für diese Gruppe sinnvoll, bereitliegende Sprachfähigkeiten zu wecken, ohne daß man den mühevollen Weg eines Sprachaufbaus einschlagen muß. Für diese Kinder eignen sich Methoden, die vorwiegend die allgemeine Kommunikation fördern, z.B. Musiktherapie oder der Einsatz von Gesang. Hier kann auch die umstrittene Festhaltetherapie wirksam sein.
Für einen großen Teil der sprechunfähigen autistischen Kinder ist es notwendig, die Sprache ganz von Anfang anzubahnen. Hierzu eignen sich verhaltenstherapeutische Maßnahmen am besten. An den Anfang jeder Sprachanbahnung gehört eine genaue Analyse der vorhandenen oder nicht vorhandenen Sprachkompetenz, die sich natürlich auch auf die Angaben der Eltern stützen muß.
Ein Programm zum Aufbau aktiver, später auch kommunikativer Sprache setzt sich aus folgenden Schritten zusammen:
- Training des Sprachverständnisses nach lerntheoretischen Gesichtspunkten;
- Aufbau von Imitationsfähigkeit nonverbal und verbal, die schließlich zu einer Echolaliesprache führen sollte;
- Umformung der Echolaliesprache in Aussagesprache;
- Überführung der Aussagesprache in Kommunikationssprache.
Der erste Schritt beginnt mit Lippen-, Zungen-, Atem- und Luftstromübungen, wie sie auch in der Gehörlosenpädagogik angewandt werden. Dabei sollte man sich auch der hier üblichen Handgesten bedienen. Es gibt aber auch die Möglichkeit, sich des geschriebenen Wortes zu bedienen und damit in gewissem Umfang Lesefähigkeit aufzubauen.
Die Erfolge aller dieser therapeutischen Maßnahmen sind unterschiedlich. Leider wird es nur selten gelingen, bei einem ganz mutistischen Autisten eine perfekte Sprache aufzubauen. Man hat hier mit manchen Problemen zu kämpfen. Manchmal bleibt die Primitivsprache stecken oder man hat Schwierigkeiten, die tatsächlich erworbene Sprachfähigkeit für ihren eigentlichen Zweck, die Kommunikation, nutzbar zu machen. Immerhin ist es zweifellos ein Gewinn, wenn man weiß, daß das Kind sich sprachlich ausdrücken kann, daß es in der Lage ist, Wünsche verbal zu äußern, auch wenn das nicht immer funktioniert. Nicht so selten kommt es vor, daß ein autistischer Mensch dann später, wenn man es gar nicht erwartet, sein so erworbenes Sprachvermögen einsetzt.
Gelingt es trotz längerer Versuche mit diesen Methoden nicht, verbale Sprache aufzubauen, so bleibt noch der Weg, es mit der Zeichensprache zu versuchen. Hier wird die Sprache angebahnt, die sich ausschließlich der Gesten bedient. Diese Möglichkeit des kommunikativen Sprechens ist aus der Gehörlosenpädagogik lange bekannt. Sie wird seit längerer Zeit auch in der Autismustherapie verwendet.
Das Erlernen der Zeichensprache eignet sich besonders für autistische Kinder mit Hörschwächen oder solche, bei denen man sich nicht darüber klar ist, ob sie Laute und Sprache wahrnehmen können.
Es hat sich gezeigt, daß mit Hilfe der Gebärdensprache bei manchen mutistischen autistischen Kindern und Jugendlichen die Kommunikationsfähigkeit erheblich verbessert werden kann. Dabei ist es natürlich erforderlich, daß die Eltern oder andere Betreuungspersonen die manuelle Gebärdensprache beherrschen. wenn man beginnt, einem autistischen Kind die Zeichensprache beizubringen, so ist damit nicht ausgeschlossen, daß es später doch noch die Anwendung von gesprochenen Wörtern lernt.
Bei weniger schwerwiegenden Sprachstörungen, bei denen es nur darum geht, vorhandene Sprachkompetenz zu erhöhen, Artikulationsschwierigkeiten zu beseitigen, grammatische oder syntaktische Mängel anzugehen, können auch die Methoden der Logopädie angewandt werden.

3.3.4.9.3 Behandlung von Verhaltensexzessen

Einen besonderen Raum bei der Behandlung des autistischen Syndroms nehmen die Verhaltensexzesse ein: alles das, was der autistische Mensch über Maß und Umfang normalen Verhaltens hinaus tut. Das sind Stereotypien, zwanghafte Riten, Aggressivität und Selbstbeschädigung. Diese Symptome machen den Umgang mit dem behinderten Menschen so besonders schwer, weil alle diese Handlungen für den Außenstehenden selten einfühlbar sind, weil man daran sofort erkennt, daß dieses Kind oder dieser Jugendliche psychisch abnorm ist, und weil dadurch meist die häusliche Ruhe empfindlich gestört wird. Für den Betroffenen selbst sind Verhaltensexzesse insofern hinderlich, als er, während er sie ausführt, keiner geordneten, sinnvollen Tätigkeit nachgehen kann.
Wie bereits erläutert wurde, dienen stereotype Bewegungen wahrscheinlich der Selbststimulation. Sie haben eine gewisse lustvolle Komponente. Das bedeutet einerseits, daß man sich manchmal scheut, dem Autisten dieses Vergnügen zu nehmen, wenn er schon sonst wenig Lebensfreude nach unseren Maßstäben hat. Andererseits bedeutet dieser lustvolle Gehalt der Handlungen, daß sie sich selbst verstärken und deswegen besonders schwer zu beeinflussen sind. So sollte bei jedem Behandlungsplan auf diesem Gebiet zunächst abgewogen werden, wieviele und welche Stereotypien man evtl. hinnehmen und vielleicht nur auf einen bestimmten Punkt und eine bestimmte Zeit beschränken sollte. Wenn ein autistisches Kind in seinem eigenen Zimmer schaukelt, kreiselt oder wedelt und sich dabei wohlfühlt, so kann das ruhig geduldet werden. das Ziel der Behandlung sollte es jedoch sein, daß er das nicht auf der Straße, in der Schule oder in Gegenwart von ihm weniger vertrauten Menschen tut.
Zur Reduktion von motorischen Stereotypien kann man zwei Methoden anwenden: Die Bestrafung der stereotypen Handlung und die Verstärkung von Zeiträumen, in denen sie Nicht ausgeführt werden. Unter Bestrafung muß man nicht eine drastische Maßnahme wie ein Schmerzreiz verstehen, es kann vielmehr auch ein laut gesprochenes "Nein" oder das Festhalten etwa der Hände sein. Bewährt hat sich auch der Versuch, die stereotype Handlung in eine einigermaßen sinnvolle zu überführen, die dann intensiv belohnt wird. Ein Kind, das mit dem Bleistift zeichnet oder auch nur kritzelt, kann nicht gleichzeitig wedeln oder sonstige stereotype Handbewegungen machen. Wirkungsvoll ist auch das Anbieten von Spielzeug, das sonst gerne genutzt wird. Da Stereotypien immer irgendwie mit der Situation zusammenhängten, kann man solche Situationen, wenn man sie kennt, so weit wie möglich vermeiden.
In der Praxis wird man zweckmäßigerweise ein Behandlungsprogramm entwickeln, in dem man diese verschiedenen Maßnahmen kombiniert.

3.3.4.9.4 Behandlung von Aggressivität und Autoaggressivität

Mit dem Älterwerden stellt sich bei vielen autistischen Kindern Aggressivität und/oder Autoaggressivität ein. Das hängt manchmal auch mit der Pubertät zusammen. Sie therapeutisch anzugehen, ist eine schwierige Aufgabe. Aggressives Verhalten autistischer Menschen hängt sicher mit ihrer allgemeinen sozialen Inkompetenz, mit ihrer zu gering ausgebildeten Empathie zusammen. So kann der an sich normale Aggressionstrieb nicht in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Die Kinder haben große Schwierigkeiten, die Regeln des menschlichen Zusammenlebens zu erlernen, die u.a. auf der Kanalisation von Aggressivität beruht.
Wie jedes menschliche aggressive Verhalten äußert sich dieses auch bei den autistischen Menschen gegen Menschen und Gegenstände. Die Behandlung sollte zunächst darin bestehen, daß eine Verstärkung der jeweiligen Aggression vermieden und friedlicher Umgang mit dem Aggressionsobjekt verstärkt wird. Mit dem Ignorieren ist es meist nicht getan, denn man kann nicht warten, bis der angegriffene Mensch verletzt, der Gegenstand zerstört ist. Häufig hilft die schnelle Veränderung der Situation; der aggressive Jugendliche wird wortlos aus dem Zimmer geführt, wobei ein gewisser Druck meist unvermeidlich ist. Schimpfen ist oft wirkungslos, da es manchmal sogar als Verstärker wirkt, Bedürfnis nach Bestrafung ist ein bekanntes Symptom des autistischen Syndroms. Gerade im Zusammenhang mit der Aggressivität autistischer Menschen gilt es, sehr konsequent die Regeln des menschlichen Umgangs einzuüben und zu fordern. Ein Partner (Elternteil, Geschwister oder Betreuer) sollte es keinesfalls hinnehmen, daß der autistische Jugendliche ihn schlägt, beißt, kratzt oder sonstwie malträtiert. Denn wenn das im Intimbereich geduldet wird, so ist auch zu befürchten, daß außerhalb des Haushalts ähnliche Aggressionen auftreten.
Man kann nun fragen, wie soll denn der autistische Mensch seine Aggressionen los werden, wenn er keine Möglichkeit hat, sie irgendwo abzureagieren? Es ist in der Psychologie umstritten, ob ein starkes Ausleben von Aggressionen, etwa das Schlagen gegen den Punching-Ball oder das Zertrümmern von Flaschen, diese abbaut oder eventuell sogar noch steigert. Immerhin sind anstrengender Sport und zur Ermüdung führende sonstige Tätigkeiten sicher ein Mittel, zu Aggressivität zu verringern. So sollten autistische Jugendliche, bei denen Aggressivität ein Problem ist, sich täglich längere Zeit im Freien aufhalten, z.B. im Garten arbeiten oder auch mit einem Partner joggen.
Ein bisher in keiner Weise befriedigend gelöstes Problem ist die Therapie von Autoaggressivität, also von selbstbeschädigendem Verhalten. Gerade in den letzten Jahren hat man sich intensiver mit diesem Problem beschäftigt und dabei festgestellt, daß Autoaggression, als Sich-Schlagen, mit Körperteilen gegen harte Gegenstände schlagen, Sich-Beißen oder -Kratzen bei geistigbehinderten Jugendlichen, vor allem in Heimen, sehr oft vorkommen, aber bei autistischen Kindern und Jugendlichen, vor allem solchen mit geistiger Behinderung, noch viel häufiger. Hier kommt es vor, daß ein autistisches Kind sich in wenigen Minuten hundertmal gegen den Kopf schlägt, sich dabei Wunden und Blutergüsse, ja sogar lebensgefährliche Verletzungen beibringt. Eltern und Betreuer stehen solchem selbstzerstörerischen Verhalten meist ratlos gegenüber. Ignorieren kommt hier überhaupt nicht in Frage, auch wenn man den Eindruck hat, daß eine provokative Komponente im Spiel ist. Es bleibt also nichts anderes übrig, als das Kind oder den Jugendlichen festzuhalten, festzubinden oder ihm eventuell einen Motorradhelm aufzusetzen. Solche Fixierungen, die diese Kinder meist selbst wünschen, haben wenig therapeutischen Wert, denn sobald die Fixierung gelöst wird, tritt die Autoaggression in der gleichen Stärke auf wie vorher.
Ebenso wie die Fremdaggression ist Autoaggression sehr stark von der Umgebung und von der Situation abhängig.
In Amerika hat man z.T. gute Erfolge mit verschiedenen verhaltenstherapeutischen Techniken gehabt. Hier steht das operante Konditionieren an der Spitze. Es besteht in drei Maßnahmen:
1. Löschung von unerwünschtem Verhalten durch Entfernung der Umweltbedingungen, die das Verhalten verstärken.
2. Aufbau inkompatiblen Verhaltens durch Verstärkung positiver Aktivitäten in kleinen Schritten, schließlich durch ein voll strukturiertes ganztägiges Programm.
3. Unterdrückung von Autoaggression durch sozialen Entzug, Entfernung auslösender Gegenstände, time out (etwa für fünf Minuten), aversive Reize (unangenehmer Geruch aus Spritzflaschen).
Die besten Ergebnisse wurden allerdings erzielt, wenn die nicht-aversive Verhaltenstherapie mit Pharmaka kombiniert wurde.
Die nicht immer befriedigenden Erfolge psychotherapeutischer, vor allem verhaltenstherapeutischer Maßnahmen haben dazu geführt, daß man sich, meist begleitend, nach Medikamenten zur Behandlung aggressiven und autoaggressiven Verhaltens umgesehen hat. Wie bereits gesagt, wird man mit einer rein medikamentösen Behandlung kaum je auskommen, es sei denn, ein Psychopharmakon wird so hoch dosiert, daß der Patient praktisch handlungsunfähig ist. Das kann aber keinesfalls das Therapieziel sein. Spezifisch auf Aggressivität und Autoaggressivität abzielende Psychopharmaka gibt es offenbar nicht, obwohl dies von den Herstellerfirmen gelegentlich behauptet wird. Es ist aber häufig zweckmäßig, die Gabe eines Medikaments mit anderen Maßnahmen, die meistens verhaltenstherapeutischer Natur sind, zu kombinieren.
Bei den Psychopharmaka spielt die Anpassung der Dosis an die individuellen körperlichen und vor allem psychischen Gegebenheiten eine entscheidende Rolle.
Im Gange befindliche und zukünftige biochemische Untersuchungen werden hoffentlich dazu führen, daß die medikamentöse Behandlung sowohl aggressiver als auch autoaggressiver Verhaltensweisen sich insgesamt stärker zu einer mehr kausalen Therapie entwickelt. Dann wird die Kombination von psychotherapeutisch-heilpädagogischen Maßnahmen mit Gaben von Medikamenten, soweit im Einzelfall zweckmäßig, zu befriedigerenden Ergebnissen führen, als das z.T. heute der Fall ist.

4 Soziale Aspekte

4.1 familiäre Erziehung

Kommt ein autistisches Kind in eine fremde Umgebung, z.B. in eine ärztliche Klinik, in das Büro eines Sozialarbeiters oder in eine neue Schule, so fällt es in seinem Verhalten oft auf eine primitivere Stufe zurück. In einer vertrauten Umgebung ist es dagegen meist weniger in sich zurückgezogen, freundlicher, lebhafter und kooperativer, bereitet aber andererseits auch viele Schwierigkeiten, die bei einem Besuch im Büro nur erahnt werden können.
Der Sozialarbeiter muß sich des jeweiligen Einflusses vieler verschiedener Faktoren auf das Verhalten des Kindes bewußt sein, damit er die Bedeutung jeder einzelnen Situation abschätzen und daraufhin praktische Ratschläge für den Umgang mit dem Kind geben kann.
Das zweite Prinzip folgt aus dem ersten. Der Sozialarbeiter sollte nicht die vorgefaßte Meinung haben, daß notwendigerweise irgendeine Störung in der häuslichen Umwelt die primäre Ursache für das abnorme Verhalten ist. Ganz abgesehen davon, daß dies ein elementarer logischer Fehler ist, können Eltern behinderter Kinder wegen ihrer eigenen Schuld- und Angstgefühle für jede Andeutung eines Vorwurfs sehr empfänglich sein. Dieses Thema sollte man offen diskutieren und den Eltern versichern, daß es keinen Grund für die Annahme gibt, sie seien für den Zustand des Kindes verantwortlich. Wenn der Sozialarbeiter wirklich glaubt, daß der Zustand durch persönliche Unzulänglichkeiten der Mutter verursacht ist, dann ist es am besten, dies ganz offen zu sagen. Man sollte dann auch erklären, daß diese Auffassung nur eine Hypothese darstellt, die keineswegs allgemein anerkannt ist, damit die Eltern sich überlegen können, ob sie einen anderen Sozialarbeiter wählen wollen. Die Zeit väterlicher Bevormundung bei der Beratungstätigkeit ist sicherlich vorbei, besonders, wenn man es mit Eltern zu tun hat, die intelligent sind und die Probleme selbst durchschauen können. Die Klienten erwarten nicht immer, daß Sozialarbeiter allwissend sind, nicht einmal, daß sie in allen Dingen recht haben. Viele können von einem Sozialarbeiter, der freimütig sagt, was er nicht weiß, mehr profitieren als von einem, der vorgibt, alle Antworten zu kennen.
Das dritte Prinzip bildet das Gegengewicht zu den beiden anderen. Die Umwelt hat ja tatsächlich einen starken Einfluß auf das Verhalten. Die primären Behinderungen, die am Anfang erklärt wurden, führen zu zahlreichen und verschiedenartigen sekundären Folgeerscheinungen. Die Eltern können es im Grunde gar nicht vermeiden, daß sie beim Umgang mit dem Kind viele Fehler machen. Die Methoden der Kindererziehung, die sie alle in irgendeiner Weise gelernt haben, sind natürlich auf die Bedürfnisse eines Kindes ausgerichtet, daß etwa zur gleichen Zeit laufen und sprechen lernt. Motorische und intellektuelle Selbständigkeit entwickeln sich gemeinsam. Wenn ein autistisches Kind ungewöhnlich ruhig und genügsam ist, beschäftigt sich seine Mutter vielleicht weniger als üblich mit ihm, besonders wenn sie mit ihren älteren Kindern zu tun hat. Andererseits sind viele autistische Kinder sogar schon als Säuglinge extrem schwierig und verlangen eigentlich Tag und Nacht ununterbrochen die Aufmerksamkeit beider Eltern. Dann entsteht das Problem der Überforderung der Eltern. Wenn autistische Kinder ins Kleinkindalter kommen, werden fast alle sehr schwierig und brauchen ständige Beaufsichtigung und nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit von den Eltern. Dies kann sich wiederum sehr nachteilig auf die anderen Kinder in der Familie auswirken. Sehr wenige Eltern haben das Glück, schon sehr früh zu entdecken, was mit ihrem Kind nicht in Ordnung ist und wie man seine Behinderungen verstehen kann. Die anderen müssen sich Tag für Tag abmühen, ohne zu wissen, warum ihr Kind so fremd, so eigenartig, so unberechenbar ist und so wenig Freude macht. Bei Kindern ohne zusätzliche körperliche Behinderungen liegt in den ersten Lebensjahren der Kern des Problems in Folgendem: Die Eltern haben ein gesund aussehendes Kind, das sie sehr lieben, an dem aber ihre Zuwendung und Zuneigung anscheinend völlig abgleiten. Und doch wirkt es gelegentlich normal, schmiegt sich manchmal glücklich an seine Mutter an, wenn es auf ihrem Schoß sitzt und sie ihm ein Lied vorsingt. Aber bei anderer Gelegenheit scheint es sich ihrer Existenz wieder gar nicht bewußt zu sein. Man hat immer das Gefühl, daß nur irgendein kleines Ding an der richtigen Stelle "einrasten" müßte, und alles wäre normal. Diese Mischung aus normalem und bizarrem Verhalten bei einem scheinbar gesunden Kind ist etwas völlig Unverständliches.
Von autistischen Kindern weiß man in der Öffentlichkeit nichts. Die Leute haben davon gehört, daß Kinder geistig zurückgeblieben oder hochgradig schwachsinnig sein können und haben eine gewisse Vorstellung davon, aber autistisches Verhalten ist etwas völlig Unerwartetes. Den Eltern stehen keine fertigen Redensarten zur Verfügung, auf die sie zurückgreifen können, um anderen Menschen das schwierige Verhalten zu erklären. Ihr Kind ist vielleicht destruktiv, nicht sauber und hat schreckliche Tischmanieren, und all das macht die Familie bei Freunden und Nachbarn unbeliebt und kann das gesellige Leben auf ein Minimum reduzieren. Erklärungen anderer Leute reichen von "Es ist taub" oder "Es ist verwöhnt" bis zu "Es ist eben schwachsinnig".
Wenn die Eltern schließlich den Entschluß fassen, Fachleute zu konsultieren, dann sind sie gewöhnlich unglücklich, verwirrt, voller Schuldgefühle und vollkommen ohne Vertrauen in ihre Fähigkeit, das eigene Kind zu erziehen. Je früher die Familie beraten wird, und je realitätsbezogener und empirisch fundierter diese Beratung ist, desto unwahrscheinlicher wird es, daß man einmal die Empfehlung geben muß, die Erziehung des Kindes den Eltern völlig aus der Hand zu nehmen.

4.2 Soziales Verhalten in der Öffentlichkeit

Sobald die schlimmsten Verhaltensprobleme überwunden oder mit zunehmender Reife verschwunden sind, kann ein autistisches Kind lernen, wie man sich in der Öffentlichkeit verhält. Sein Erfahrungskreis wird hierzu allmählich ausgeweitet. Vernünftigerweise sind die Unternehmungen zunächst nur kurz - ein Kaffeebesuch bei einer befreundeten Familie oder eine Stunde im Zoo. Später kann die Zeit ausgedehnt werden. Das Kind soll Erfahrungen mit möglichst vielen Tätigkeiten des alltäglichen Lebens sammeln: wie man in einem Restaurant ißt, mit Bus und Bahn fährt usw.

4.3 Elterninitiativen

Da sie sich von den Behörden allein gelassen fühlten, gründeten Eltern autistischer Kinder den Verein "Hilfe für das autistische Kind". Die Initiative ergriff die Mutter eines autistischen Kindes in Lüdenscheid. Mit sehr starkem Engagement und der Hilfe anderer Autisten-Eltern gelang es ihr, in kurzer Zeit eine Organisation aufzubauen, die sich bald über die nördliche Hälfte Deutschlands und später, in etwas geringerem Umfang, in einigen Gegenden Süddeutschlands ausdehnte. Zentren dieser Elterninitiativen waren und sind die Hansestädte Bremen und Hamburg. In Bremen führte der Zusammenschluß einiger Eltern schon früh zum sog. Bremer Projekt, einer vorwiegend behavioristisch ausgerichteten Spezialschule für autistische Kinder und Jugendliche, die längere Zeit die einzige in Deutschland blieb und heute in veränderter Form noch besteht. In Hamburg entstand das ebenfalls heute noch arbeitende "Institut für Therapie autistischer Verhaltensstörungen".
Dieser anfangs kleine Verein entwickelte sich zu einer großen Organisation, dem Bundesverband "Hilfe für das autistische Kind" mit Sitz in Hamburg. In ihm vereinen sich z. Zt. 22 Regionalverbände aus ganz Deutschland. Der Bundesverband hat sich laut seiner Satzung vier Ziele gesetzt:
1. Die Förderung aller Maßnahmen und Einrichtungen, die eine wirksame Hilfe für autistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene bedeuten
2. Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere Veranstaltungen von Fachtagungen
3. Herausgabe von Büchern, Broschüren und anderen Veröffentlichungen
4. Die Anregung und Förderung des Zusammenschlusses von Eltern und freunden von autistischen Kindern und Jugendlicher auf örtlicher bzw. regionaler Basis sowie Unterstützung und Ausbau dieser örtlichen Vereinigungen.
Der Bundesverband gibt seit 1976 die halbjährlich erscheinende Zeitschrift "autismus" heraus, in der über die Verbandsaktivitäten, über Einrichtungen im In- und Ausland, über neue Forschungsergebnisse, vor allem auf dem Gebiet der Therapie, über Schulprobleme und andere mit dem Thema Autismus zusammenhängende Probleme berichtet wird. Es ist dieser Elterninitiative gelungen, das autistische Syndrom in Deutschland einigermaßen bekannt zu machen.
Die Regionalverbände haben inzwischen insgesamt 20 Einrichtungen für die Behandlung und ambulante Betreuung autistischer Menschen aufgebaut. Hier werden von z.T. lang eingearbeiteten Therapeuten und Sozialarbeitern psychologische, heilpädagogische und andere Hilfen angeboten.
Schwierig ist noch immer die Situation für diejenigen Kinder und Herangewachsenen, deren Betreuung und Versorgung zu Hause nicht möglich ist. Es gibt nur wenige Heime, die auf die Pflege autistischer Menschen spezialisiert sind. Selbstverständlich werden autistische Kinder auch in anderen Heimen gut betreut. Es ist aber ein Vorteil, wenn sich Personal mit Erfahrungen auf diesem Gebiet um sie kümmert.
Ähnliches gilt für die Erwachsenen. Die bisher fast als einzige offenstehende Lösung, diese autistischen Menschen in einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus oder in einem Heim für Geistigbehinderte unterzubringen, ist sehr häufig unbefriedigend, vor allem dann, wenn das Erscheinungsbild des autistischen Syndroms dort wenig bekannt ist. Deswegen haben die Elterninitiativen sich bemüht, Spezialheime einzurichten bzw. an vorhandene Heime anzugliedern. Die Wenigen inzwischen vorhandenen haben sich gut bewährt.
Im Kleinkind- und Vorschulalter werden die autistischen Kinder meistens von den Ambulanzen "Hilfe für das autistische Kind" heilpädagogisch betreut. Das geschieht meist zusätzlich zu den sonst für behinderte Kinder üblichen Maßnahmen der Frühförderung und der Betreuung in Kindergärten und Tagesstätten für behinderte Kinder.
Die verschiedenen Elterninitiativen für autistische Menschen sind auf europäischer Ebene in dem internationalen Verband Autism Europe zusammengeschlossen. Sein Sitz ist in Belgien. Von hier aus werden alle Probleme der inzwischen in fast allen europäischen Ländern existierenden Autismus-Organisationen koordiniert, aber auch Kongresse veranstaltet. Der Verband gibt regelmäßig eine Zeitschrift zur Information in englischer und französischer Sprache, den LINK-Newsletter, heraus

4.4 Praktische Hilfen, die Sozialarbeit leisten kann

4.4.1 Hilfen für eine Familie mit einem autistischen Kind

Bleiben autistische Kinde zu Hause, so entstehen Belastungen für die ganze Familie. Die Hilfen, die nötig sind, um diese Belastungen soweit wie möglich zu verringern, möchte ich unter vier Gesichtspunkten erläutern: Umgang mit dem Kind, praktische Hilfen, Psychotherapie und Beratung hinsichtlich anderer Hilfsdienste.
Die Eltern brauchen genaue Anweisungen, wie sie auf das abnorme Verhalten des Kindes reagieren sollen, denn wenn sie mit ihrem Kind in kluger und sicherer Weise umgehen, helfen sie nicht nur dem Kind, sich in optimaler Weise zu entwickeln, sondern bekommen auch selbst das Gefühl, daß sie etwas konstruktives leisten; und das trägt dazu bei, daß sie die Verzweiflung und den Kummer, die unvermeidbar aufkommen, besser bewältigen können. Diese Form der Beratung wird am besten vom Sozialarbeiter durchgeführt, der dafür aber erst dann geeignet ist, wenn er in allen praktischen Einzelheiten weiß, wie sich autistische Kinder in verschiedenen Situationen verhalten, zu Hause, auf Reisen, bei Besuchen usw. Ratschläge für die häusliche Erziehung und Einübung eines akzeptablen Sozialverhaltens sind auch wichtig, damit möglichst wenig Zeit für konstruktiveres Lernen verloren geht. Viele Eltern können ihre autistischen Kinder ebenso unterrichten, wie sie beim Unterricht ihrer anderen Kinder helfen können, aber sie brauchen dafür die Hilfe eines Sozialarbeiters.
Die praktische Hilfe, die zu Hause benötigt wird, ist für Familien mit autistischen Kindern größtenteils dieselbe wie für Familien, die Kinder mit einer andersartigen geistigen Behinderung haben. Hilfe im Hauhalt beim Wäsche waschen, finanzielle Unterstützung, besondere Fahrmöglichkeiten, wenn das Verhalten des Kindes in Bussen oder Zügen unerträglich ist, eine erfahrene Beaufsichtigung der Kinder am Abend, damit die Eltern gelegentlich aus dem Haus gehen können, das alles könnte von Zeit zu Zeit erforderlich sein. Diese Hilfen sollte der Sozialarbeiter von sich aus zur Verfügung stellen, wobei er selbst versuchen muß, vorherzusehen,, wann sie notwendig sind, und nicht warten soll, bis die Familie verzweifelt ist, weil sie ihr fehlen.
Eine Psychotherapie ist oft deshalb nötig, weil das gestörte Verhalten des Kindes zwiespältige Gefühle bei den Eltern hervorruft. In Verbindung mit der unvermeidbar verlängerten Periode der Abhängigkeit kann dies zu ernsthaften Störungen der Beziehungen in der Familie führen, nicht nur zwischen Mutter und Kind und zwischen den Geschwistern, sondern auch zwischen den Ehepartnern. Gefühle von Feindseligkeit und Aggressivität gegenüber dem behinderten Kind sind unter Umständen schwer zu verarbeiten und führen zu Schuldgefühlen, Angst und Depressionen. Viele Eltern können diese Probleme selbst gut meistern, aber einige Eltern werden von ihnen überwältigt.
Schließlich muß man die Familie in Kontakt mit den verfügbaren Hilfseinrichtungen bringen. Man muß das Problem der Heimerziehung nach allen Seiten hin diskutieren, muß gründlich auf die Erziehungsprobleme eingehen und eine sachgerechte Beratung erteilen. Man sollte die Eltern auf Elternvereinigungen hinweisen, in denen sie andere Eltern finden, die vor ebenso schwere Probleme wie sie gestellt waren und diese Probleme gelöst haben.
Diese Familienhilfen, die notfalls über Jahre hinweg gegeben werden, sind präventive Maßnahmen. Gute medizinische und soziale Behandlung und gute häusliche Erziehung vermindern die Verhaltensstörungen und erhöhen das Selbstvertrauen der Eltern.

4.4.2 Autistische Kinder in Heimen

Im Interesse des Kindes oder der Familie ist es manchmal notwendig, eine Unterbringung außerhalb der Familie zu empfehlen.
Für autistische Kinder ist ein Mangel an Umweltanregungen besonders schädlich, sie brauchen mehr spezielle und persönliche Zuwendung als andere Kinder, nicht weniger. Es ist unmöglich, daß sie diese Zuwendung auf großen personell unterbesetzten Stationen erhalten, wo man sich nur um die am lautesten schreienden Kinder persönlich kümmern kann, und selbst um diese nicht genug. Psychiatrische Einrichtungen müssen trotzdem Kinder mit schwersten Behinderungen und Verhaltensstörungen aufnehmen, und versuchen, mit ihnen zurecht zu kommen, einfach weil es an anderer Stelle keine ausreichende Versorgungsmöglichkeit gibt. Das heißt nicht, daß die eigene Familie immer besser als eine Institution ist. Eine kleine Wohngemeinschaft in einem guten Heim kann eine günstigere Lebenssituation sein als ein schlechtes Zuhause. Aber es gibt bisher sehr wenige Wohngemeinschaften dieser Art, und andererseits lassen sich schlechte häusliche Bedingungen oft verbessern, wenn mit praktischen Maßnahmen geholfen wird
Die Entscheidung, ein Kind von zu Hause fortzugeben, ist eine negative, wenn sie nichts weiteres beinhaltet. Man braucht in einem solchen Fall die positive Entscheidung, welche Art der Unterbringung notwendig ist: ob eine spezielle Krankenhausabteilung, eine Heimschule oder eine Familiengruppe sinnvoll ist.

4.4.3 Das sozialpsychiatrische Team

Die Hilfsdienste sind sehr komplex, und es ist nicht leicht, nach einem rationalen Plan von ihnen Gebrauch zu machen.
Für Kinder besteht ein solches Team aus Medizinern, Pädagogen und Sozialarbeitern. Die Aufgabe des Arztes ist, eine Diagnose zu stellen, mit der Ermittlung und Abgrenzung der behinderten Funktionen zu beginnen und Anweisungen für die medikamentöse Behandlung zu geben. Die Aufgabe des Sozialarbeiters ist es, das Problem des Kindes im sozialen Zusammenhang zu sehen und bei der Ermittlung der sekundären Behinderungen zu helfen, für praktische Hilfen zu sorgen, Ratschläge für die Erziehung des Kindes zu geben und zu versuchen, die persönlichen Probleme, die bei den Eltern und Geschwistern entstehen, vorherzusehen und sich damit zu befassen. Der pädagogische Berater muß mit den anderen Mitgliedern des Teams zusammenarbeiten, um die Behinderung ausfindig zu machen, die der Entwicklung des Kindes im Wege steht. Er muß eine geeignete Schule oder Schulklasse finden und Methoden vorschlagen, mit denen Eltern und Schule dem Kind helfen können, die Behinderungen zu überwinden. Alle drei Mitglieder können bei ihrer Zusammenarbeit zu der Ansicht kommen, daß eine zusätzliche Hilfe durch andere Spezialisten wünschenswert ist oder daß die Eltern noch andere Hilfseinrichtungen in Anspruch nehmen sollten. Jedes Mitglied des Teams muß sich eine gründliche Kenntnis darüber verschaffen, wie sich autistische Kinder in verschiedenen Umgebungen, insbesondere zu Hause, in der Schule und in der Öffentlichkeit verhalten. Die schwierigste Aufgabe ist die Koordination der einzelnen Maßnahmen.

4.4.4 Aufklärung der Eltern und der Öffentlichkeit

Die Aufklärung der Eltern übernehmen Mitglieder des Teams, wie ich es eben beschrieben habe. Die Eltern sind natürlich oft die ersten, die bemerken, daß etwas mit ihrem Kind nicht stimmt, und so erhebt sich die Frage, ob sie und die allgemeine Öffentlichkeit, durch Presse, Radio und Fernsehen, Informationen über dieses Zustandsbild erhalten sollten. Die Fachleute sind darüber verschiedener Meinung. Es entsteht vermutlich wenig Schaden, wenn die Informationen in unaufdringlicher Weise gegeben werden und den Tatsachen entsprechen. Es ist ja wirklich eine beträchtliche Gruppe kleiner Kinder dadurch als autistisch erkannt worden, daß die Eltern das Syndrom identifiziert und sich um eine medizinische Beratung und Überweisung zu einem Spezialisten bemüht haben. Bei einer derart seltenen Erkrankung ist nicht so wichtig, daß die breite Öffentlichkeit darüber informiert ist, aber es wäre gut, wenn man geistigen Behinderungen überhaupt mit weniger Scheu und mehr praktischer Sympathie begegnen würde.
Es ist die Aufgabe aller gut informierten Fachleute, die schon vorhandene Hilfsbereitschaft in praktisch nützliche Kanäle zu lenken. Jede öffentliche Aufmerksamkeit, die autistische Kinder wecken, weil sie körperlich attraktiver sind und Interesse und Sympathie auf sich ziehen können, sollte ausgenutzt werden, nicht allein, um speziell diesen Kindern zu helfen, sondern um vermehrte Hilfen für alle geistig behinderten Kinder zu schaffen.

5 Zusammenfassung

Wenn viele tausend autistische Menschen der verschiedenen Altersstufen in allen Ländern leben, so ist das ein gesellschaftliches Problem, mit dem nicht nur die Einzelnen, die vielen betroffenen Eltern und Geschwister, sondern auch die Allgemeinheit fertig werden muß. Das gilt für das autistische Syndrom ebenso wie für die schweren körperlichen Krankheiten wie Krebs, Kreislaufkrankheiten oder Aids. Es ist wohl nicht richtig, die Bedeutung einer solchen Krankheit nur an der Zahl der Betroffenen zu messen. Die Richtschnur sollte das Leiden und die Hiflsbedürftigkeit der Menschen sein. Historisch gesehen ist der frühkindliche Autismus in Deutschland Ende der Sechziger Jahre einem etwas breiteren Kreis von Betroffenen und Experten bekannt geworden. In den angelsächsischen Ländern hat man sich schon früher mit dem Problem beschäftigt. Es ging und geht überall darum, das autistische Syndrom soweit bekannt zu machen, daß die zuständigen Berufszweige (Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen und andere soziale Berufe) und die zuständigen Behörden Maßnahmen ergreifen, die von den einzelnen selbst nicht zu leisten sind. Dies ist in unterschiedlichem Maß gelungen.


[1] Weltgesundheitsorganisation: ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, 2. Auflage, Bern; Göttingen; Toronto; Seattle: 1993
[2] D. Weber: der frühkindliche Autismus unter dem Aspekt der Entwicklung. Bern 1970
[3] Kehrer; S. 37
[4] Vgl. Kehrer, H.E. und Morcher, S.: Das Erkennen und Lesen auf dem Kopf stehender (upside--down) Bilder und Schrift als Mehrleistung bei autistischen Kindern und Jugendlichen. Z. Kinder- Jugendpsychiatrie 15, S. 315-326

[5] Epilepsie mit epileptogenem Herd im Schläfenlappen des Gehirns
[6] Form eines epileptischen Anfalls mit plötzlich einsetzender, meist 10-30 Sekunden dauernder Bewußtseinsminderung und nachfolgender Amnesie; zusätzlich können milde motorische Begleitsymptome (z.B. Lidzuckungen, Änderungen des Muskeltonus, Automatismen, vegetative Phänomene) auftreten.
[7] Blick-Nick-Salam-Anfälle. Epileptische Anfallsart bei kleinen Kindern.
[8] Familiäre Anfallserkrankung, die zwischen dem sechsten und sechzehnten Lebensjahr auftritt und mit charakteristischen Muskelzuckungen verbunden ist.

[9] Wendeler, J.: Epidemiologie. In: Frühkindlicher Autismus (Hg.: Wing, J.K.). S. 38-39, Beltz, 3. Auflage, Weinheim und Basel 1988
[10] Lotter, V., Epidemilogy of autistic conditions in young children, II: Some characteristics of the parents and children. Social Psychiatry, 1967, S. 163-173
[11] Vgl. Hans E. Kehrer, Autismus. Diagnostische, therapeutische und soziale Aspekte, S. 71

[12] Röntgendiagnostisches, computergestütztes bildgebendes Verfahren nach dem Prinzip der Tomographie, mittels einer Röntgenröhre und eines speziellen Blendensystems wird ein schmaler Fächerstrahl als Röntgenpuls erzeugt, der innerhalb der durchstrahlten Körperschicht des Patienten in Abhängigkeit von den vorhandenen Strukturen verschieden stark geschwächt wird. Mittels eines mit einer Vielzahl von Detektoren bestückten Detektorkranzes wird diese abgeschwächte Röntgenstrahlung als Signal empfangen, elektronisch aufbereitet und einem Rechner zugeführt. Anschließend dreht sich das System Röhre-Detektoren geringfügig weiter, um die sogenannte Patientenschicht wiederum mit einem Röntgenpuls zu durchstrahlen. Auf diese Weise werden viele verschiedene Projektionen derselben Schicht erzeugt und im Rechner über Dichtemessungen zu einem Bild verarbeitet.
[13] Röntgenologische Darstellung der Liquorräume des Gehirns nach Füllung mit Luft bzw. Gas, heute weitgehend durch die Computertomographie ersetzt.

[14] Vgl. Hans E. Kehrer: Autismus. Diagnostische, therapeutische und soziale Aspekte, S. 72

[15] Nervenzellen in der mittleren Schicht der Kleinhirnrinde
[16] Symptomenkomplex mit ausgeprägten oralen Tendenzen (z.B. wahllose, wiederholte orale Untersuchung aller beweglichen Objekte der Umgebung, Gefräßigkeit), Hypersexualität, Verlangsamte motorischer Abläufe und Gedächtnisstörungen

[17] Vgl. Tinbergen, N. u. E. A.: Autismus bei Kindern, Parey, Berlin und Hamburg 1984
[18] Fallinger Gabriele: Frühkindliche Trennungen bei autistischen Kindern. Diss. Med., Münster 1987
[19] Vgl. Asperger, Hans: Autismus. Diagnostische, therapeutische und soziale Aspekte, S. 78
[20] Vgl. Wilhelm, Gabriele 1977

[21] Mit Körperzuckungen und dem Ausstoßen von, meist unangenehmen, Wörtern verbundene Krankheit
[22] Krankheit mit Geschwülsten in und am Nervensystem und in der Haut
[23] Erbliche Krankheit, bei der im Kindesalter Muskeln schrumpfen
[24] Kinder mit starker Unruhe und Unkonzentriertheit

[25] Vgl. Birgit Weber, 1982
[26] Vgl. Beckmann, Th.: Über die Geschwister autistischer Kinder. Diss. Med. Münster 1982
[27] Vgl. Augustin, Anneliese: Sensorische Integration/Sensorische Integrationsstörungen. Der Kinderarzt 17, S. 736-740, 1986
[28] Vgl. Dzikowski, Stefan und Vogel, Cordula: Störungen der sensorischen Integration bei autistischen Kindern. Probleme von Diagnose, Therapie und Erfolgskontrolle. Weinheim 1988
[29] Vgl. Delacato, C.H.: Der große Unbekannte, das autistische Kind. Freiburg 1975
[30] Vgl. Prekop 1984
[31] Vgl. Herrmann-Haunhorst 1978
[32] Vgl. Kramann 1982
[33] Vgl. Hermann Simon 1927, 1929