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Schlagt die Germanistik tot - färbt die blaue Blume rot
Gedanken zur Intertextualität
von Jörg Dieter

„Wir sehen, was wir sehen, weil die Geister es uns zeigen,
die Geister von Moses und Christus und Buddha und Platon
und Descartes und Rousseau und Jefferson und Lincoln und so fort.
[...] Unser gesunder Menschenverstand ist nichts anderes
als die Stimme von tausend und abertausend solcher Geister
aus der Vergangenheit. Geister noch und noch. Geister,
die ihren Platz unter den Lebenden finden wollen."
Robert M. Pirsig




Inhalt

1 Einleitung

2 Langweilige und interessante Definitionen des Begriffes Intertextualität
2.1 Die langweilige Definition
2.2 Die interessante Definition
2.3 Die Grauzone
2.4 Ein mittlerer Weg?
2.5 Intertextualität und Anspielung

3 Der Wink mit dem Zaunpfahl
3.1 Möglichkeiten der Markierung von Intertextualität

4 Fünf gute Gründe für die Verwendung von Intertextualitäten
4.1 Geballte Kommunikation
4.2 Ausgrenzung
4.3 Stiftung von Identität und Abgrenzung von anderen
4.4 Das Erregen von Aufmerksamkeit
4.5 Manipulation

5 Ein Leben ohne Intertextualität?
5.1 Ein kurzer Sommer der Anarchie - DADA 1916, Aufbegehren gegen das Nachreden

6 Literaturverzeichnis

7 Fußnoten




1 Einleitung

„Schlagt die Germanistik tot - färbt die blaue Blume rot". Was macht diesen Satz so interessant für uns, daß wir für einen Moment im Lesen innehalten, vielleicht schmunzelnd, vielleicht zusammenzuckend? Wollen wir das ergründen, so müssen wir uns mit einem Phänomen beschäftigen, das Germanisten auf den Namen Intertextualität getauft haben. Im weitesten Sinne versteht man darunter den Bezug von Texten auf Texte. Es spiegelt sich in diesem einfachen Satz vielfältig wider, wird von ihm zurückgeworfen wie das Echo in einem langen Tal, dessen ursprüngliche Quelle im Spiel von Hall und Widerhall schließlich nicht mehr auszumachen ist. Dieser Satz fand sich einst, zur Zeit der Studentenbewegung in Deutschland, auf Spruchbänder geschrieben - dies ist der erste intertextuelle Bezug. Die Studenten wendeten sich damit gegen die bestehende, in ihren Augen reaktionäre und muffige Germanistik. Diese wurde für sie versinnbildlicht durch das Symbol der Blauen Blume (1), die in ihren besten Tagen überhaupt nicht reaktionär und muffig war, sondern eine Fahne, unter der sich eine junge, stürmische, alle Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins auskosten wollende Bewegung formierte: die Romantik. Soweit der zweite intertextuelle Bezug. An die Stelle der überkommenen, reaktionären Art Germanistik zu treiben, sollte aus der Sicht der Studenten von damals eine neue treten, die nicht mehr das Steckenpferd alternder Schöngeister sein sollte, sondern ein Mittel des Klassenkampfes. Ob man das Wort „rot" in diesem Zusammenhang als einen dritten intertextuellen Bezug sehen will, oder als bloße Anspielung, hängt unter anderem davon, ab, was man als Bezugstext anerkennt. Welche Versuche die Germanistik, die, wie wir heute wissen, die damaligen Angriffe überstanden, vielleicht durch sie sogar noch einige interessante Facetten hinzugewonnen hat, unternahm, den Begriff der Intertextualität genauer zu fassen, welche Gründe Autoren haben, Intertextualitäten bewußt zu verwenden, und warum es von Vorteil sein kann, als Leser darüber Bescheid zu wissen, damit setzt sich diese Arbeit auseinander.


2 Langweilige und interessante Definitionen des Begriffes Intertextualität

Wenn einer einen Begriff definiert, sagt er damit aus, wie er selbst diesen Begriff versteht und verwendet sehen will. Bislang konnte noch niemand eine direkte Verbindung zwischen Begriffen und irgendwelchen Dingen oder Geschehnissen in einer äußeren Welt entdecken.(2) Man kann die Richtigkeit der Definition eines Begriffes deswegen auch nicht an der Übereinstimmung mit irgendwelchen „wirklichen" Dingen oder Geschehnissen messen. Als richtig kann die Definition eines Begriffes nur dann bezeichnet werden, wenn sie mit der Art und Weise übereinstimmt, in der der Begriff allgemein verwendet wird oder, wenn sehr, sehr gute Gründe vorgebracht werden, aus denen hervorgeht, warum der Begriff zukünftig in einer anderen Weise verwendet werden sollte. Ist ein Begriff nagelneu, oder zumindest noch nicht sehr weit verbreitet, so besitzt der Definierer eines Begriffes eine ganze Menge Freiheit. Dies kann man auch an den recht verschiedenen Definitionen des Begriffes „Intertextualität" erkennen, die sich in der Literatur finden. Es gibt hier zwei Wege, die häufig eingeschlagen werden und die einen, wenn man ihnen konsequent folgt, zu ganz unterschiedlichen sprachlichen Phänomenen führen.

2.1 Die langweilige Definition
„In der heutigen Literaturkritik dominieren Definitionen von Intertextualität, denen zufolge jeder Text in allen seinen Elementen intertextuell ist."(3) Sprache ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Phänomen und kann vom Einzelnen nur im steten Austausch mit anderen aufgebaut werden. Darüber hinaus ist Sprache ein geschichtliches Phänomen, denn im Austausch der Sprecher einer Sprache verändert sie sich. Führt man sich das vor Augen, wird deutlich, daß alles, was der Einzelne schreibt oder sagt, zwangsläufig beeinflußt ist von dem, was andere gesagt oder geschrieben haben, gleichgültig, ob der Einzelne sich dessen bewußt ist oder nicht. Das ist gut zu wissen und ein interessantes Phänomen für Leute, die sich damit beschäftigen, wie der Mensch zur Sprache kommt oder wie Begriffe gebildet werden. Beschäftigt man sich aber mit einzelnen Texten und speziell mit „nicht-wörtlichem" Sprachgebrauch, dann ist diese Definition wenig ergiebig. Wenn sowieso jeder Satz, jedes Wort, jeder Buchstabe intertextuell ist, was gibt es da noch zu untersuchen?

2.2 Die interessante Definition
Folgt man einem anderen Ansatz, so „liegt Intertextualität dann vor, wenn ein Autor bei der Abfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, daß er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis seines Textes erkennt. Intertextualität in diesem engeren Sinn setzt also das Gelingen eines Kommunikationsprozesses voraus, bei dem nicht nur Autor und Leser sich der Intertextualität eines Textes bewußt sind, sondern bei der jeder Partner des Kommunikationsvorganges darüber hinaus auch das Intertextualitätsbewußtsein seines Partners mit einkalkuliert."(4) Untersucht man Texte und Formen nicht-wörtlichen Sprachgebrauchs, so gibt diese Definition einiges mehr her. Denn, damit der in der Definition erwähnte Kommunikationsprozeß ablaufen kann, müssen die intertextuellen Bezüge auf irgend eine Art und Weise markiert werden. Bei diesen markierten Intertextualitäten handelt es sich um Formen nicht-wörtlichen Sprachgebrauchs, weil, durch den Bezug auf einen anderen Text, eine Formulierung eine Bedeutung erhält, die sich von der wörtlichen Bedeutung unterscheidet, die sie hätte, wenn dieser Bezug nicht gegeben wäre. Die Markierungen von Intertextualitäten kann man nun suchen, kategorisieren, analysieren, interpretieren und sich schließlich über die vielen Anspielungen wundern, die man bisher nie bemerkte, die einen aber nun, da man für das Phänomen sensibilisiert ist, regelrecht anspringen.

2.3 Die Grauzone
Wie wir im Folgenden noch sehen werden, sind am allerinteressantesten jedoch jene Formen von Intertextualität, denen keine dieser beiden „extremen" Definitionen gerecht wird, sondern die, die sich in der Grauzone dazwischen tummeln. Beispielsweise kann ein Autor Zitate aus anderen Texten verwenden ohne sich dessen bewußt zu sein, oder es werden in der Werbung intertextuelle Bezüge verwendet, die zwar auf den Leser wirken sollen, aber ohne daß dieser dessen gewahr wird.

2.4 Ein mittlerer Weg?
Franz Januschek setzt sich in seinem Buch „Arbeit an Sprache" unter anderem mit der Frage auseinander, was eigentlich Metaphern sind. Hierbei stößt er auf eine Problematik, die, handelt es sich doch beide Male um Formen „nicht-wörtlichen" Sprachgebrauchs, der nicht unähnlich ist, auf die ich bei der Untersuchung des Begriffes der Intertextualität gestoßen bin. Ich möchte Januscheks Ansatz hier kurz diskutieren, weil ich es für wahrscheinlich halte, daß seine für den Bereich der Metaphern propagierte Lösung auch ein anderes Licht auf den Bereich der Intertextualität zu werfen vermag. Wenn Januschek schreibt: „Sind alle diejenigen (situierten) Ausdrücke Metaphern, die mir als solche bewußt geworden sind?"(5), so ist hier eine deutliche Parallele zu sehen, zu der von mir als interessant bezeichneten Definition von Intertextualität, die ja auch auf Seiten des Autors und Lesers Bewußtheit ausdrücklich voraussetzt. Wohingegen die sich anschließende Frage: „Oder sind es alle diejenigen Ausdrücke, die irgendjemandem als Metaphern bewußt geworden sind?"(6) mit der weiten, von mir als langweilig bezeichneten Definition von Intertextualität korrespondieren würde. Januschek lehnt beide Möglichkeiten Metaphern zu charakterisieren ab. Die eine, weil sie nichts mehr über die Sprache, sondern nur noch über das Sprache produzierende bzw. rezipierende Subjekt aussagen würde; die andere, weil sie eine uninteressante Theorie ergebe. Zur Lösung des Problems schlägt er vor, alle diejenigen Ausdrücke als Metaphern anzusehen, „die irgendjemandem als Metaphern erscheinen können."(7) Denn: „Dies würde ein von der Bewußtheit der an der jeweiligen Situation Beteiligten unabhängiges Kriterium erfordern. Dadurch würde es möglich, einen Ausdruck als Metapher einzustufen, obwohl er den an der Situation des Gebrauchs Beteiligten nicht wirklich als solcher bewußt geworden ist. [...] Worauf es hier ankommt, ist daß hier die Eigenschaft, Metapher zu sein, nicht bloß an ein subjektives oder bloß an ein objektives Kriterium oder eine Verbindung beider, sondern an ein intersubjektives Kriterium gebunden wird. Es geht darum eine Begründung zu geben, die tatsächlich von den Beteiligten eingesehen werden kann."(8) Davon ausgehend, möchte ich nun eine weitere Definition des Begriffes Intertextualität formulieren:

Intertextualität liegt dann vor, wenn sich Gründe anführen lassen, aus denen hervorgeht, warum ein Rezipient in einer Formulierung einen Bezug auf andere Texte erkennen kann.

Diese Definition würde es erlauben zu diskutieren, ob Gründe vorliegen, einen gegebenen Ausdruck als Intertextualität anzusehen; je nach Gewicht dieser Gründe, hätte man zusätzlich noch die Möglichkeit Intertextualität quantitativ zu skalieren. Aus dieser Definition fallen jedoch so interessante Fragen heraus wie: „Mit welcher Absicht verwendete der Autor hier Intertextualität?" und „War er sich überhaupt der Verwendung von Intertextualität bewußt?" Um diese Phänomene mit zu berücksichtigen, sollte man deswegen formulieren:

Intertextualität liegt dann vor, wenn sich Gründe anführen lassen, aus denen hervorgeht, warum ein Rezipient erkennen kann, daß ein Autor eine Formulierung verwendet hat, in der sich ein Bezug auf einen anderen Text erkennen läßt.

Als solche Gründe würden dann nicht nur die, weiter unten behandelten, verschiedenen Formen der Markierung von Intertextualität in Frage kommen. Auch die Intentionen des Autors, die ihn zur bewußten oder Umstände, die ihn zur unbewußten Verwendung von Intertextualitäten getrieben haben könnten, ließen sich anführen. Ich möchte diese letztgenannte Definition von Intertextualität propagieren, denn sie scheint mir alle Aspekte des Phänomens abzudecken und gleichzeitig sowohl die Falle der Objektivität, als auch die der Subjektivität zu vermeiden.

2.5 Intertextualität und Anspielung
Die Begriffe Intertextualität und Anspielung liegen in ihrer Bedeutung nicht weit auseinander. Deshalb will ich sie an dieser Stelle ausdrücklich voneinander abgrenzen. Damit eine Intertextualität vorliegen kann, muß man einen Bezug von Texten auf Texte erkennen können. Damit eine Anspielung vorliegen kann, muß erkennbar sein, daß auf ein bestimmtes Vorwissen Bezug genommen wurde, das unter Umständen nicht jedem zur Verfügung steht. Davon ausgehend hat ein sprachliches Phänomen vier Möglichkeiten:

In der Logik wird dieses Verhältnis zweier Phänomene zueinander durch zwei Mengen dargestellt, die sich teilweise überlappen. Die hier genannten sind sicherlich nicht die einzigen Unterscheidungsmerkmale von Intertextualität und Anspielung, aber sie genügen um die Phänomene voneinander abzugrenzen und deshalb will ich es bei ihnen belassen.


3 Der Wink mit dem Zaunpfahl

Die Markierungen von Intertextualität können sehr unterschiedlich ausfallen. Sie können explizit sein, indem auf einen Autor oder einen bestimmten Text - manchmal auch auf eine ganze Gruppe von Texten - ausdrücklich verwiesen wird. Sie können aber auch implizit sein, wobei nur gewisse Elemente oder Strukturen des Bezugstextes übernommen werden, was vom Leser verlangt, daß er den Bezugstext kennt, damit er die Intertextualität als solche verstehen kann. Intertextualitäten können einfach markiert sein, es kann aber auch mehrere Markierungen geben, die auf denselben Bezugstext hinweisen. Diese können sich an ganz verschiedenen Orten befinden: in der Überschrift, im Text, oder in einer Fußnote.(9) Geht man von einem weiten Textbegriff aus, der nicht nur Geschriebenes, sondern auch Grafiken, Filme und Klänge umfaßt, so ergeben sich noch eine Vielzahl weiterer Markierungsmöglichkeiten, die, besonders in den sogenannten „neuen Medien", in der Werbung und in der Jugendkultur eine Rolle spielen. Auf diese will ich weiter unten näher eingehen und zunächst die wichtigsten Möglichkeiten der Markierung aufzählen, die sich vor allem auf „traditionelle" geschriebene Texte beziehen. Die Möglichkeiten der Markierung, die ich hier anführe, sind alle übernommen aus Broich (1985: S. 31-47),(10) im Gegensatz zu ihm, der das Phänomen der Intertextualität und somit auch ihre Markiertheit, von einem literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, sehe ich in den verschiedenen Methoden der Markierung eher sprachliche Mittel und ordne sie entsprechend anders.

3.1 Möglichkeiten der Markierung von Intertextualität


4 Fünf gute Gründe für die Verwendung von Intertextualitäten

Mit Intertextualität, die, wie wir eben gesehen haben, auf ganz unterschiedliche Art und Weise markiert werden kann, hat der Autor ein ungemein flexibles sprachliches Werkzeug in der Hand. Es ist aber nicht nur flexibel in Bezug auf die Art und Weise, in der es eingesetzt werden kann; es läßt sich auch mit ganz verschiedenen Intentionen einsetzen.

4.1 Geballte Kommunikation
Intertextuelle Bezüge machen es einem Autor möglich mit Hilfe eines einzigen oder nur ganz weniger Worte, auf ein kulturelles Vorwissen Bezug zu nehmen, das Bände füllt. Ein Gedicht von Gottfried Benn lautet beispielsweise:

Offensichtlich, da ausdrücklich im Titel genannt, ist hier der intertextuelle Bezug auf ein Stilleben des Malers Henri Matisse mit dem Titel „Asphodéles". Für uns an dieser Stelle interessanter ist jedoch der Bezug auf Proserpina. Proserpina oder griechisch Persephone, die Tochter von Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit, wird von Hades in die Unterwelt entführt und zur Gemahlin genommen. Durch die Trauer der Demeter um ihre Tochter verödet die Erde und nichts wächst mehr. Deshalb schickt Zeus schließlich Hermes aus, um Persephone aus der Unterwelt zurückholen zu lassen. Persephone verbringt von da an zwei Drittel des Jahres bei ihrer Mutter im Olymp und ein Drittel des Jahres bei Hades in der Unterwelt, wodurch nach diesem Mythos das Aufblühen und Vergehen der Natur im Laufe der Jahreszeiten zustande kommt.(13) Dieses ganze Vorwissen kann der Dichter mit dem einen Wort „Proserpina" aktivieren. Bezieht man sich in dieser Weise auf einen oder mehrere Vortexte, so ist es möglich, Texte von außerordentlicher inhaltlicher Dichte zu erstellen. Der Leser wird solchen Bezüge natürlich nur dann verstehen, wenn er über das entsprechende Vorwissen verfügt. Besitzt er dieses Vorwissen nicht, so ist er aus dem Kommunikationsprozess ausgeschlossen.

4.2 Ausgrenzung
Es kommt vor, daß es eben diese Möglichkeit, Rezipienten aus dem Kommunikationsprozeß auszuschließen, ist, die den Autor oder Sprecher zur Verwendung von Intertextualitäten bewegt. Von dieser Möglichkeit wird in ganz unterschiedlichen Bereichen Gebrauch gemacht.(14)

Zusammenfassend heißt es im selben Artikel: „Wenn wir Intertextualität als ein gruppen- und kulturspezifisches Verfahren betrachten, dürfen wir eines nicht vergessen: Die Vortexte, die Wissensrahmen, denen sie entstammen, und die Art und Weise ihrer intertextuellen Verarbeitung stehen in engen Zusammenhängen mit dem kulturellen Profil, den Werten und den Erfahrungen einer spezifischen sozialen Gruppe - und nur dieser."(16)

4.3 Stiftung von Identität und Abgrenzung von anderen
Wird Intertextualität im Rahmen einer Gruppensprache verwendet, so muß sie nicht unbedingt dazu dienen andere völlig aus der Kommunikation auszuschließen. Im schon oben zitierten Internetartikel: „Intertextualität und Jugendkultur" werden noch andere Möglichkeiten genannt, die ich im Folgenden kurz zusammenfasse. Intertextualität wird oftmals auch verwendet um die Identifizierung mit einer Gruppe zu verstärken, indem immer wieder auf gemeinsame Gruppeninteressen und -vorlieben Bezug genommen wird. Auch so kann das oben angeführte „Culture"-Zitat verstanden werden. Die Stiftung von Gruppenidentität ist aber auch noch auf andere Weise möglich. Durch Distanzierung und Abgrenzung. „Hier stoßen wir auf den Begriff der Parodie. Eine Parodie erfolgt dadurch, daß ein negierter Vortext der dominanten Kultur oder einer feindlichen Subkultur formal nachgeahmt und inhaltlich durch Zugriff auf ein neues Wertesystem ausgefüllt wird."(17) In den letzten Jahren sind Markenlogos zum beliebten Ziel solch parodistischer Verfremdungen geworden. Sie eignen sich gut als Vortexte, weil sie exemplarisch die Lebenseinstellung einer konsumorientierten, spätkapitalistischen Wohlstandsgesellschaft symbolisieren, von der sich die Jugendkultur abgrenzen will. Markenlogos sind in der Regel bimediale Texte, daß heißt, sie bestehen zum Teil aus verbalem Code und zum Teil aus visuellem Code. Ein gelungenes Falschlogo, weist dabei einen möglichst großen inhaltlichen Kontrast zum Vortext auf und behält gleichzeitig die Form des Vortextes weitestgehend bei. Beispiele für solche Verfremdungen sind:

Wie viele Dinge, die in der Jugendkultur entstanden, wurden auch diese Falschlogos inzwischen von kommerziellen Medien wie „Bravo" aufgegriffen und sind dadurch für die Jugendkultur weitgehend uninteressant geworden.

4.4 Das Erregen von Aufmerksamkeit
Eben diese kommerziellen Medien hegen nicht erst seit dem Aufgreifen dieser Falschlogos ein großes Interesse an Intertextualitäten. „In Presse und Werbung ist es allgemein so, daß Intertextualität Kaufinteresse erwecken oder Lesereiz stiften soll. Sie ist der Pluspunkt, der den Text von der Informations- und Bilderflut abheben soll."(18) In der Presse findet man aus diesem Grund Intertextualitäten vor allem in den Überschriften. Kaum ein Mensch liest eine Zeitung oder Zeitschrift von Anfang bis Ende durch. Wir wählen aus und lesen das, was uns interessiert. Unser Interesse weckt in der Regel das, was mit Dingen zu tun hat, die wir schon kennen und gleichzeitig neue Aspekte zu bieten verspricht. Intertextuelle Überschriften sind auf diesen Auswahlmechanismus hin maßgeschneidert, sie enthalten Elemente aus uns bekannten Vortexten, die aber in irgendeiner Weise verändert sind. Das Bekannte sticht uns beim Überfliegen der Überschriften zuerst ins Auge, und verweilt das Auge des Lesers für einige Momente auf der Überschrift, so entdeckt er, daß er es nicht genau mit dem zu tun hat, was er schon kennt, sondern mit etwas Neuem. Das weckt sein Interesse, und er beginnt zu lesen. Zur Illustration einige Überschriften aus verschiedenen Publikationen mit Hinweisen auf die mutmaßlichen Prätexte.

Nicht ganz so offensichtlich sind in der Regel die Intertextualitäten, die in der Werbung zu finden sind. Hier einige Beispiele aus der TV Spielfilm 2 / 98:

Schauspieler werden häufig in der Werbung eingesetzt. Weil wir die meisten Schauspieler mehr oder weniger automatisch mit einer bestimmten Rolle in Verbindung bringen, werden dadurch, für den Betrachter fast unmerklich, intertextuelle Bezüge zu den entsprechenden Filmen und Fernsehserien geschaffen.

4.5 Manipulation
Mit dieser nicht mehr offensichtlichen, eher unterschwelligen Form von Intertextualität, wie sie mitunter in der Werbung verwendet wird, betreten wir den Bereich der Manipulation. Laut Harald Burger, der sich in seinem Aufsatz „Medientexte als 'Intertexte'" mit der Thematik auseinandergesetzt hat, kann diese Art der Manipulation vor allem dort „bedenkliche politische Konsequenzen" haben, wo „die Massenmedien meinungsbildend wirken und das Publikum weitgehend außerstande ist, den Journalisten in die Karten zu sehen". Als Beispiel nennt Harald Burger Nachrichtensendungen im Fernsehen. Dabei erkennt er besonders zwei Probleme.
Zum einen kann Hörbares und Sichtbares getrennt zitiert werden. „Beispielsweise sieht man eine Originalszene, in der jemand spricht; auf dem akustischen Kanal aber hört man die Stimme eines Reporters, der das Gesprochene zusammenfasst oder kommentiert. Vielleicht ist sogar ein wichtiger Teil des (mündlichen) Textes als eingeblendete Schrift ins Bild integriert. Besonders bei den privaten Sendern werden in Nachrichtensendungen oft kleine und kleinste Bruchstücke originaler Rede und originaler Filmstücke mit einem ebenso minimalen redaktionellen Text, der teils im On (= im Bild ist der Sprechende zu sehen), teils im Off (= im Bild läuft ein Filmausschnitt, man sieht den Sprechenden nicht) gesprochen wird, zu einem neuen Ganzen montiert. Auf diese Weise setzt sich das Ereignis aus Fragmenten verschiedener Realitäten neu zusammen."(19)
Zum anderen kann der Rezipient die Entstehung des Beitrages nicht mehr nachvollziehen. „Somit wird die im Alltag ganz selbstverständliche und unproblematische Kategorie der 'Autorin', des 'Autors' - der Verfasserin eines geschriebenen, des Sprechers eines mündlichen Textes - in Medienerzeugnissen zum Problem. An die Stelle einer greifbaren und mit Namen haftbar zu machenden Person tritt eine Kette von grossenteils namenlosen VerfasserInnen, die für Leser und Zuschauer wesenlos bleibt."(20)
Ernüchternd das Schlußresümee von Harald Burger: „Aus diesem Dilemma bietet sich beispielsweise bei Fernsehnachrichten ein einfacher, vielfach bezeugter, aber aus sprachpolitischer Sicht wenig befriedigender Ausweg an: Man betrachtet den Nachrichtensprecher als den Autor seines eigenen Textes, und man glaubt ihm, was er sagt, weil er so seriös gekleidet ist."(21)
Sicherlich wird die von Harald Burger geschilderte Zitierweise in den neuen Medien zumeist mit den besten Absichten verwendet. Nämlich um Informationen in einer Weise aufzubereiten, die ihre Aufnahme für den Rezipienten reizvoll und angenehm macht. Die große Gefahr liegt aber darin, daß dieses Verfahren jederzeit auch manipulativ, bewußt verfälschend mit dem Ziel, den Rezipienten irrezuführen oder zu beeinflussen, verwendet werden kann. Und dabei hat dieser im Einzelfall keine Möglichkeit zu erkennen, wie hier mit den Informationen umgegangen wurde, die er vorgesetzt bekommt, da für ihn die Quellen im dunkeln liegen.


5 Ein Leben ohne Intertextualität?

Ich habe versucht, in diesem Text einen Überblick darüber zu geben, was man unter Intertextualität versteht. Dabei bin ich von den beiden gängigen Definitionsweisen von Intertextualität ausgegangen und habe, unter Bezug auf die Metaphern-Definition von Januschek, eine eigene Definition von Intertextualität entwickelt, die mir umfassender erscheint. Diese Definition legte es nahe, im Folgenden zu untersuchen, welche Möglichkeiten für die Markierung von Intertextualitäten es gibt und aus welchen Beweggründen heraus Autoren sie verwenden. Wir haben gesehen: nicht alle diese Beweggründe sind edel. Aus diesem Grund will ich mich zum Abschluß der Frage zuwenden, ob eine Sprache ohne - ganz ohne - intertextuelle Bezüge denkbar, vielleicht sogar wünschenswert wäre. Dieser Gedanke beschäftigte schon zu Anfang dieses Jahrhunderts auch den Dichter Hugo Ball.

5.1 Ein kurzer Sommer der Anarchie - DADA 1916, Aufbegehren gegen das Nachreden
Im Jahre 1916 formiert sich im Umfeld von Hugo Balls Cabaret Voltaire in Zürich die DADA-Bewegung. Am 14. Juli verliest Hugo Ball im Züricher Kunsthaus zur Waag „das erste dadaistische Manifest." Darin versucht er gegen die Tatsache aufzubegehren, daß jede Rede eine Nachrede ist:
„[...] Auf die Verbindung kommt es an, und daß sie vorher ein bißchen unterbrochen wird. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andere erfunden. [...] Ein Vers ist die Gelegenheit allen Schmutz abzutun. Ich wollte die Sprache hier selbst fallen lassen. Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt, wie an Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte. Jede Sache hat ihr Wort, aber das Wort ist eine Sache für sich geworden. Warum soll ich es nicht finden? Warum kann der Baum nicht „Pluplusch" heißen? und „Pluplubasch", wenn es geregnet hat? Das Wort, das Wort, das Wort außerhalb eurer Sphäre eurer Stickluft, dieser lächerlichen Impotenz, eurer stupenden Selbstzufriedenheit, außerhalb dieser Nachrednerschaft, eurer offensichtlichen Beschränktheit. Das Wort, meine Herren, das Wort ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges."(22)
Ausgehend von dieser theoretischen Haltung, schrieb Ball eine Reihe von Lautgedichten, deren bekanntestes wahrscheinlich Karawane ist:

Auf den ersten Blick scheint das Anliegen Balls berechtigt und faszinierend zu sein. Schaut man aber genauer hin, so zeigen sich schnell logische Unstimmigkeiten, denn eine Sprache frei von aller „Nachrednerschaft" wäre eine reine Privatsprache und würde nicht mehr als Mittel der Kommunikation taugen. Auch in den Lautgedichten, als Umsetzung von Balls „Programm", werden diese Probleme deutlich. Ausdrücke wie „jolifanto", „russula" und „grossiga" sind eindeutig Anleihen aus der von Ball so geschmähten „Sprache an der Schmutz klebt", ohne diese Anleihen aber würde das Gedicht seinen Reiz verlieren. Ball selbst wurde sich dieser Ungereimtheiten wohl auch bald bewußt, denn schon nach wenigen Monaten zog er sich von der DADA-Bewegung zurück und widmete sich statt dessen der Mystik.(25)


6 Literaturverzeichnis


7 Fußnoten

(1) Erstmals wurde die Blaue Blume erwähnt in: Novalis: Heinrich von Ofterdingen
(2) vgl. dazu das Kapitel „Über Sprache, Bedeutung und Kommunikation" in Glasersfeld, 1997: S. 211ff
(3) Broich, 1985: S. 31
(4) Broich 1985: S. 31
(5) Januschek 1986: S. 57f
(6) Januschek 1986: S. 58
(7) Januschek 1986: S. 58
(8) Nicht nur die Linguistik, auch alle anderen Wissenschaften, die bislang davon ausgingen, es wäre möglich „wahre" (im Sinne einer Korrespondenz zwischen Wissen und Wirklichkeit) Aussagen über objektive Gegebenheiten, seien diese nun sprachlicher oder stofflicher Natur, zu machen, sind in den letzten Jahren ins Kreuzfeuer erkenntnistheoretischer Kritik geraten. Doch den Begriff der Objektivität aufzugeben, ohne gleichzeitig in die Falle des Solipsismus zu tappen, ist nicht einfach. Die konstruktivistische Denkrichtung stellt einen Versuch dar, der dies bewerkstelligen soll und scheint mir zahlreiche Parallelen zu Januscheks Ausführungen zum Thema Metaphern aufzuweisen. So schreibt Ernst von Glasersfeld, einer der bekanntesten Vertreter des Konstruktivismus in seinem Buch „Radikaler Konstruktivismus": „Was das Wissen angeht, so gewinnen Begriffe, Theorien, Überzeugungen und all die anderen abstrakten Strukturen, die das individuelle Subjekt für viabel befunden hat, einen höheren Grad an Viabilität, wenn erfolgreiche Vorhersagen dadurch ermöglicht werden, daß der Gebrauch dieses Wissens auch den Mitmenschen unterstellt wird. Diese zusätzliche Viabilität läßt sich als eine Form der Intersubjektivität verstehen und bildet das Konstruktivistische Gegenstück der Objektivität."
(9) Mit den qualitativen und quantitativen Kriterien zur Skalierung von Intertextualität beschäftigt sich Petra Muths in ihrem Papier zum Hauptseminar: Metaphern, Anspielungen und andere Arten „nicht-wörtlichen" Sprachgebrauchs - Prof. Dr. Franz Januschek - WS 97/98. Ich möchte deswegen auf dieses Thema hier nicht näher eingehen, sondern mich gleich den verschiedenen Möglichkeiten der Markierung zuwenden.
(10) Die zur Illustration verwendeten Beispiele, stammen zum Teil aus der selben Quelle, zum Teil aus meiner eigenen Erinnerung an gelesene Texte.
(11) Von K.A. Varnhagen, W. Neumann, A.F. Bernhardi und F. de la Motte-Fouqué.
(12) Benn, 1991: S. 50
(13) Brockhaus, 1987: Band 5, S. 231
(14) vgl. Intertextualität und Jugendkultur: Internetartikel
(15) Intertextualität und Jugendkultur: Internetartikel
(16) Intertextualität und Jugendkultur: Internetartikel
(17) Intertextualität und Jugendkultur: Internetartikel
(18) Intertextualität und Jugendkultur: Internetartikel
(19) Harald Burger: Internetartikel
(20) Harald Burger: Internetartikel
(21) Harald Burger: Internetartikel
(22) Ball, 1988: S. 39
(23) Im mir vorliegenden Quellentext verwendete der Dichter das Gedicht ohne Überschrift. In anderen Quellen findet sich die Überschrift. Ich setze sie deswegen hier in Klammern.
(24) Ball, 1988: S. 408
(25) vgl. Ball, 1988: S. 424 -451