Touristische Realitäten

Anwendungsmöglichkeiten des ethnomethodologischen Ansatzes zur Erklärung touristischer Phänomene

von Joachim Allgaier

 

Gliederung:

1. Soziologie und Tourismus

2. Eine kurze Einführung in die Ethnomethodologie

3. Fünf Merkmale der Realität

3.1 Realität als reflexive Aktivität

3.2 Realität als kohärenter Wissensvorrat

3.3 Realität als interaktive Aktivität

3.4 Die Fragilität von Realität

3.5 Die Permeabilität von Realität

4. Schlußfolgerungen

 

  

 

1. Soziologie und Tourismus

"Tourismus ist wie Gift - an einer Überdosis stirbt man", so Momodu Cham, Chef der Marketingabteilung im Tourismusministerium von Gambia (zitiert nach Hammelehle 1990a).

In der Tat haben viele Formen von Tourismus weitreichende psychologische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und vor allem ökologische Auswirkungen. Kritik an jeder Form von Tourismus gibt es zuhauf. Jürgen Hammelehe (1990a) kritisiert beispielsweise den Ferntourismus in Entwicklungländer, für ihn drängt sich bei näherer Betrachtung der Touristikinfrastruktur der Vergleich mit der Kolonialzeit auf, da nötige Infrastruktureinrichtungen für Touristen errichtet werden, die einheimische Bevölkerung von diesen aber nur marginal profitiert oder sogar gänzlich ausgenommen ist.

Tourismus und Reisemöglichkeiten präsentieren sich oft als Flucht aus dem grauen Alltag in eine bessere Welt. Fraglich ist hierbei, ob nicht vielleicht die heimischen Lebensbedingungen so weit verbessert werden könnten, daß eine "Flucht" gar nicht mehr als nötig erscheint. Das Geschäft mit dem Urlaub und dem Verreisen ist seit langem zu einer einträglichen und weltweit vernetzten Tourismusindustrie gewachsen. Dazu Hans Magnus Enzensberger (1958), der als einer der ersten den Versuch unternommen hat, eine Theorie des Tourismus zu etablieren: "Längst hatte sich inzwischen der Sieg des Tourismus als Pyrrhussieg erwiesen, längst war das Fernweh nach der Freiheit von der Gesellschaft, vor der es floh, in ihre Zucht genommen worden. Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden."

Ökologisch problematisch ist Tourismus in Regionen, in denen Ressourcenknappheit herrscht, die Reiseanbieter den Touristen aber trotzdem einen hohen Lebens-standard anbieten wollen; dazu gehören beispielsweise Swimmingpools in wasser-armen Regionen und intensive Bewässerung für Zierpflanzen (zu ökologischen Dimension von Tourismus siehe Opaschowski 1991). Aus der Ökologie-Bewegung kommt hierzu die Idee, Massentourismus durch einen ökologieorientierten und sozialverträglichen Tourismus, den sogenannten "sanften Tourismus" abzulösen (siehe hierzu T. Kirstens 1995). Als Vater dieses Begriffs gilt der Zukunftsforscher Robert Jungk, der sich wegen dem vielfältigen Mißbrauch dieses Begriffs über diese Kennzeichnung längst nicht mehr nur freut (vgl. hierzu Robert Jungk 1990).

Michael Has (1990) sieht in sogenannten Solidaritätsreisen die Chance Schattenseiten poltischer Situationen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, so wie etwa die Exilregierung des Dalai Lama Reisen nach Tibet begrüßt, oder die Cordilliere Peoples Alliance (CPA) auf der Insel Luzon versucht, in Veranstaltungen und Seminaren, Reisende für die politische Lage der Minderheiten im Norden der Philippinen zu sensibilisieren.

Innerhalb der Soziologie liegt noch keine fest etablierte, institutionalisierte Teildisziplin einer Tourismussoziologie vor. Aufgabe einer Tourismussoziologie wird es sein, gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungen, Ursachen, Funktionen und Folgen des Tourismus zu beschreiben und zu erklären. Zur Verfügung steht ihr dazu das Instrumentarium der qualitativen und quantitativen Sozialforschung. Da dem facettenreichen Phänomen Tourismus nicht mit einer einzelnen Wissenschafts-disziplin beizukommen sein wird, empfiehlt es sich interdiszilinäre Forschungs-ansätze zu verfolgen (Vester 1993a; Opaschowski 1993).

In dieser Arbeit soll es darum gehen, sich dem Phänomen des Tourismus, dem Auszug aus der Alltagswelt, über den soziologischen Ansatz der Ethnomethodologie, einer Soziologie alltäglicher Situationen, anzunähern.

 

2. Eine kurze Einführung in die Ethnomethodologie

Im Mittelpunkt der Ethnomethodologie steht die Frage, wie das Handeln im Alltag funktioniert. Die Ethnomethodologie ist eine soziologische Mikrotheorie, die auch scheinbar triviale Alltagsphänomene genaustens unter die Lupe nimmt. John Heritage, der sich ausführlich mit Garfinkels Ansatz beschäftigt hat, prägte für diese Perspektive eine treffende Formulierung: Garfinkel habe mit der Ethnomethodologie das soziologische Äquivalent zum Mikroskop gefunden ( Heritage, 1984: 311, zitiert nach Treibel 1997). Begründer der Ethnomethodologie ist Harod Garfinkel, der 1917 in Newark, New Jersey geboren wurde und Schüler von Alfred Schütz war. Seine Theorie hat ihre Wurzeln in der Phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz und im Symbolischen Interaktionismus. Eine verständliche Definition liefert Georges Psathas (1969: S. 270, zitiert nach Abels 1998):

"Das Interesse des Ethnomethodologen richtet sich darauf die Methoden zu entdecken, die Menschen in ihrem Alltagsleben in der Gesellschaft einsetzen, um soziale Wirklichkeiten zu bestimmen, die Menschen konstruieren und konstruiert haben."

Der Begriff Ethnomethodologie ist von Garfinkel in bewußter Anlehnung an die Ethnowissenschaften verwendet worden. Er benutzt ihn, um zu zeigen daß er sich über diesen Ansatz seiner eigenen Gesellschaft wie einer fremden Kultur wertfrei annähert, und selbst alltäglichste Phänomene als unerforscht vorraussetzt. Für die Ethnomethodologie ist nicht interessant, warum Menschen bestimmte Handlungen durchführen, sondern wie. Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Ethnomethodologie versteht sich als Vollzugswirklichkeit, eine Wirklichkeit also, die in den Interaktionen von Beteiligten erzeugt wird. Der Vollzug der Wirklichkeit läuft lokal, d. h. vor Ort, im Ablauf des Handelns, und endogen, d. h. in und aus der Handlungssituation, ab. Die Ethnomethodologie behandelt gesellschaftliche Tatbestände nicht als von den Akteuren unabhängige Gegebenheiten, die diesen als objektive soziale Ordnung entgegentreten. Objektivität und Dinghaftigkeit sozialer Tatbestände werden als praktische Leistungen der Gesellschaftsmitglieder angesehen, wobei der Prozeßcharakter dieser Leistung betont wird. Die Ethnomethodologie Harold Garfinkels (der bei T. Parsons promoviert hat) macht insbesondere der Struktur-Funktionalistischen Theorie den Vorwurf, Gesellschaftsmitglieder als bloße "Reaktionsdeppen" (judgemental dopes) zu behandeln, die instutionalisierten Direktiven der Kultur blindlings folgen.

Das Individuum in der Ethnomethodologie steht unter fortwährenden Entscheidungsdruck aus mehreren Handlungsalternativen eine auszuwählen, die Frage die sich ihm dabei laufend stellt lautet "What to do next?".

Eine zentrale Rolle spielt der Begriff der Reflexivität: Unter Reflexivität versteht man den Prozeß, durch den der systemgeordnete Charakter des interaktiven Alltagshandelns dargestellt wird. Ethnomethodologen nutzen bei ihren Rekonstruktionen den Umstand, daß die Gesellschaftsmitglieder im Vollzug ihres Handels praktische Beschreibungen und Erklärungen der betreffenden Handlungszusammenhänge gleich mitliefern. Garfinkel spricht davon, daß die Methoden, mit denen die Gesellschaftsmitglieder Situationen organisierten Alltagshandelns herstellen, mit jenen Verfahren identisch sind, welche sie verwenden, um diese Situation darstellbar und nachvollziehbar (accountable) zu machen ( Beispiele für reflexive Aktivität siehe 3.1.).

Ein weiterer zentraler Begriff stellt das Konzept der Indexikalität dar: Alle Arten von Äußerungen und Handlungen enthalten Hinweise (Indices) auf die jeweiligen situativen und kontextuellen Gegebenheiten. Die Bedeutung sprachlicher wie die nicht-sprachlicher Ausdrücke ist ohne Ausnahme an die situativen Umstände ihres Gebrauchs gebunden. Versuche einer Dekontextualisierung, d. h. der Ersetzung indexikaler durch objektiver Ausdrücke, verfehlen aus der Sicht von Ethnomethodologen die Ebene der jeweiligen Bedeutung und führen zu einer fruchtlosen Kontrastierung alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Beschreibungen.

Die grundlegende Methode zur Analyse der Alltagsinteraktionen ist die dokumentarische Methode der Interpretation, deren Begriff Garfinkel von Karl Mannheim übernommen hat. Dabei geht es um die Suche nach einem Muster, für das ein Phänomen typisches Beispiel ist. Die dokumentarische Methode besteht dabei "im wesentlichen in der rückschauend-vorausschauenden Auslegung je gegen wärtiger Vorkommnisse" (Garfinkel 1961: S.209, zitiert nach Abels 1998). Rückschau heißt dabei der Blick auf ähnliche Erfahrungen, die sich zu einem Schema der Erwartungen verdichtet haben. Vorausschau heißt die Erwartung einer Handlung, die angesichts der vorliegenden Bedingungen logischerweise eintreten wird. Sowohl in der Rückschau als auch in der Vorausschau sind Konstruktionen im Spiel. Indem die Dinge interpretiert werden, werden sie vertrauten Muster zugeordnet.

Die Funktionsweise der interpretativen Prozeduren hat Garfinkel in den sogenannten Krisenexperimenten dadurch demonstriert, daß er künstlich ihren Einsatz erschwerte, was zu krisenhaften Desorganisationserscheinungen innerhalb der Handlungs-situationen führte (siehe hierzu 3.4). Diese Experimente veranschaulichen die Wichtigkeit von Vertrauen in die Stabilität sozialer Strukturen für den reibungslosen Ablauf sozialen Handelns und Verstehens.

Außerdem erlangte Garfinkels Studie über die Transsexuelle Agnes weiten Bekanntheitsgrad. In dieser Studie wird die fundamentale Struktur der Geschlechtlichkeit anhand einer detaillierten Fallstudie, in deren Mittelpunkt die Tansexuelle Agnes steht, analysiert. Hierin beschreibt Garfinkel Geschlechtlichkeit als soziale Konstruktion und anstrengende "Selbstdarstellungsarbeit" (vgl. Treibel 1997: 136f).

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt der Ethnomethodologie stellen Konversationsanalysen dar, die sich mit der sozialen Organisation von sprachlichen Interaktionen beschäftigen. Durch diese Konversationsanalysen konnte auch bei Gesprächen eine stets interaktiv hergestellte Geordnetheit nachgewiesen werden.

Auch sogenannte "studies of work", die sich mit berufsspezifischen Handlungpraktiken und deren wesenhaften Eigentümlichkeiten beschäftigen, wurden von ethnomethodologischen Forschern veröffentlicht.

Die Ethnomethodologie zeichnet sich dadurch aus, daß sie eine Soziologie einzelner Situationen betreibt, in der der Einzelfall als Einzelfall betrachtet wird.

 

  

3. Fünf Merkmale der Realität

Die beiden Ethnomethodologen Hugh Mehan und Houston Wood gehen in ihrem Buch "The Reality of Ethnomethodology" von 1975 besonders auf die Wahrnehmung und Bildung von unterschiedlichen Realitäten ein. Ihrer Meinung nach lassen sich bei den jeweiligen Realitäten fünf Merkmale feststellen, auf die ich nun näher eingehen werde. Diese fünf Merkmale sind:

  1. Realität als reflexive Aktivität,
  2. Realität als kohärenter Wissenvorrat,
  3. Realität als interaktive Aktivität,
  4. die Fragilität von Realität und
  5. die Permeabiltät von Realität.

Diese fünf Merkmale sind untereinander verwoben und kaum eindeutig von einander zu trennen, denn meist kommen unter bestimmten Gesichtspunkten und bei konkreten Beispielen mehrere dieser Merkmale auf einmal zu tragen. Trotzdem werde ich versuchen auf jedes dieser Merkmale gesondert einzugehen und Beispiele dafür, speziell aus dem Themenbereich des Tourismus, zu finden.

3.1 Realität als reflexive Aktivität

Hinter unserer eigenen Realität steht ein Apparat von Hilfsmechanismen und Hilfkonstruktionen, die unsere Realität auch trotz entgegengesetzter Erklärungen als wahr und als die einzig richtige erscheinen lassen. Der Mechanismus, der unsere individuelle Realität validiert und bestätigt kann als reflexive Aktivität verstanden werden.

Mehan und Wood illustrieren dies am Beispiel eines Orakels des Afrikanischen Stammes der Azande: Bei wichtigen Entscheidungen befragen die Azande ein Orakel, beispielsweise bei der Frage wen man heiraten soll oder wo Häuser gebaut werden sollen. Der Ablauf des Rituals ist folgender: Zuerst wird bei einem Ritual aus der Rinde eines bestimmten Baumes eine Substanz gewonnen, dann werden Fragen so gestellt, daß nur eine simple Ja oder Nein Antwort möglich ist, die Substanz wird dann an ein Küken verfüttert. Schon vor Ablauf des Rituals wird entschieden, ob der Tod des Kükens eine negative oder positive Antwort bedeutet, so kommen die Azande immer zu einer befriedigenden Antwort. Für besonders zentrale Entscheidungen wird nun ein weiterer Schritt hinzugefügt: Die Substanz wird nun an ein zweites Küken verfüttert, die gleiche Frage wird gestellt, nur diesesmal ist die Antwort genau entgegengesetzt zu der Antwort beim ersten Küken, d.h. war beim ersten Küken die Anwort Ja und wurde die durch das Überleben des Kükens angezeigt, muß das zweite Küken nun sterben um die Antwort zu bestätigen.

Vom westlichen Standpunkt aus gesehen ist es offensichtlich, daß die Rinde des Baums eine giftige Substanz enthält, die manche Küken tötet, andere nicht. Für die Azande spielt das Wissen um die Giftigkeit der Rinde keine Rolle denn für sie ist die Rinde nur eine Ausdrucksform des Orakels, es ist jedoch das Orakel das entscheidet ob ein Küken zu sterben hat und wie deshalb die Antwort auf die gestellte Frage lautet. Was geschieht nun aber, wenn die Antworten des Orakels inkonstistent oder gar widersprüchlich sind?

Für die Azande gibt es keine widerspruchlichen Antworten des Orakels, sie glauben an das Orakel und daran, daß es weiß was es tut. Was als Widerspruch erscheint, wird durch einen breiten Vorrat an nachträglichen Hilfskonstruktionen erklärt, so daß beispielsweise Geister, Hexen oder ein sonstiger Zauber interveniert haben. Die Realität des Orakels ist eine, an der es nichts zu rütteln gibt, sonst würde das ganze Glaubenssystem der Azande über den Haufen geworfen. Mehan und Wood zeigen, daß der unerschütterliche Glaube an das Orakel dazu führt, daß selbst Hinweise, die gegen das Orakel sprechen reflexiv dazu benutzt werden die Existenz des Orakel zu bestätigen.

Reflexivität ist eines der zentralen und entscheidenden Konzepte in der Ethnomethodologie. Gespräche etwa sind reflexiv, da die Situation des Gesprächs immer wieder neu definiert, bewertet und bestätigt wird. Auch in unserem Leben und Alltag finden ständig Reflexionen statt. Bei einem einfachen Grußritual, wie bei einem beiläufigen Hallo ist schon eine Situationsdefinition vorhanden: man kennt sich zumindest oberflächlich, man sieht sich zumindest gelegentlich und es wird normalerweise erwartet, daß eine Geste oder ein Wort der Erwiederung zurückgegeben wird. Läuft die gegrüßte Person mit finsterem Blick und ohne den Gruß zu erwiedern an einem vorbei, hat man auch schon ein paar Hilfs-konstruktionen, die die Situation erklären, zur Hand: "Der betreffenden Person ist heute wahrscheinlich schon eine Laus über die Leber gelaufen" oder "Er oder sie hat mich nicht gesehen ", "Vielleicht habe ich mich getäuscht und es war gar nicht der, den ich gemeint habe" ...

Auch beim Themenbereich Tourismus gibt es unzählige Beispiele für reflexive Aktivitäten:

Konstruieren wir folgenden Fall: Ein Paar bucht eine Pauschalreise in die Türkei. Person A denkt, daß alles im Urlaubsort original und authentisch sei, Person B ist skeptisch und glaubt, daß es sich bei der gesamten Umgebung um, für Touristen hergerichtete, Szenarien handelt. Im Lauf ihres Urlaubs besuchen die beiden eine Folklore-Darbietung einheimischer Tänzerinnen und Tänzer in der lokalen Tracht. Für Person A ist diese Darbietung Bestätigung, daß hier alles so echt ist wie es sein sollte, für sie die Darbietung Bestätigung für die Authentizität des Urlaubsortes. Für die skeptische Person B ist dieselbe Darbietung Ausdruck dafür, daß der Ort für Touristen hergerichtet und manipuliert wurde. Die Darbietung bestätiget ihre These daß es sich bei der Darbietung um eine Inszenierung für Pauschaltouristen nach dem Gutdünken der Reiseveranstalter handelt. Nach der Aufführung begegnet das Paar einige Tage später einem der Tänzer auf einem Markt . Dieser ist nicht in der lokalen Tracht gekleidet, sondern trägt Jeans und T-Shirt wie die Touristen auch. Für die skeptische Person B der endgültige Beweis, daß der Folklore-Aufzug nur eine Show für Touristen war, im wirklichen Leben tragen die Tänzer keine Trachten. Person A hält jedoch an ihrem Bild der Wirklichkeit fest: Sie behauptet, daß der junge Einheimische vielleicht viel mit Touristen zu tun hätte, vielleicht sogar Reiseleiter sei und deshalb gezwungen sei, die gleiche Kleidung wie die Touristen zu tragen weil die Leute hier ja so freundlich sind und wollten daß sich die Gäste wohlfühlen. An diesem Beispiel möchte ich aufzeigen wie eine Person A über eine reflexive Aktivität und Hilfkonstruktionen ihre Darstellungen der Realität, gegenüber der widersprechenden Version der Realität einer Person B, aufrechtzuerhalten versucht und vice versa.

Das Problem der Authentizität ist aus ethnomethodologischer Sicht grundsätzlich ein Reflexitätsproblem; gelingt es bei Touristen ein Gefühl von Authentizität zu erzeugen, ist es möglich, daß dieses Authentizitätsgefühl über reflexive Aktivität und Hilfskonstruktionen beibehalten wird. Hat der Tourist vorab aber schon das Gefühl, daß bei dem Ort oder den folkloristischen Darbietungen die er besucht, die Echtheit nicht gegeben nicht, ist die Chance bei ihm ein Gefühl der Authentizität zu erwecken als sehr gering einzuschätzen (zum Begriff der Authentizität siehe Vester 1993b).

Reflexive Aktivität kann auch zu Problemen während einer Reise führen, wenn verschiede Personen völlig verschiedene Vorstellungen über die Reise haben. Problematisch könnte beispielsweise ein Urlaub mit Kindern sein; die Eltern wollen sich erholen, die Kinder wollen etwas erleben, das Hotel ist doch nicht so kinderfreundlich wie es sich die Eltern erhofft hatten und darum müssen sich die Eltern nun doch eher um die Kinder, anstatt um sich selbst kümmern. Wenn es dann noch schlechtes Wetter gibt, und die Eltern ein Drittes-Bett-Angebot angenommen haben, und deshalb die nächste Zeit auf engstem Raum zusammen verbringen werden müssen, ist eine Urlaubskrise vorprogrammiert.

Vielleicht dachte der Kabarettist Dieter Hildebrandt an eine Situation wie diese, als er meinte: "Urlaub ist die Fortsetzung des Familienlebens unter erschwerten Bedingungen."

Wenn mehrere Personen mit unterschiedlichen Vorstellungen über den Urlaub zusammen eine Reise antreten, und die verschieden Vorstellungen vor der Reise nie zur Sprache gebracht wurden, werden die Reiseteilnehmer spätestens beim Verfolgen ihrer Interessen bemerken, daß es Probleme gibt. Einer möchte einen Gesundheitsurlaub machen, das Rauchen aufhören und mindestens 4 Kilo abnehmen, ein anderer möchte einen Fun- und Erlebnisurlaub mit ausgiebigen Parties bis spät in die Nacht, gutem Essen und viel Alkohol, wieder ein anderer will einen Kultururlaub mit Museumsbesuchen und Theaterauführungen. Bei der Reflexion wird die bisherige Situation, der Glaube, daß alle die gleichen Interessen haben und es deshalb ein toller gemeinsamer Urlaub wird, auch nicht über Hilfskonstruktionen aufrechtzuerhalten sein, es kommt entweder zum Bruch zwischen den Reisenden, oder sie schaffen es Kompromisse einzugehen, bei denen jeder seine Interessen zurückzustecken hat. Ebenso problematische Konstellationen werden beispielsweise auftreten, wenn ein Paar eine(n) gemeinsame(n) Freund(in) mit auf eine Reise nimmt und bei Alleinreisenden, die entweder überhaupt keinen Anschluß finden, obwohl sie das gerne wollen, oder sich vor zudringlichen Menschen kaum retten können.

Touristen unterscheiden sich in ihrer Art des Reisen und des Urlaub machens ebenso wie in ihren Motiven die heimische Umgebung zu verlassen und haben verschiedene Vorstellungen, Interessen und Meinungen bezüglich des Reisens. Die meisten ordnen sich deshalb einer bestimmten (in ihren Augen natürlich postiven) Strömung, Richtung oder Gruppe von Touristen zu. In reflexiver Aktivität bestätigen sich die Gruppenmitglieder gegenseitig die Zugehörigkeit zur Gruppe, die Vorstellung daß ihre Art zu reisen die einzig "richtige" ist und die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen.

Zum einen gibt es die Individualreisenden, meist junge Leute, die sich "Traveller", "Reisende", "Globetrotter" oder "Backpackers" nennen. Dieser Gruppe ist alternatives, selbstorganisiertes, billiges Reisen wichtig. Die Reiseliteratur die der Buchmarkt für diese Gruppe anbietet, bestätigt ihre Vorstellung vom alternativen Reisen; die konservativ anmutende Bezeichnung des Reiseführers wurde durch Bezeichnungen wie "Individualreisebuch", "Travellerhandbuch" oder wie die unter Rucksackreisendensehr beliebte Reihe des "Rough Guide" ersetzt. Traveller steigen auch nicht in Hotels, sondern in Traveller-Hostels und Backpackers ab, wo sie nur ihresgleichen zu treffen wünschen. Auch in Geprächen unter Travellern und in den Besuchsbüchern, die in den Guesthouses ausliegen, werden Tips mit Formulierungen wie "da gibt es noch keine Touristen", "da gibt es einen Strand an den nur Einheimische gehen..." oder "dort ist es sehr schön und es gibt bis jetzt auch nur Traveller dort..." etc. weitergegeben. Oft fühlen sich "die Alternativen" als die besseren Touristen, weil sie aufgebrochen sind, um andere Kulturen kennenzulernen und davon zu lernen, und nicht wie die anderen "normalen" Touristen nur auf Erholung aus sind. Sie gehen, wie alle anderen Gruppen, davon aus, daß ihre Art zu reisen die einzig richtige ist, und da sie nicht so sind wie die anderen, sind sie überall willkommen. Daß dieses Selbstbild keinesfalls nur bestätigt werden kann zeigt Jürgen Hämmelehe (1990b) an den Folgen des Alternativtourismus in Goa in Indien. Dort führte die von Alternativtouristen losgetretene Reisewelle nach Goa dazu, daß beispielsweise Mädchen aus Goa von indischen Touristen belästigt werden, weil sie für genauso freizügig wie die Traveller gehalten werden. Letztendlich wurden Touristen in der Wintersaison 87/88 mit Kuhmist und faulem Fisch auf den Windschutzscheiben der Busse empfangen und auf Flugblättern in deutscher und englischer Sprache darauf aufmerksam gemacht, daß sie nicht willkommen sind und Goa nicht mehr als Tourist besuchen sollen.

Auch andere Gruppen wie z. B. die selbsternannten Studien- oder Kulturreisenden bestätigen sich in ständiger reflexiver Aktivität, daß sie ja doch besondere Reisende sind, in diesem Fall benutzt man statt einem ordinären Reiseführer einen Kulturführer.

( Einen interessante Entwicklung hierzu zeigt sich bei Iwanowski’s Reiseverlag: Dort wirbt die neue Reisegast-Reihe mit folgendem Slogan: "Die Reisegast-Reihe ist unerläßlicher Begleiter für alle, die auf Ihren Reisen Kontakt mit den Menschen des Landes schließen wollen. Mit einer Fülle praktischer Tips, Hintergrundinformationen und humorvoller Anekdoten ist der REISEGAST ein anderer Reiseführer - unentbehrlich zum Verständnis von Alltag, Lebensgewohnheiten und Sitten." Besonders beachtenswert ist hierbei der Name, der darauf aufmerksam macht, daß man sich bei konkreter Beachtung der Tips in den Büchern dieser Reihe zu Recht als (Reise)Gast fühlen darf, und man keinen Anlaß mehr hat, sich als ordinärer Tourist zu fühlen).

Touristen sind immer die anderen. Dazu H. Opaschowski (1996: S. 42): "Mit dem Aufkommen des moderen Massentourismus hat der klassische Entdeckungsreisende seine Daseinsberechtigung verloren. Aus Verärgerung wurde der Tourist zum Dummkopf in beblümten Bermudashorts erklärt, mit Beleidigungen überhäuft und mit Verachtung bestraft. Der schwachsinnige Tourist ist in Wirklichkeit nur ein elitärer Mythos, den sich Bildungsbürger - um ihres Privilegs beraubt - zur Strafe haben einfallen lassen: Damit war der Antitourismus geboren und mit ihm die moderne Tourismuskritik."

3.2 Realität als kohärenter Wissensvorrat

Innerhalb bestimmter Gruppen wird ein, für die jeweilgen Gruppen relevanter, gemeinsamer Wissensvorrat geteilt. Mehan und Wood führen hier das Beispiel von Drogenkonsumenten, sogenannten "Drug Freaks" an. Innerhalb dieser gesellschaftlicher Subgruppe, die von der Öffentlichkeit als anarchisch, irrational und chaotisch wahrgenommen wird, läßt sich bei genauerer Betrachtung sehr wohl eine Art Lehre und Kunde im Umgang mit den für sie relevanten Tatsachen, besonders aber dem Drogenkonsum finden. Dabei gelang es ethnographischen Erforschern dieser Szene beispielsweise ein Schema über verschiedene Arten und den Gebrauch von verschiedenen Drogen aus dem geteilten Wissen der "Drug Freaks" zu entwickeln. Dieses Wissen ist kein geteiltes Wissen in Form einer Schemas oder ähnlichem, das jeder dieser Szene kennt, sondern diese Art Wissen ist größtenteils unbewußt, dies sind die Dinge, "die man halt weiß, wenn man Drogen nimmt und in dieser Szene unterwegs ist". Trifft nun etwas nicht gemäß dem geteilten Wissen zu, falls beispielsweise Drogen anders als erwartet wirken, kommt wieder die Reflexivität mit ihren Hilfkonstruktionen zum Einsatz: "es war ein schlechter Ort und Zeitpunkt diese Pille zu nehmen", " das Dope war unrein, von schlechter Qualität oder mit etwas gänzlich anderem verschnitten"...

So hat jede Subgruppe, wie beispielsweise Polizisten und Einbrecher, Universitätsdozenten, Studenten oder Obdachlose, ein speziell für sie relevantes Expertenwissen, das zwar nicht explizit aufgelistet werden kann, denoch aber von der jeweiligen Gruppe geteilt wird.

Auch im Bereich des Tourismus kann man von verschiedenen Wissensvorräten ausgehen. Unter den verschiedenen Gruppen von Touristen sind verschiedene Wissensvorräte relevant. Für die schon erwähnten Alternativtouristen ist zumindest ein Grundstock von "Survival"-Wissen erforderlich, da sie im Gegensatz zu Pauschaltouristen eher in Situationen kommen, wo sie dieses anwenden müssen. Durch die Begegnung mit anderen Travellern lernen sie die Eigenheiten dieser Gruppe kennen, beispielweise daß, in Hostels, gelesene Bücher gegen andere ausgetauscht werden dürfen und bei Empfehlungen unter Travelern Kriterien wie Unbekanntheit, Unzivilisiertheit, Abgeschiedenheit und das Fehlen von (Pauschal)Touristen an erster Stelle stehen. Wer besonders attraktive Ort entdeckt und sie einem Reisebuchverlag meldet, bekommt zur Belohnung Freiexemplare für seine nächste Reise und ihm wird die Ehre zuteil, namentlich in einer der Travellerbibeln erwähnt zu sein (und ebnet so den Weg für den breiten Strom von Touristen, wobei man davon ausgehen kann, daß dann der besagte Ort seine ursprünglichen Attraktivität verliert). Ebenso relevant kann das Wissen um gesetzlliche Vorgaben, die Traveller betreffen, sein. Ein beliebtes Gesprächsthema unter Rucksackreisenden ist beispielsweise in welchen Staaten der Konsum von Alkohol und Drogen wie bestraft wird. Andere relevante Themen sind billige und sichere Fortbewegungsmittel und falls man in etwas abgelegenere Gebiete geht, wie und wo man an kompetente und sichere "Guides" kommt. Für andere Gruppen von Touristen ist auch anderes Wissen relevant. Für die Kulturreisenden ist beispielsweise wichtig, wie und wo man an besonders exklusive und vor allem authentisches Souvenirs und Kunstgegenstände bekommt, wo hingegen es für den Pauschaltoursist wichtig sein kann, die Tricks zu lernen, wie man sich auch in der Hauptsaison einen Liegestuhl am Stand sichert. Je länger man auf bestimmte Art und Weise reist, desto größer wird der Wissensstock, der für diese Art des Reisen relevant ist. Es ist aber ebenso denkbar, Wissen, das man bei anderen Arten des Reisen angesammelt hat, für eine andere Art zu Reisen, anwendbar zu machen. So kann der neueingestiegene Rucksacktourist, der vorher nur Pauschalurlaube gebucht hatte, seine neuen Travellerfreunde vor den Orten warnen, an denen es fast nur Pauschaltouristen gibt.

Ein etwas größeres Gefälle von urlaubs- und reiserelevantem Wissen herrscht zwischen den Touristen und den Experten der Tourismusbranche. Zu diesen Experten zählen beispielweise Reiseveranstalter und die Fremdenverkehrsämter. Problematisch kann dies sein, da viele Touristen sich einseitig in Reisebüros und aus den Prospekten und Katalogen von Touristikfachleuten informieren (genaue Zahlenangaben liefert Martina Neuer 1990). Die Touristikbranche kann so den Informationsfluß gegenüber Touristen beeinflußen. Es ist kein Wunder, wenn diese Touristen nur die Sonnenseiten von Urlaubsländern präsentiert bekommen und dann eine Enttäuschung erleben, wenn die Realität vor Ort doch nicht so wunderbar aussieht wie die Bilder des professionellen Werbefotographen im Hochglanzprospekt.

Ein ausführliches Beispiel für derlei Aktivitäten liefert Marianne Gujer (1990) mit ihrer Arbeit über den Südafrika-Tourismus zu Zeiten der Apartheid-Politik. Trotz des Apartheid-Regimes erlebte Südafrika seit 1986 einen kontinuierlichen Zustrom an Schweizer und Deutschen Touristen. Die Touristenrouten führten nicht durch Gebiete, in denen Unruhen herrschten. Bruno Bay, Direktor der Rotunda Tours AG (damals Marktführer in Südafrikareisen) hat sich selbst davon überzeugt, daß die Sicherheit der Reisenden gewährleistet ist. Sein Kommenter war: "Ich habe deshalb alle Orte besucht und mich persönlich davon überzeugt, daß der Tourist von all dem nichts sieht und spürt." Auch die Direktorin der Satour(Schweiz), Agnes von Bodenhausen bürgte für die Sicherheit des Touristen in Südafrika. Bei ihrem Besuch in Südafrika wurden den Gästen vornehmlich Naturschönheiten und die Wohlstandswelt der weißen Minderheit vorgeführt. Die katastrohale Situation der schwarzen Mehrheit im Apartheid-Staat - Rechtlosigkeit, Diskriminierung, Verfolgung... - lernten sie dabei nicht kennen. Der Zutritt zu den schwarzen Wohngebieten und sogenannten Homelands war Weißen verboten. Vorgeführt wurde bestenfalls ein Muster-Kinderspielplatz in Soweto. Daß vier Millionen Weiße den Großteil des Südafrikanischen Landes für sich beanspruchten, während die 27 Millionen Schwarzen mit dem kleinsten und kärglichsten Teil des Bodens ("homelands" und "townships") schlicht nicht auskommen - das war der schönen Landschaft nicht anzusehen. So kamen Touristen mit einseitig gefärbten Bildern und voll des Lobes über dieses schöne Land nach Hause.

Eine Umfrage bei Schweizer Südafrika-Touristen bestätigte diese Eindrücke. Bei dieser Befragung ging es darum herauszufinden, mit welchen Vorstellungen die Touristen in den Urlaub gefahren sind und mit welchen Einstellungen und Eindrücken sie zurückkamen. Vorherrschend war dabei der Eindruck von hohem Lebenstandard, Kultiviertheit und Sauberkeit; in den Worten eines der befragten Touristen: "In Südafrika ist alles so perfekt wie in der Schweiz." Die Mehrheit der Befragten hielt die Konflikte für hochgespielt und warf den Medien mangelnde Obektivität vor. Nur ein sehr kleiner Teil war sich der Ghetto-Situation, in der die Touristen steckten, bewußt. Für die Hälfte der Befragten waren die Hauptschwierigkeiten der südafrikanischen Bevölkerung bei den unterschiedlichen "schwarzen Stämmen" zu suchen. Unkritisch wurden die Standpunkte und Argumente der südafrikanischen rassistischen Regierung übernommen. "Ehrlicher", "zuverlässiger". "intelligenter" und "geschäftstüchtiger" als die Schwarzen seien die Weißen in Südafrika. Diese Meinung vertraten erstaunlich viele der Befragten, obschon sie mit Schwarzen laut eigenen Aussagen kaum Kontakt hatten.

Dies ist zum einen ein Beipiel dafür, daß die Veranstalter sehr wohl über die wirkliche Situation in Südafrika Bescheid wußten, ihre Kunden, die Touristen aber nicht in vollem Umfang aufklärten und zum anderen bestätigt es die These von reflexiver Aktivität unter den Reisenden, die mit einem positiv gefärbten Bild nach Südafrika gefahren sind und mit dem gleichen Bild wieder zurückkamen (wobei sie natürlich auch kaum die Gelegenheit hatten Schattenseiten von Südafrika kennenzulernen).

3.3 Realität als interaktive Aktivität

Realität hängt außerdem von sozialer und interaktiver Aktivität ab. Wood illustriert dies am Beispiel einer psychatrischen Klinik, an der er Feldforschungen durchgeführt hat.

Die Wärter dieser Klinik vergeben "Labels" an Patienten, die nach Pflegemaßstäben bemessen sind. So gibt es beispielsweise den guten Patienten der keinen Ärger macht, den fiesen alten Mann, das Baby, das Kind, den Alkoholiker etc. Über diese Labels wird dem Verhalten der Patienten eine für die Pfleger relevante Bedeutung zugemessen. Das Vergeben der jeweiligen Labels ist eine soziale Aktivität und keine psychologische, denn diese Labels werden danach vergeben, wie der Patient sich gegenüber den Wärtern und den anderen Patienten verhält. Auch hier kommt wieder die Reflexivität zum Vorschein. Hat ein Patient ein bestimmtes Label bekommen, wird Verhalten, das diesem Label nicht entspricht nicht wahrgenommen, das über die Patienten verhängte Urteil wird zur Realität der Pfleger und Wärter und deshalb auch zur Realität des Patienten. Wood beschreibt die Labelvergabe an einen bestimmten Patienten, der vom "Nigger" zum " Depressive" und schließlich zum "Sociopath" wurde. Zu keinem Zeitpunkt wurde das jeweilige Label in seiner Richtigkeit angezweifelt. Im nachhinein betrachtet fällt Wood auf, daß das Verhalten dieses Patienten relativ konsistent war und er in Wirklichkeit stets derselbe blieb, die Aufpasser in ihrer gegenseitigen sozialen Bestätigung aber keinen Zweifel daran ließen, daß das jeweilige Label nicht angemessen war.( Ebenfalls zur sozialen Situation psychatrischer Patienten vgl. Goffman 1961.)

Hierzu sollte noch bemerkt werden, daß das Vergeben von Labels immer abhängig von der jeweiligen Situation, den Beziehungen unter den Agierenden und dem gesamten Setting ist. Labels sind deshalb hochgradig indexikale, kontextabhängige Ausdrücke.

Auf den Tourismus angewandt könnte man beispielsweise die Vergabe von Labels

von Kellnern und Hotelangestellten für Touristen anführen. Hier wäre es möglich daß für Pauschalurlauber, die längere Zeit im gleichen Hotel wohnen und regelmäßig im Speisesaal essen, von den Angestellten des Hotels schon eine Art Schema von Touristen vorliegt, dem neuangekommene Urlauber ziemlich schnell zugeteilt werden. Reagiert ein Urlauber schon bei Ankunft im Hotel überreizt und will sofort den Hoteldirektor sprechen, weil der Ventilator im Zimmer nicht funktioniert, wird er von den betreffenden Angestellten wahrscheinlich als ´Problemkandidat´ wahrgenommen. Ein anderer, der von Anfang an ein sehr freundliches Verhalten gegenüber den Angestellten an den Tag legt, wird möglicherweise von da an als Tourist, den es besonders bevorzugt zu behandeln gilt, wahrgenommen. Sind die Labels einmal vergeben, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch in interaktiver und reflexiver Art und Weise bestätigt. Man kann auch davon ausgehen, daß die meisten Hotelangestellten untereinander Kontakt haben, über ihre Touristengäste sprechen und auf diese Art und Weise Labels weitergegeben werden.

Denkbar ist jedoch auch der Umkehrfall: Eine Gruppe von Pauschaltouristen, die auch regelmäßig im selben Speisesaal essen, werden auch über den gesamten Zeitraums des Urlaubs von den gleichen Kellnern bedient. Vergißt nun ein Kellner gleich beim ersten Essen die Bestellung einer Familie, bekommt dieser das Label ´ inkompetenter, vergeßlicher Kellner´ aufgedrückt. Hat dieser erst einmal dieses Label aufgedrückt bekommen, wird es der Familie nicht schwerfallen Merkmale seiner Inkompetenz zu entdecken, was für den unglücksseligen Kellner die Konsequenz eines besonders mickrigen Trinkgelds bedeuten könnte (zur Problematik des Trinkgeldgebens siehe H. Jürgen Kagelmann 1993).

Problematisch wird es die Vergabe von Labeln, wenn ethnozentristische Vorurteile und Stereotype ins Spiel kommen. Diese sind meist von negativer Tendenz, da es ihre Aufgabe ist, über die Abwertung der Mitglieder einer Fremdgruppe, die Mitglieder der Eigengruppe, und dadurch sich selbst, aufzuwerten. Da diese Arten von Vorurteilen und Stereotypen oft unter der gesamten Eigengruppe bekannt und verbreitet sind, und man oft schon von Kindheit an von ihnen umgeben wird, sitzen sie sehr tief und es ist unwahrscheinlich, daß man alle Mitglieder einer (Reise)Gruppe dazu bringt, sie erstens nicht in den Raum zu stellen und zweitens nicht bestätigt zu sehen. Generalisierungen, die durch Stereotypisierungen entstehen, müßten durch ihre besondere Rigidität ein Musterbeispiel für die reflexive Aktivität der Ethnomethodologen sein. ( Der Sozialpsychologe Henri Tajfel, Begründer der ´Social Identity Theory´, hat deshalb einen Aufsatz mit dem treffenden Titel: `Warum Vorurteile sich immer bestätigen` veröffentlicht). Aufgrund der negativen Tendenz von ethnozentristischen Stereotypen und Vorurteilen werden auch Labels die auf diesen basieren nicht unbedingt zu einem besseren Verhältnis zwischen Einheimischen und Touristen führen. ( Zu dieser Problematik siehe Gast-Gampe 1993; Thomas, A. 1993). Dazu schreibt Horst W. Opaschowski (1996, S. 191): "Viele Urlauber reisen in ein anderes Land, um ihre eigenen Vor-Urteile erst einmal bestätigt zu sehen. Und am Reiseziel werden die Reisenden von "Bereisten" erwartet, die wiederrum ihre Klischees bestätigt haben wollen."

Vorgefertigte Labels, sofern sie der sie tragenden Person bewußt sind, die in Interaktionen aufrechtzuerhalten werden sollen, erforderen auch eine gewisse Eigenarbeit. Arlie Russell Hochschild schildert in ihrer Studie "Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung von Gefühlen" von 1990 u. a. den permanent erforderlichen Anteil von Arbeit den Stewardessen zu leisten haben, um dem vorgefertigten Bild der immer freundlich lächelnden Stewardeß, die nie gestreßt ist, zu entsprechen. Sie prägte für diese spezielle Form von Arbeit den Begriff Gefühlsarbeit.

Wie die Einheimischen von Hawaii schon von klein auf dazu gezogen werden dem Label des immer freundlich lächelnden Inselbewohner gegenüber den Touristen zu entsprechen beschreiben Kay-Trask/Bieger (1990): "Ein junges Mädchen wird bereits im Kindergarten und anchließended in der Schule darauf vorbereitet, für Touristen das berühmte Aloha-Lächeln zu üben. Teil des Unterrichts ist ein Film, den das Erziehungsministerium produziert hat: "Tourism - what is in for you". Ein Werbefilm über die Vorteile, die der Tourismus den Hawaiianern bieten soll. Die Gehirnwäsche für die kukturelle Prostitution setzt also schon sehr früh ein. Nach der Schule lächeln die Mädchen gegen Geld, um die Familie mitzuernähren.

Ein Mädchen kann zum Beispiel in einem Waikiki-Hotel als Hosteß arbeiten, für wenig mehr als drei Dollar die Stunde. Sie darf Gäste willkommen heißen und zu ihrem Tisch führen. Sie darf sich aber mit den Gästen in keine Gespräche einlassen. Das wird ihr gleich am Anfang vom Manager eingeschärft. Oder sie bietet Sonnenöl an. Aber dies muß sie mit einem verlockenden, sexuell stimulierenden Lächeln und einer sanften, gurrenden Stimme tun. Und Viel Make-up natürlich. Wenn sie diese verführerische Fassade nicht durchhält, taugt sie nicht für den Job. Dann kann sie sich im Hula-Tanz versuchen oder als Fotomodell. Dafür darf sie nicht zu dick sein, und ihre Haut nicht zu dunkel und nicht zu hell. Meine Schwester hat das mal versucht. Sie mußte in einem Einbaum auf dem Rasen vor einem Hotel in Waikiki sitzen und ihren Arm um fette Amerikaner legen und in die Kamera lächeln. Aber sie hat es nicht lange durchgehalten, sich täglich zur Puppe degradieren zu lassen."

3.4 Die Fragilität von Realität

Jede Form von Realität beinhaltet den refexiven Gebrauch von gemeinsamen Wissensvorräten innerhalb von Interaktionen. Realitäten können jedoch auch fragil und instabil werden und deshalb nicht mehr als der gängigen Realität entsprechend wahrgenommen werden, was zu einen großen Problem für das betreffende Individuum werden kann. Harold Garfinkel hat dies durch die, unter dem Namen Krisenexperimente ("breaching experiments") bekannt gewordenen, Versuchsanordnungen aufgezeigt. Bei einem der einfachen Krisenexperimente benutzte Garfinkel 67 Studenten als Durchführende des Experiments. Insgesamt wurden 253 Versuchspersonen in das Experiment eingebunden. Der Versuch bestand darin, ein Partie Tick-Tack-Toe zu spielen. Als das Liniengerüst für das Spiel gezeichnet war, bat der Durchführende die Versuchsperson, den ersten Zug zu machen. Nachdem die Versuchsperson den ersten Zug gemacht hatte, war es am Durchführenden seinen Zug zu tun. Anstatt nun, wie normalerweise zu erwarten wäre, einfach sein Zeichen ins Linienfeld zu setzten, radierte er das Zeichen der Versuchsperson aus, setzte es in ein anderes Kästchen und setzte sein Zeichen in das nun frei gewordene Kästchen. Die Durchführenden des Experiments berichteten über die Verwirrung und Verblüffung die sie dadurch unter den Versuchspersonen anrichteten (Mehan und Wood, 1975: S. 23). Die Realität des Spiels, welche vor dem Zug des Durchführenden normal und stabil zu sein schien, wurde durch die unvorhergesehene Handlung zerstört und zu einem enormen Unsicherheitsfaktor für die Versuchsperson, da sie sich nicht mehr auf die expliziten Regeln des Spiels verlassen konnte.

Augenfälliger wird die Thematik der Krisenexperimente im Alltagsleben, wo es keine ausdrücklichen Handlungsregeln gibt. Harold Garfinkel entwickelte deshalb Versuchsanordnungen, die den reibungslosen Ablauf des Alltagsleben stören sollten, um auf die Problematik fehlender Regelungen, auf die insgeheim alle alltäglichen Interaktionen aufbauen, und die Abhängigkeit vom Vertrauen in die eigene Realität, aufmerksam zu machen. Bei einer Anordnung forderte er beispielsweise Studenten dazu auf, sich zuhause bei ihren Eltern wie ein höflicher Gast zu verhalten. Dazu konnte beispielweise gehören, nur zu reden, wenn sie gefragt wurden, höflich zu fragen, ob sie mal zur Toilette gehen dürften, oder das Essen überschwenglich zu loben und sich zu erkundigen, wie es zubereitet worden sei. Alle Studenten berichteten, ihr Verhalten habe zu Konfusion und Unmut geführt. Man habe gefragt, was mit ihnen los sei und was das ganze soll. Schließlich meinten die Eltern, wahrscheinlich seien die Kinder überarbeitet oder in einer Krise (Abels 1998: S. 142). Damit wurde über ein reflexive Hilfkonstruktion der Verstoß gegen die (verborgenen) Regeln des Alltags erklärt, und somit der Alltag wieder in Ordnung gebracht.

Bei anderen Anordnungen schickte Garfinkel studentische Mitarbeiter in Geschäfte und Restaurants, wo sie Kunden und Gäste wie Verkäufer oder das Restaurant-personal behandeln sollten (Mehan und Wood, 1975: 24f, weiterere Krisen-experimente in: Treibel 1997: 135f).

Eines haben alle Krisenexperimente gemeinsam: durch das Brechen von unausgesprochen Alltagregeln machen sie diese bewußt. Außerdem zeigen sie, daß das Gefühl sozialer Ordnung für Menschen lebensnotwendig ist. Kann es innerhalb eines Krisenexperimentes zu keiner reflexiven Validierung der eigenen Realität, zu keiner angemessenen Verarbeitung durch den eigenen Wissensvorrat und zu keiner Unterstützung der eigenen Realität durch interaktive Bestätigung seiner Mitmenschen kommen, "´ticken´ viele Versuchspersonen völllig aus, laufen weg, werden wütend etc." (Treibel 1997: S.136).

Problematisch bei der Durchführung von Krisenexperimenten sind die forschungs-ethischen Implikationen, dazu Mehan und Wood (1975: S. 27):"...increasing the bewilderment of the subjects, who became more and more like desocialized schizophrenics, persons completey devoid of any social reality". [...] "Once Subjects had experienced the fragility, they could not continue taking the stability of realities for granted. No amount of "cooling out" could restore the subject´s faith."

Ein fragil-werden der Realität könnte für einen Tourist bedeutet, daß die Realität, die er erwartet, gestört wird. Dies könnte beispielsweise geschehen, wenn ein Tourist in schönster Urlaubslaune auf dem Zielflughafen seines Urlaubsortes ankommt, und feststellen muß, daß sein Gepäck nicht am Zielflughafen angekommen ist (zu dieser Problematik: Lisa Stocker 1999). Statt einfach ins Hotel zu gehen ist eine Komplikation aufgetreten, die den geplanten Ablauf obsolet werden läßt; jetzt ist wichtig wieder an das Gepäck zu kommen, falls er aber sein Gepäck nicht wieder bekommt muß schnellstens ein Programm ausgearbeitet werden, was jetzt in welcher Reihenfolge zu tun ist. Dramatischer wird diese Situation noch, wenn es einen Anschlußzug, eine Fähre o. ä. zu erwischen gilt. Eine andere problematische Situation könnte der Verlust oder Diebstahl eines Gepäckstücks während des Urlaubs sein, bei dem wichtige Dokumente, die Reisekasse, dringend benötigte Medikamente und die Rückflugtickets abhanden kommen. In diesem Fall könnte der Urlaub auch keinenfalls problemlos fortgesetzt werden, möglicherweise müßte man den Rest des Urlaubs damit verbringen Ersatz für die verlorenen Dokumenten... zu beschaffen. Andere erschütternde Möglichkeiten wären ein Unfall, eine schwere Erkrankung oder eine schlimme Verletzung. Dies wären Ereignisse, die auch Auswirkungen auf die heimische Alltagswelt hätten. Ein Überfall auf offener Straße würde zumindest für einen Moment die gegenwärtige Realität zerstören, aber auch danach hätten die betroffenen Touristen sicherlich ein anderes Verhältnis zu diesem Urlaub und zum betreffenden Land. Während der Reise würde das Ausfallen eines Fluges, erhebliche Verspätungen, eine Verweigerung des Transports (vielleicht nur bestimmter Teile des Gepäcks), ein Nichtanerkennen von Visa oder anderen Dokumenten oder ungeplante Zwischenstopps eine Beeinträchtigung der erwarteten Realität bedeuten.

Bei Interaktionen mit Individuen, die einen völlig anderen kulturellen, religiösen, sozialen und politischen Hintergrund als man selbst haben, kann es zu extremen Fremdheitserfahrungen und damit zu Situationen, die denen der Krisenexperimente ähnlich sind, kommen. Innerhalb solcher Interaktionen funktioniert die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Realität nicht mehr, da es sich nun um zwei verschiedene Realitäten handelt. Die Realität des Urlaubers steht der Realität eines Einheimischen gegenüber. Dies äußert sich sich in Manifestationen wie unterschiedlichen Sprecherabständen, häufigeren Körperkontakten und ständigem Anfassen bei Gesprächen, die Lautstärke wird anders aufgefaßt, Blickkontakte haben unterschiedliche Bedeutungen und selbst einfache Grußrituale funktionieren aufgrund der Verschiedenheit der beiden kulturellen Hintergründe nicht mehr. Aus ethnomethodologischer Sicht könnte man nun begründen, daß die unsichtbaren Regeln, über die normalerweise die interaktive Realität hergestellt wird, sich so stark unterscheiden, daß sie auf keinen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Dazu Philip Bock 1970 (zitiert nachGreverus 1978): "Kultur in ihrem weitesten Sinne ist das, was dich zum Fremden macht, wenn du von daheim fort bist. Sie umfaßt alle jene Überzeugungen und Erwartungen, wie Menschen zu sprechen und sich zu verhalten haben. Diese sind als Resultat sozialen Lernens eine Art zweite Natur für dich geworden. Wenn Du mit Mitgliedern einer Gruppe zusammen bist, die deine Kultur teilen, mußt du nicht darüber nachdenken, denn ihr alle seht die Welt in gleicher Weise und ihr alle wißt, im großen und ganzen, was ihr voneinander zu erwarten habt. Jedoch, einer fremden Gesellschaft direkt ausgesetzt zu sein, verursacht im allgemeinen ein störendes Gefühl der Desorientierung und Hilflosigkeit, das `Kulturschock` genannt wird.

Der amerikanische Kulturanthropologe Edward T. Hall (1959) entwickelte dazu das Konzept einer "silent language", die den unsichtbaren und unbewußten Regeln der Ethnomethodologie gleichgesetzt werden könnte. Für E. T. Hall (1984: S. 19) ist Kultur immer und vor allen Dingen ein System von Kommunikation. Kultur ist das wichtigste Bindeglied zwischen den Menschen und die Grundlage für jeden zwischenmenschlichen Kontakt. Nach Hall gibt es in jeder Kultur zwei Schlüsselelemente: die Einstellung zum Raum und das Verständnis von Zeit. Auf dieser Grundunterscheidung basierend, baute Hall über den Lauf mehrer Veröffentlichungen ein breites System von Unterscheidungsmöglichkeiten der Merkmale von verschiedenen "silent languages" auf; so unterscheidet er beispielsweise hinsichtlich der Zeit (1984: S. 29f.) monochrone und polychrone Kulturen (Kulturen, bei denen entweder zeitlich ein Ereignis nach dem anderen kommt oder mehrere Ereignisse paralell angelegt sein können) oder hinsichtlich der interpersonalen, räumlichen Distanz (1982: S. 114): "intimate, personal, social and public distance (each with its close and far pase)", welche kulturell auch variieren.

Über diesen Ansatz wäre es möglich die unsichtbaren Regeln der interaktiven ethnomethodologischen Wirklichkeit sichtbar werden zu lassen und auf die Problematik interkultureller Situationen zu reagieren. Unter dem Begriff des Kulturschocks hat diese Thematik auch Eingang in den populären Sprachgebrauch gefunden. Man darf aber annehmen, daß diese Problematik im Bereich des Tourismus nur für die wenigsten Touristen zutrifft, da die typischen Kontakte des Touristen zu der fremden Kultur durch touristische Arrangements (z. B. Pauschal-reisen) und Moderatoren (z. B. Reiseführer) vermittelt und gefiltert und auch durch das Reisen mit einem Partner oder einer Reisegruppe abgefedert werden (Vester 1993).

3.5 Die Permeabilität von Realität

Da der reflexive Gebrauch des sozialen Wissens fragil und von Interaktionen abhängig ist, kann sich eine Realität ändern, oder sogar eine gänzlich andere angenommen werden. Mehan und Wood illustrieren dies am Beispiel eines Ausschnitts aus der Biographie von Tobias Schneebaum: Schneebaum, ein Maler der zeitweise in New York lebt, geht 1955 in der Absicht der Ausübung seiner Kunst in den Urwald von Peru. Während dieser Reise verläßt in das Interesse an der Ausübung seiner Kunst und er zieht tiefer und tiefer in den Urwald. Schließlich traf er auf den, auf Steinzeitniveau lebenden, Stamm der Akaramas die zuvor noch nie einen Weißen gesehen hatten. Schneebaum wurde schnell als Stammesmitglied akzeptiert und lernte in Bündeln mit den anderen Männer zu schlafen und mit Steinzeitwerkzeugen zu arbeiten und zu jagen. Mit der Zeit nahm Schneebaum die Sprache, die Geschichten und selbst die Art der Zeitwahrnehmung der Akaramas an. Er bemerkte, daß er mehr und mehr die Realität der Akaramas annahm und began seine bisherige Realität zu vergessen.

Schließlich nahm er an einem Überfall auf ein anderes Dorf teil, nach dem es zu einem Massenmord, der Zerstörung des gesamten feindlichen Dorfes, dem Diebstahl aller wertvollen Gegenstände, Kannibalismus, dem rituellen Essen eines Herzes vor öffentlich zur Schau gestellten homosexuellen Verkehr und anderem kam. Schneebaum hätte nicht an seinem ersten Tag im Urwald an derartigen Handlungen teilnehmen können. Mit der Zeit hatte der ehemalige Maler aus der westlichen Welt die Realität eines Steinzeitstammes angenommen und seine bisherige Wirklichkeit kam ihm immer seltsamer vor. Als Schneebaum dies bemerkte, fand er es an der Zeit den Stamm zu verlassen, da er sonst möglicherweise nie wieder in seine alte Realität zurückgefunden hätte und nicht mehr in der Lage gewesen wäre, weiter als einen Moment zu denken oder Worte auf Papier zu schreiben. Dreizehnjahre später schrieb er seine Erlebnisse bei den Akamares in dem Buch "Keep the River on Your Right" (1969) auf.

Diese Beispiel zeigt, daß es möglich ist, eine andere Realität als die bisherige eigene zu entdecken und diese auch anzunehmen bzw. auch in dieser zu leben. Im Falle Tobias Schneebaums wurde seine bisherige westliche Realität durch die Konfrontation mit der Steinzeitrealität fragil, eine Validierung seiner bisherigen Realität war in diesem Kontext nicht mehr möglich und auch in der Interaktion mit den Stammesmitgliedern konnte nur eine andere Realität als seine bisherige, die neue Steinzeitrealität validiert werden. In der ethnologischen und auch der soziogischen Feldforschung ist dieses Phänomen als Problem des "going native" bekannt. Hierbei verliert der Forscher seinen ursprünglichen Forschungsstandpunkt und übernimmt stattdessen die Sichtweise derer, die erforscht werden sollten.

Um von einer Realität in eine andere überzutreten ist es notwendig mit der bisherigen Realität zu brechen. Ein erfolgreicher Bruch mit der bisherigen Realität setzt voraus, daß eine andere Realität, in die man übertreten kann, bereit steht. Mehan und Wood sehen nötige Bedingungen darin, daß es keinen anderen Ort gibt, zu den man flüchten kann, daß es auch keinen bestimmenten Zeitpunkt gibt, zu dem man wieder aus der anderen Realität entlassen wird und daß es niemanden gibt, der Beweise für eine gegenteilige Realität erbringen könnte.

Die Autoren geben allerdings zu, daß der Übergang von einer Westlichen in eine Steinzeitrealität ein exotisches Beispiel für den Wechsel von einer Realität zur anderen darstellt.

Der Übergang von einem Kinofilm zu einer Autobahnfahrt, zwischen der Realität einer Person vor und nach einer Psychotherapie, zwischen dem Leben als unbescholtenem Bürger der drogenabhängig und so zum Junkie wird, oder das Leben bevor jemand zum kompetenten religiösen Heiler wird und danach beinhalten im grunde die gleichen Thematik; die Möglichkeit von einer bisherigen Realität in eine andere Realität zu wechseln. Bei einem Wechsel spielen jedoch auch die anderen vier Merkmale, die Reflexivität, das bisherige sozial relevante Wissen, die Art und Weise der Interaktionen und die erneute Fragilität eine wichtige Rolle, denn auch sie werden von dem Realitätswechsel beeinflußt.

Von der Tourismusindustrie wird ein Wahrnehmen von Reiseangeboten oft als eine Art neue und bessere Wirklichkeit als die der Alltagswirklichkeit angepriesen. Ein Realitätswechsel im ethnomethodlogischen Sinne findet hierbei jedoch nicht statt. Für die bisherige Realität eines Urlaubers wird sich nichts ändern, er nimmt den ihm vorgegebenen Urlaub wahr, klinkt sich für eine vorgegebene und mit den Kollegen abgesprochene Zeit aus dem Beruf aus und kehrt normalerweise zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Urlaubsreise zurück. Auch während des Urlaubs trifft der Reisende auf Mitreisende, die seine bisherige Alltagsrealität kennen und teilen ( zumal eine der ersten ernsthaften Fragen, um unter Deutschen Touristen jemanden kennenzulernen und einzuordnen die Frage nach dem Beruf bzw. unter Studenten der Studienrichtung und damit nach seinem Alltagsleben ist. Dies führt wiederum ziemlich schnell zu einer Vergabe von Labels unter Touristen).

Was von der Tourismusindustrie angepriesen wird entspricht außerdem nicht unbedingt der Wirklichkeit, sondern eher einem schönen, aber fiktiven Bild der Wirklichkeit. Dazu Dieter Kramer (1993): "Die Fiktion tritt nicht ins Leben, sie ist Leben, und sie gehört zur materiellen Kultur. Das beeinflußt die Chancen, im Tourismus aktiv Welterfahrung, Weltaneignung zu erleben. Die Inszenierung verstellt den Weg zur Aneignung. Nicht mehr das Land, die Landschaft, die Stadt sind die Ziele, sondern das Bild, das von ihnen vorfabriziert wurde. Reduziert wird damit die Chance, daß sich der Besucher ein eigenes Bild durch Erfahrung und Aneignung entwickeln kann. Die Chance zum bildungswirksamen und realitätshaltigen Erleben wird zerstört durch das Angebot von vorgefertigten Kunstwelten."

Ein besonders illustratives Beispiel für künstliche Imitationen von Wirklichkeit liefern die sogenannten Themenparks. Hierbei handelt es sich um abgeschlossene, großflächige angelegte, kommerziell strukturierte und künstlich geschaffene Ansammlungen verschiedener Attraktionen, meist in der Nähe von Metropolen, wie etwa die Walt Disney Themenparks. Umberto Eco (1975) beschreibt in seinem Essay ´Die Stadt der Automaten´ den Aufwand und die Mühe, die in die Konzeption und die technischen Raffinesse Disneylands gesteckt wurden, um das Publikum die Perfektion der Fälschungen und ihr programmgemäßes Funktionieren bewundern zu lassen. Er kommt zu folgendem Schluß:"In diesem Sinn ist Disneyland hyperrealistischer als die Wachsmuseen, gerade weil diese uns ja noch weiszumachen versuchen, ihre Objekte seien getreue Reproduktionen der Realität, während Disneyland unmißverständlich klarstellt, daß es in seinem magischen Bannkreis nichts anderes reproduziert als die Phantasie. Das Museum der dreidimensionalen Kunst verkauft seine Venus von Milo als "quasi echt", während Disneyland sich erlauben kann, seine Reproduktionen als Meisterwerke der Fälscherkunst zu verkaufen, denn was es tätsächlich verkauft, nämlich seine Waren, sind keine Reproduktionen, sondern authentische Waren. Was gefälscht wird, ist unsere Kauflust, und in diesem Sinne ist Disneyland wirklich die Quintessenz der Konsumideologie."

Ein Beispiel für einen tatsächlichen Übergang in eine andere Realität könnte ein Flugzeugabsturz bzw. Notlandung oder ein Schiffsuntergang darstellen. Eben noch an Board eines Luxusliners oder einer Passagiermaschine, mit den Gedanken schon im Urlaub (oder den Urlaub Revue passieren lassend) und einen wohltemperierten Cocktail in der Hand haltend, findet man sich (unter glücklichen Umständen) schon wenige Minuten später in einem Rettungsboot oder inmitten eines Trümmerfeldes wieder. Hier ändert auch der Gedanke an das Alltagsleben und Interaktionen mit Menschen aus ähnlichem Umfeld nichts an der Tatsache daß man ab jetzt im Rettungboot oder schwerverletzt an der Absturzstelle ausharren muß bis Hilfe kommt, oder man sich irgendwann mit der Tatsache abfinden muß, daß man wohl doch nicht mehr gerettet wird. Im Gegensatz zum Urlaub ist kein Zeitpunkt festgelegt, an dem sich die Situation wieder ändert. Ein andere extreme Situation, in der es zu einem Realitätswechsel kommt, ist eine Entführung mit anschließender Geiselhaft, so wie bei Rucksacktouristen in Lateinamerika oder bei Motorradtouristen im Jemen geschehen. Der Bezug zur bisherigen Alltagsrealität verschwindet mit einem Mal, die neue momentane Realität dominiert über alles bisher erlebte und die "normale" Alltagsrealität existiert in Situationen wie diesen höchstens als nicht-präsente Erinnerung.

4. Schlußfolgerungen

Der soziologische Ansatz der Ethnomethodologie ist in der Lage, touristische Phänomene auf einer Mikro-Ebene darzustellen, zu beschreiben und zu stichhaltigen Erklärungen zu gelangen. In Verknüpfung mit anderen, vor allem kultur- und sozialanthropologischen Ansätzen, dürfte der Erklärungsgrad noch zu steigern sein, und somit wären diese Ansätze dazu geeignet, einen wichtigen Beitrag zur Tourismusforschung und somit zu einer möglichen Theorie des Tourismus zu leisten.

Dem zu Beginn erwähnten Facettenreichtum des Tourismus wird jedoch mit einer einseitigen Verknüpfung von Mikroansätzen nicht beizukommen sein. Eine umfassende Tourismuswissenschaft bedarf der Berücksichtigung von Mikro- und Makroebene, sowie interdisziplinärer Kooperation verschiedenster Wissen-schaftszweige. Die verschiedenen theoretischen Ansätze der Soziologie sind in der Lage, einen gehaltvollen Beitrag zur Erforschung touristischer Phänomene zu leisten.

Anknüpfungen an psychologische, politologische, ethnologische Theoriemodelle, dem recht jungen Feld der Interkulturellen Kommunkation und anderen gegenwärtigen Ansätzen dürfen zu einer umfaßenden Erklärung jedoch nicht ausgeblendet werden. Nach wie vor besteht auf dem Gebiet der Tourismusforschung im Vergleich zu anderen Forschungsgebieten noch erheblicher Nachholbedarf und man kann davon ausgehen, daß dieser in nächster Zeit nicht aufzuholen sein wird.

Forschung auf den Gebieten Tourismus, Reise- und Urlaubsverhalten bieten ein breites und aufschlußreiches Forschungsfeld sowie unzählige Möglichkeiten zur Anwendung und Validierung von Theorien sowie etliche lohenswerte Gelegenheiten zur Anfertigung empirischer Arbeiten.

 

 

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