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Universität Tübingen

 
Deutsches Seminar
Neuere Deutsche Literatur 2 / Proseminar
"Literarische Utopien des 18. Jahrhunderts"
Adolph Freiherr von Knigge: "Geschichte der Aufklärung in Abyssinien" - Ein Vergleich mit dem Grundgesetz der BRD
Dr. Jürgen Walter
Achim Glasbrenner
WS 1993/94  / Note: 2-3

 
 
 
 



 

Literaturverzeichnis
 
 

·Berghahn, K.; /Seeber, U., Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein Ts. 1983

·Biesterfeld, W.;Die literarische Utopie, 2. Aufl., Stuttgart, 1982

·Braak, Ivo;Poetik in Stichworten, Unterägeri, Hirt Verlag, 1990

·Grundgesetz der BRD, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg), Bonn, 1985

·Knigge, Adolph Freiherr von; Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien oder Nachricht von seinem und seines Herrn Vetters Aufenthalte an dem Hof des großen Negus oder Priesters Johannes, Sämtliche Werke, Band 14, Abt. 4, Politische Schriften, KTO-Press, Nendeln, Liechtenstein, 1978

·Knigge, Adolph Freiherr von; Geschichte Peter Clausens, Riga, 1783-1785

·Knigge, Adolph Freiherr von; Josephs von Wurmbrands, kaiserlich abyssinischen Ex-Ministers, jezzigen Notarii caesarii publici in der Reichsstadt Bopfingen, politisches Glaubensbekenntnis, mit Hinsicht auf die französische Revolution und ihre Folgen, mit einem Nachwort von Rudolph Stein, Insel, Frankfurt, 1968

·Knigge, Adolph Freiherr von; Über den Umgang mit Menschen, Frankfurt, 1962

·Knigge, Adolph Freiherr von; Das Zauberschloß, oder Geschichte des Grafen Tunger, Hannover, 1791

·Kuon, Peter;Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung, Heidelberg, 1986

·Müller , Götz;Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur, Stuttgart, 1989

·Naumann, Dietrich;Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung, Heidelberg, 1977

·Voegt, Hedwig;Der Traum des Herrn Brigg, Berlin 1968

·Voßkamp, Wilhelm; (Hg), Utopie-Forschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Stuttgart, 1982, 3 Bde.

·Walter, Jürgen;Adolph Freiherr von Knigges Roman: Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien, in: Germanistsich-Romanistsiche Monatszeitschrift 21 (1971), 153-180


Inhaltsverzeichnis
 

1. Einleitung

2. Zu Knigge, seiner Zeit und ihren und seinen Ideen

3. Knigges Verfassungsentwurf

4. Direkter Vergleich zum Grundgesetz

5. Zusammenfassung
 
 



 
 

1. Einleitung
 
 

Es gibt fast keinen, der heute den Namen Knigge nicht mit gutem Benimm und einem Sammelsurium von verschiedensten Anstandsregeln in Verbindung bringt.

Man tut damit dem Freiherrn Adolph von Knigge nicht nur Unrecht, sondern vernachlässigt damit auch die aufklärerische Intention, die den Autor bei seinem Werk "Über den Umgang mit Menschen" geleitet hat.(1)

Auch die Literaturwissenschaft hat Knigge als aufklärerischen Schriftsteller lange Zeit stiefmütterlich behandelt, was die teilweise schwierige Quellenlage und den Mangel an Sekundärliteratur erklärt. Erst in neuerer Zeit wurde Knigge wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.

Seine eher radikalen Aussagen sowie die gewählte Form des Unterhaltungsromans mit versteckter politischer Aussage sind wohl Gründe für die geringe Beachtung seiner Werke in früherer Zeit, seine verdeckten marxistischen Züge in dem näher zu untersuchenden Werk "Die Geschichte der Aufklärung in Abyssinien" haben ihn wohl im sozialistischen System der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik interessant gemacht.

Es sollen im folgenden die Zeitumstände und Knigges aufklärerisches Gedankengut näher betrachtet werden. Genauer wird auf sein Werk "Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien oder Nachricht von seinem und seines Vetters Aufenthalte am Hofe des großen Negus oder Priesters Johannes" eingegangen werden, wobei das Hauptaugenmerk auf den Vergleich zwischen dem am Ende des Buches entwickelten idealisierten Verfassungsentwurf und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gelegt werden soll.

Dabei sollen Parallelen und Unterschiede aufgezeigt werden, wobei bei Knigges Verfassungsentwurf, ohne vorgreifen zu wollen, eine für die damalige Zeit erstaunliche Weitsicht und Radikalität an den Tag gelegt wurde, die sich in vielen Punkten mit den Ideen neuzeitlicher Demokratiemodelle deckt.
 
 

2. Zu Knigge, seiner Zeit und ihren und seinen Ideen
 

Geboren am 10.Oktober 1752 als Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr von Knigge bei Hannover, war er zunächst bei Fürst Friedrich II. in Kassel im Dienst, dann 1777 als Kammerherr in Weimar, schließlich kam er als Oberhauptmann 1790 nach Bremen, wo er auch am 6.Mai 1796 nach langer Krankheit starb.

Sein Engagement als deutscher Jakobiner und bei den Freimaurern (1780 Eintritt in den Illuminatenorden) zeigen sein aufklärerisches Bestreben, seine rege literarische Produktion macht den Weg deutlich, den Knigge bei der Verwirklichung seiner Ideen einschlug, nicht die revolutionäre Agitation zum Zwecke eines gewaltsamen Umsturzes, sondern die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts mit der Absicht eines Bewußtwerdungseffektes beim Leser.

Die zeitgenössische und die folgende Aufnahme seiner Werke konnte sich natürlich kaum anfreunden mit solchen eher aufrührerischen Themen, die dem wachsenden vaterländischen Geiste nicht entsprachen.

Sie widersprachen zudem der klassischen Auffassung der Autonomie der Dichtung jenseits aller Wirkungszwecke und waren als littérature engagé so gar nicht mit den klassischen Werkzeugen der poésie pure zu fassen.

Aufklärerische Dichtung im weitesten Sinne war Zweckdichtung und stand notwendigerweise durch kritische Analyse zunächst in Opposition zur kirchlichen Dogmatik und schließlich auch zur weltlichen Macht der Fürsten.

Deutlich wird das auch an seinem zu unglücklichem Ruhm gekommenen Buch "Über den Umgang mit Menschen". Entgegen der reduzierenden Verfremdung durch die Kritik und die nachfolgende Zeit, werden dort Beispiele für die sittliche Vervollkommnung der Menschen angeführt, ein Moralkodex soll im Bürgertum etabliert werden, der Kritik und Wandlungsfähigkeit ermöglichen und herausfordern soll und gleichzeitig ein neues Selbstbewußtsein der bürgerlichen Klasse herausbilden wollte.(2)

Grundlage für Knigges schriftstellerische Forderungen auf politischen und gesellschaftlichem Gebiet war ein rationalistisch-kritisches Weltbild, das über den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, die weltliche Bestimmung des nun mündig gewordenen Individuums forderte und fördern wollte. Staat und Gesellschaft erschienen nun lediglich als rationale Organisationsformen der aufgeklärten Individuen und der Bewußtwerdungsprozeß des Einzelnen war gleichzeitig Ziel und Voraussetzung für Veränderungen, wobei die Art und Weise der Erreichung dieser Ziele gerade angesichts der Französischen Revolution hinterfragt und analysiert werden mußte.(3)

Begriffe wie Mensch, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Glückseligkeit oder Menschenrechte waren für die damalige Zeit programmatisch. "Sie bezeichneten die ideologische Position, von der aus das überlebte feudalabsolutistische System angegriffen wurde"(4).

Die Form des Angriffes mußte natürlich so gewählt werden, daß es Knigge weiterhin ermöglicht war, im Staatsdienst und unversehrt durch die Zensur zu bleiben. Satire

In unterschiedlicher Deutlichkeit und Radikalität der Aussagen und Forderungen, sowie durch den Rückgriff auf satirische und utopische Verfremdung, entstanden eine Reihe von Schriften, die die aufgedeckte und schwelende Problematik in die Köpfe der Leser bringen wollten. Die angebotenen Inhalte waren sehr unterschiedlich.(5)

Die für diesen Aufsatz relevante Literatur soll sich an politischen und gesellschaftlichen Realitäten orientieren, sie gliedert sich vornehmlich in die Gattungen Staatsroman, Fürstenspiegel und in abenteuerliche Reiseromane. Diese unterschieden sich durch die Adressaten, seien es die Fürsten selbst, Staatsbedienstete, die durch ihre Stellung und durch ihre aufgeklärte Vernunft in einen inneren Zwist zu kommen scheinen (6), oder die Bürger, die wachgerüttelt oder auch nur subtil auf Problemstellungen hingewiesen werden sollen.

Aufklärung tut also überall Not. Es scheint nicht mit einem aufgeklärten Fürsten getan zu sein, auch die Bürger und das ganze Volk sind, soweit sie dazu fähig sind, aufgerufen, sich daran zu beteiligen.

Nach Dietrich Naumann überschreitet Knigge in seinem "Zauberschloß" die Grenzen des Staatsromans dahingehend, daß "nicht nur der Fürst", sondern auch "der vornehme und reiche Mann"(7) zum Menschen hin gebildet werden soll. Und in bezug auf die Aufklärung von oben herab durch einen aufgeklärten Fürsten meint er: "Die moralische Läuterung [des Fürsten] ist abhängig von der politischen Reform, nicht umgekehrt"(8).

Für Knigge sind Revolutionen ein notwendiges Ereignis der Geschichte, wenn der Wille vieler mit dem Willen weniger kollidiert. Darin steckt kein offener Aufruf zur Meuterei, aber Naumann kann auch keine Distanzierung dahingehend finden, gibt jedoch zu bedenken, daß für Knigge wohl offensichtlich war, daß eine Revolution wie die Französische aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Umstände in Deutschland undenkbar war. Gleichwohl versucht Knigge im "Armen Herrn von Mildenberg" das in den Köpfen der Herrschenden entstandene Schreckensbild zu nutzen, um diese zu ermahnen, Reformen einzuführen um die angeprangerten Mißstände abzustellen.(9)

Einen Schritt über den Appell hinaus, wie vorhin schon angedeutet, geht Knigge in der "Geschichte der Aufklärung in Abyssinien". Naumann meint, dort "wird der reformistische Staatsroman parodiert und durch eine utopische Kontrafaktur ersetzt".(10)

Der Roman vermischt meines Erachtens dreierlei miteinander. Zum einen kann der ganze Roman als eine Art Reisebeschreibung gesehen werden, der unter Zugeständnis an die Idee des delectare teilweise abenteuerliche Schilderungen der fremden Länder bietet. Dazu kommen satirische Verfremdungen der europäisch-absolutistischen Verhältnisse(11), die dem gleichen Zwecke dienen, aber unter Berücksichtigung der Definition von Ivo Braak auch "verspotten, tadeln, höhnen, anprangern und lächerlich machen"(12) sollen.

Das utopische Moment ist zwar immer schon durch die Erfindung der fremden Staaten und Gesellschaftsstrukturen vorhanden, verstärkt sich aber gegen Ende des Romans, als eine fiktiv begonnene Aufklärung am Widerstand eines mangelhaft aufgeklärten Fürsten scheitert und schließlich in einer allgemeinen Revolution gipfelt, die einen homo novus hervorbringt, unvorbelastet und mit aufgeklärten Idealen versehen, der schließlich eine neue Staatsform nach demokratischem Verfassungsmodell entwirft.

Der gewaltsame Umsturz scheint aber nicht unausweichlich, sondern wird erst durch das Entsenden des Staatsheeres vollends entfesselt. Dies mag auch wieder eine Warnung an die deutschen Fürsten sein, nicht gewaltsam, die in Knigges Augen allein historisch-kausal bedingte, Aufregung des Volkes niederzuschlagen.

Naumann vermutet, daß die Veränderungen im Roman gewaltsam kommen mußten, um auf diese Art und Weise offenbar "die Unmöglichkeit von Aufklärung unter den Bedingungen des Absolutismus" zu zeigen.(13)
 
 
 

3. Der Verfassungsentwurf Knigges
 
 

"Sie wollen allgemeine Aufklärung der ganzen Welt? - Welch ein Widerspruch! Bei der ungeheuren Verschiedenheit der Organisationen, der Lagen, der Schicksale, der Leidenschaften, da verlangen Sie, daß alle Menschen nach einem einzigen weisen und redlichen Zwecke streben sollen? ... Sie wollen Menschen im Politischen befördern? Oh! zittern Sie vor den Folgen ... Sie wollen das Böse hindern? Wissen Sie auch immer, was böse ist? ... Sie wollen Aufklärung befördern? sehen Sie selbst ganz klar? Haben Sie auch genug abgewogen, welchen Grad von Aufklärung jeder Mensch vertragen kann? (14) Das Mißtrauen dieser Zeilen läßt erwarten, daß der neue Verfassungsentwurf einige Regulative enthalten muß, um eine große Masse von Menschen vor der neuen Freiheit auch zu schützen. Knigge traut nicht jedem gleich zu, mit der Vernunft und der bürgerlichen Freiheit adäquat umzugehen.

Er ist an anderer Stelle sogar bereit, religiöse Verblendung als ein Mittel der Kontrolle der Massen zu akzeptieren, da "der aufgeklärte Elende sein Elend

weit härter empfindet, als der unaufgeklärte"(15).

Betrachten wir nun etwas genauer den "Entwurf der neuen Staatsverfassung. Richtige allgemeine Begriffe von bürgerlicher Freyheit und Gesetzgebung", der in Kapitel siebzehn beginnt.
 
 
 
 

4. Direkter Vergleich zum Grundgesetz
 
 

Ich werde nun folgenden versuchen, die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes mit dem Verfassungsmodell Knigges systematisch zu vergleichen.(16)
 

Artikel 1: (Menschenwürde, Grundrechtbindung aller staatlichen Gewalt). "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht", Abs.3.

Es wird bei Knigge zwar nirgends von der Würde des Menschen gesprochen, doch legt Knigge zu Beginn seiner Ausführungen großen Wert auf die Glückseligkeit. Das Streben aller Menschen danach ist der Grund ihrer Gemeinschaftsbildung. Man kann also die Garantierung von Menschenwürde als ein Leitmotiv des Grundgesetzes und die Sicherung von Glückseligkeit für jeden durch Knigges Entwurf nebeneinanderstellen.

Durch das System der allgemeinen Wahlen scheint die bei Knigge immer wieder betonte Bindung aller an die Gesetze, garantiert zu sein. "Die Menschen im bürgerlichen Staate bringen diese Regeln der Geselligkeit und gegenseitigen Aufopferung in gewisse System, setzen, mit Übereinkunft aller, Vorschriften darüber fest, die man Gesetze nennet, nach welchen dann jeder Handeln muß, zu deren Befolgung man jeden zwingen kann, der im Staat geduldet werden will" (17)
 

Artikel 2: (Handlungsfreiheit, Freiheit der Person). "Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt...", Abs. 1.

Bei Knigge ist die Freiheit nicht Selbstzweck, sondern wird als Vorraussetzung für die Glückseligkeit gesehen, die der Bürger durch die Freiheit nach seiner Facon zu erreichen sucht. "Glückseligkeit ist Lebensgenuß, und um des Lebens genießen zu können, muß man frey sein. Lebt man aber in Verbindung mit anderen Menschen, so kann nicht jeder Einzelnen verlangen, Alles zu genießen ... er muß also seiner Freyheit gewisse Grenzen setzen"(18).
 

Artikel 3: (Gleichheit vor dem Gesetz).

Knigge will eine Bürgerschar, die sich durch nichts als durch ihre individuellen Eigenheiten, dazu gehört auch der Beruf oder das Amt eines Staatsbediensteten, unterscheiden soll. "Das Wort Rang wird bey uns gänzlich unbekannt werden"(19) und daß "Sklaverei und Leibeigenschaft von jetzt an auf immer in Abyssinien aufhören müssen, versteht sich von selbst"(20).

Zwar läßt Knigge in bezug auf die Religion jedem freie Wahl, was er denn glauben und wen er verehren möchte(21), aber auch dabei schlägt seine in der ganzen Verfassung leitende Idee von der Differenz der Handlung und dem Gedanken durch. Erst wenn die Freiheit in Form von Handlungen sich manifestiert, ist sie Gegenstand des öffentlichen, und damit auch des gesetzgeberischen Interesses.

Es lassen sich bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau vor dem Gesetz keine eindeutige Unterscheidung feststellen, wohl aber bei den von ihnen geforderten Pflichten. Männer müssen einer Arbeit nachgehen, um Geld zu verdienen und Mädchen als Gehilfinnen in privaten oder öffentlichen Haushaltungen eingesetzt werden, bis zu der Zeit, wo sie geheiratet werden sollen.(22) Überhaupt verfällt Knigge dabei in ein streng reglementiertes Rollenspiel.

"Die Mädchen in Abyssinien haben überhaupt keinen Antheil, weder an den Gütern der Väter, noch an ihrer baren Verlassenschaft, also überhaupt kein Vermögen".(23)
 

Artikel 4: (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit).

Es gelten die oben bezüglich der Religion gemachten Aussagen entsprechend, auch mit der Einschränkung auf die religiösen Handlungen. Was Absatz 3 des GG angeht, gibt Knigge einem Kriegsdienstverweigerer keine Möglichkeit, aufgrund religiöser Überzeugung, den Dienst im Militär auszulassen.
 

Artikel 5: (Meinungsfreiheit).

Hierzu äußert er sich recht deutlich: "Da die Gewalt der Gesetzgebung sich nur auf Handlungen erstreckt, so könne Gedanken und Meinungen gar nicht, offenbare Absichten sehr selten ein Gegenstand der Gesetzgebung sey", noch genauer: "... so dürfen also gesprochene und geschriebene Worte, von welcher Art sie auch immer seyn mögen, nie durch Gesetze eingeschränkt werden."(24)

Aber er fordert auch, daß "die Preß-Freyheit nicht gemißbraucht werde"(25) und legt dabei vor allem Wert darauf, "daß der Nahme des Schreibers nicht verschwiegen sey"(26).

Knigge fürchtet in seinem neuen Staat nicht die öffentliche Diskussion über alle denkbaren Themen, da er von seiner Lebensfähigkeit überzeugt ist, allerdings, und hier mag seine Erfahrung als Freimaurer mitspielen, wendet er sich gegen "jede geheime Machination, jede versteckte Meuterei, jede im finstern schleichende Wirksamkeit einzelner oder verbundener Menschen".(27)
 

Artikel 6: (Ehe und Familie, nichteheliche Kinder).

"Das erste und natürlichste Band unter den Menschen, ist das zwischen Mann und Weib".(28) Knigge trifft in folgenden eine Reihe von Vorkehrungen, die die Ehe vor allem aus bürgerlichen, nicht aus religiösen Gesichtspunkten hoch schätzen, und die auch nichteheliche Kinder mit anderen Kindern gleichstellen, deren Versorgung ist bei Tod der Eltern oder eines Elternteils durch den Staat garantiert. Ebenso ist eine Scheidung der Eltern möglich.

Die Volljährigkeit tritt mit zwanzig Jahren ein, wobei ab dem zehnten Lebensjahr eine Schulpflicht einsetzt, die ebenfalls unter genauer Überprüfung der Obrigkeit durchgesetzt wird.
 

Artikel 7: (Schulwesen)

"Es kann dem Staate nicht gleichgültig sein, wie die Kinder der Bürger im Physischen, Intellectuellen und Moralischen erzogen und gebildet werden".(29) Ähnlich wie in totalitären Systemen kommt auch in Knigges Idealstaat der Erziehung des Nachwuchses und damit einer indirekten, durch die späteren Generationen zu vollziehende, Rechtfertigung, eine große Rolle zu: die Kinder gehören dem Staat, und er wird und muß sie im Notfall versorgen.(30)

Doch erst ab dem zehnten Lebensjahr schaltet sich der Staat in die Erziehung ein und Knigge schränkt auch ein: "So ist es doch der Klugheit und Billigkeit gemäß, sich in das Erziehungs-Geschäft nur gerade soviel zu mischen, als zweckmäßig ist"(31). Doch es folgt ein detaillierter Lehrplan, der in öffentlichen Schulen nicht nur durch die Trennung der Geschlechter, sondern gerade durch die dadurch erreichte zielgerichtete und vorherbestimmende Ausbildung von Jungen und Mädchen, wenig an die Liberalität neuzeitlicher Schulwesen erinnert.
 

Artikel 8: (Versammlungsfreiheit)

Sie wird zwar nicht eindeutig verboten oder erlaubt, aber durch die Einschränkungen die bezüglich z.B. der Wirtshäuser gemacht werden(32), sind für ihn wohl nur Versammlungen tolerierbar, die ganz deutlich dem Staate in irgendeiner Weise dienen sollen, wie das einmal im Jahr auszurichtende Volksfest.
 

Artikel 9: (Vereinigungsfreiheit)

Hierzu scheint mir nur das Verbot der Zünfte passend.(33)
 

Artikel 12: (Berufsfreiheit, Verbot der Zwangsarbeit)

Die Wahl des Berufes ist freigestellt, doch soll er dem Gemeinwohl und nicht der eigenen Bereicherung dienen(34). Mit fünfzehn Jahren allerdings, soll diese Wahl schon getroffen werden, eine spätere Änderung ist zwar möglich, muß aber angezeigt und erlaubt werden. Zum Verbot der Zwangsarbeit vgl. Art.3.

Artikel 12a: (Wehr- und Dienstpflicht)

Von der Friedlichkeit und Zufriedenheit seiner Bürger überzeugt, ist nur ein Defensivkrieg vorgesehen.(35) Es gibt eine allgemeine Wehrpflicht ab dem zwanzigsten Lebensjahr, jeder muß drei Jahre lang als Soldat auch in Friedenszeiten dienen, wobei die Armee auch Aufgaben im Straßenbau und anderen öffentlichen Anliegen übernimmt.(36) Die Einberufungszeit zum Kriegsdienst endet mit 60 Jahren.
 

Artikel 14: (Eigentum, Erbrecht, Enteignung)

Es gibt ein stark eingeschränktes Erbrecht, denn es erscheint Knigges "doch wohl höchst widersinnig und ungerecht"(37), wenn sich ein Sohn mit den Geldern seines Vaters in einen Wohlstand setzt, den er eventuell aufgrund seiner Faulheit so nie erreichen würde. Hier spricht sein Sinn für soziale Gerechtigkeit und damit möchte er wohl die Entstehung von sozialen Ungerechtigkeiten verhindern.

Eine Reihe von wichtigen Betrieben und Einrichtungen unterstehen direkt dem Staat und dürfen nicht privat betrieben werden.

Der Staat soll dafür sorgen, daß jede Familie wenn möglich ein Stück Land und das dazugehörende Instrumentarium erhält, um sich selbst zu versorgen. Stirbt eine Familie aus, so fällt der Besitz an den Staat, Verwandte sind nicht erbberechtigt. Das Vermögen kann frei verschenkt werden, nach dem Tode des Vaters (!) fällt ein zehntel an den Staat, der Rest wird unter den Söhnen (!) aufgeteilt.
 

Artikel 16: (Staatsangehörigkeit, Auslieferung, Asylrecht).

Als Abyssinier wird man geboren. Die Aufnahme fremder Staatsangehöriger ist nicht vorgesehen(38), die Auswanderung steht jedem jederzeit offen(39).
 

Artikel 17: (Petitionsrecht).

Jeder Bürger hat die Möglichkeit über alle Gesetzesbelange entweder bei den einzurichtenden Audienzen beim "König" oder bei den dafür zuständigen öffentlichen Stellen, seine Meinung und Verbesserungen einzureichen(40).
 
 
 

5. Zusammenfassung
 
 

Knigges Bemühen, einen Staat zu entwerfen, der die Schwächen und Angriffspunkte der bis dahin bekannten absolutistisch geführten Systeme nicht mehr aufweist, wurde in seinem utopischen Entwurf noch bereichert durch eine ideologische Verfeinerung hin zu der Idee eines Sozialstaats(41), der den Bürgern Freiheiten offenbart und gleichzeitig dafür auch Forderungen eintreibt, die durch die Plastizität der Verfassung allen zugute kommen und deshalb von allen mehr oder weniger freiwillig erbracht werden sollen.

Stark fallen die Antipole zu bestehenden Verhältnissen auf. Deutlich wird das am quasi verbotenen Angriffskrieg zum Zwecke der Vergrößerung von Macht und Vermögen, auch der Freiheit der Meinungsäußerung, was die Belange der Staatsführung angeht.

Beeinflußt wohl durch die amerikanische Verfassung entwirft er ein - "nennt ihn König, oder wie Ihr wollt"(42) - Staatsoberhaupt, das von allen frei gewählt werden soll und eine begrenzte Amtsdauer hat. Bei der Amtsmacht dieser Person muß Knigge zweierlei beachten: Er muß die Zügel straff in der Hand haben(43), denn das Mißtrauen, ein Volk kurzfristig durch eine Revolution wie in Abyssinien oder in Frankreich nun plötzlich als aufgeklärt zu halten und sich selbst zu überlassen, wird bei Knigge auch deutlich, andererseits darf das Amt aber auch nicht zu sehr die Gefahr eines diktatorischen Sprungbretts bieten.

Liberal ist Knigges Demokratieentwurf meist nur in den Punkten, in denen seine Zeit schlechte Vorbilder lieferte. Es gibt bei ihm allgemeines Wahlrecht, die Kontrolle aller staatlichen Macht, auch des Oberhaupts, soziale Absicherungen, die Verantwortung aller für alle, Abschaffung ungerechtfertigter Unterschiede, Arbeit als entscheidende Größe für Wohlstand, sowie ansatzweise durch die Pflicht auch ein Recht auf Arbeit.

Schwachpunkte sind aus heutiger und aus Sicht des Grundgesetzes die Ungleichbehandlung von Mann und Frau, die Einschränkungen der persönlichen Entfaltung in beruflicher Hinsicht und allgemein das Vorhandensein eines stark reglementierenden, stets übermächtigen Staatsapparats.

Die Problematik und die Erfahrungen die wir mit solchen Systemen heute gemacht haben, sind sicher nicht für Knigge relevant, denn es ging ihm zuvörderst um die Verwirklichung der Idee der Selbstbestimmung und um Aufbegehren gegen überkommene Machtstrukturen, die sich immer wieder selbst wiedergeboren haben. Ein Entwurf, der für seine Zeit sicherlich zu weit entfernt von der Vorstellungswelt derer war, für den er bestimmt war.
 
 



 

Fußnoten
 

1 Man solle sich durchaus nicht scheuen, den Großen, d.h. den Machthabern, zu sagen, "daß sie, was sie sind und was sie haben, nur durch die Übereinkunft des Volkes sind und haben.", und im Glauben an die aufklärerische Zeit stellt er fest, "daß in diesen Zeiten der Aufklärung bald kein Mensch mehr daran glauben wird, daß ein Einzelner, vielleicht der Schwächste der ganzen Nation, ein angeerbtes Recht haben könnte, hunderttausend weisern und bessern Menschen das Fell über die Ohren zu ziehen".
Zitiert aus: "Über den Umgang ...", S.67
2 "Die Parallele zum Humanitätsideal in der Literatur der deutschen Klassik ist unverkennbar",
Voegt, S.7
3 "Es handelt sich hier um das alle progressiven Schriftsteller dieser Zeit vereinigende Bemühen um Herausbildung einer öffentlichen Meinung, die Ausdruck bürgerlicher Mündigkeit und Geschlossenheit sein soll" aus einem Nachwort von Gerhard Steiner zu "Joseph Wurmbrand...", S. 136
4 Voegt, S.7
5 Von fiktiven Traumwelten und Robinsonaden, seltsam fernen Ländern und anderen Planeten reichte die Palette der Reaktionen über religiös inspirierte Garten-Eden-Vorstellungen bis zu politisch und humanistisch getragenen Entführungen und Ermahnungen.
6 Etwa wie in Knigges "Das Zauberschloß, oder Geschichte des Grafen Tunger"
7 Naumann, S.235
8 Naumann, S.235
Die Problematik und Gefahren, einen Fürsten als Hoffnungsträger einzusetzen, werden in der "Geschichte der Aufklärung in Abyssinien" schließlich deutlich gemacht. Somit kann das im Roman geschilderte Scheitern der aufklärerischen Ansätze durch die, von Luxus und Machtgier hervorgerufene, Wandlung des jungen Prinzen, als endgültige Absage Knigges an eine Aufklärung von oben verstanden werden.
9 Vgl. dazu Naumann, S.239
10 Naumann, S.240
11 Hier sind zum einen Parallelen im Habitus der angrenzenden Länder zu deutschen Staaten und deren Fürsten erkennbar, außerdem wird das Benehmen der Stadt Goßlar angeprangert, vor allem aber die Beschreibung der Reise des jungen Prinzen nach Deutschland zeigt deutlich tadelnswerte Charakterzüge deutscher Fürsten und prangert diese an.
12 Braak, S.209
13 Naumann, S.241
Weiter vermutet Naumann, daß Knigge durch Rekurs auf geschichtsphilosophische und naturrechtliche Begründungen, die Zwangsläufigkeit auch der Französischen Revolution verdeutlichen und sie somit rechtfertigen will. Ebd., S.244
14 Knigge, "Peter Clausen ...", S.161ff
15 Naumann, S.237
16 Es wird darauf verzichtet, die zitierten Passagen im Grundgesetz erneut mit Seitenangaben zu ergänzen. Sie finden sich in der zitierten Ausgabe auf den Seiten 22ff.
17 Knigge, "Noldmann..", S.173. Vgl. auch: "Wundert Euch nicht! meine lieben Mitbürger, wenn ich dem König so wenig willkürlich Macht einräume, ... Ihr habt es hier gesehen, welche schrecklichen Dinge der Despotismus anrichten kann"., S.188
18 Ebd., S.171
19 Ebd., S.193
20 Ebd., S.198
21 "Die Religion kann eigentlich gar kein Gegenstand der Gesetzgebung seyn.", Ebd., S.237
22 Ebd., S.213
23 Ebd., S.225
24 Ebd., S.181
25 Ebd., S.258
26 Ebd., S.258
27 Ebd., S.181
28 Ebd., S.199
29 Ebd., S.205
30 Ebd., S.218
31 Ebd., S.206
32 Vgl. S.259
33 Ebd., S.234
34 Ebd.: "Eine bloß verzehrende Klasse kennen wir nicht", S.252
35 Ebd.: "Wir könne nie in den Fall kommen, einen offensiven Krieg zu führen", S.260
36 Vgl. ebd., S.260ff
37 Ebd., S.216
38 Vgl. dazu ebd., S.257ff die Ausführungen über die reglementierte Ein- und Durchreise von Ausländern, mit dem Hintergedanken, die eigene Kultur nicht verwässern zu wollen.
39 Ebd., S.176
40 Ebd., S.179
41 Man denke an die Erziehung und an die Versorgung der Familien, sowie die Waisen- und Armenhäuser.
42 Ebd., S.184
43 Vgl. dazu ebd., S.183 den Vergleich des Oberhaupts mit der Haupttriebfeder einer Maschine