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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Abstraktion und Einfühlung

2.1 Voraussetzungen und Ziele

2.2 Einfühlung und Abstraktionsdrang als Vermögen des kunstwollenden Subjekts
2.3 Naturalismus und Stil als objektive Eigenschaften des Kunstwerkes
2.4 Worringers Veranschaulichung seiner Kunsttheorie an ausgewählten Beispielen der Kunstgeschichte
2.5 Affinitäten zu Friedrich Nietzsches ,Geburt der Tragödie`

3. Schlußwort

4. Literaturverzeichnis


1. Einleitung


Mit seiner Dissertation bei Heinrich Wölfflin, die im Jahre 1908 unter dem Titel "Abstraktion und Einfühlung"[1] erschien, gab Wilhelm Worringer dem künstlerischen Bestreben einer ganzen Generation Ausdruck und führte außerdem den Begriff der Abstraktion in die Kunsttheorie ein. Hinsichtlich der Wirkmächtigkeit seiner Theorie konstatierte Worringer selbst rückblickend ein "[...] ganz ungeahntes Zusammentreffen meiner persönlichen Disposition für bestimmte Probleme mit dem Disponiertsein einer ganzen Zeit für eine grundlegende Neuorientierung ihrer ästhetischen Wertmaßstäbe [...]"[2].
Tatsächlich fiel die Veröffentlichung seines Buches mit dem Anbruch der modernen abstrakten Malerei zusammen. Man kann ihm einen bedeutenden Anteil vor allem an der ideologischen Fundierung des Expressionismus nachsagen. Möchte man der Annahme, Worringer habe damals die Entwicklung der Kunst divinatorisch vorausgesehen, nicht folgen, so erscheint wohl die These einer Wechselwirkung von Kunsttheorie und Kunstpraxis um die Jahrhundertwende, wie sie Norbert Schneider formuliert, bezüglich dieses Phänomens am plausibelsten.[3]
Die vorliegende Arbeit nimmt sich zur Aufgabe, die in ,Abstraktion und Einfühlung` entfaltete Theorie in ihren zentralen Zügen wiederzugeben. Dies führt zwangsläufig dazu, daß für den Gesamtzusammenhang weniger bedeutsame Überlegungen Worringers oftmals nicht im einzelnen wiedergegeben werden können, sondern allein deren Ergebnisse Erwähnung finden. Da jedoch auf die entsprechenden Textstellen verwiesen wird, ist es dem Leser freigestellt, seinem Verlangen nachzugehen, möglicherweise bestimmte Schritte in allen Einzelheiten nachvollziehen zu wollen.
Neben dem reproduktiven Bestandteil dieser Arbeit verfolgt ein großer Teil der folgenden Ausführungen die Absicht, wichtige geistes- und kulturgeschichtliche Bezüge herauszuarbeiten, um so Worringers eigene Ausführungen zu erhellen und deutlich werden zu lassen, daß seine Theorie trotz aller Voraussetzungslosigkeit doch nicht im luftleeren Raum hängt, sondern ihren philosophiegeschichtlichen Ort hat. Dies geschieht entweder in Form kleinerer Exkurse beziehungsweise im Falle der Ausführungen zu Friedrich Nietzsche, dessen Buch "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"[4] ich einen großen Einfluß auf Worringer beimesse, in einem eigenen Kapitel.


Zwei zusätzliche Vorbemerkungen müssen an dieser Stelle gemacht werden:
Eine Verständnishilfe für die Überlegungen Worringers liegt darin, sich stets bewußt zu machen, daß Worringer fast immer den umgekehrten Weg geht, den man normalerweise zu gehen gewohnt ist. Worringer richtet sich hiermit gegen ein seinerzeit herrschendes und auch heute noch weit verbreitetes Entwicklungsmodell von Kunst. In seiner Kritik schaut er ,den Dingen in den Rücken`. In dieser Eigenschaft ist er ,aufklärerisch` - ein Attribut, das ihm persönlich vermutlich sehr gefallen hätte. Einige Worte müssen außerdem hinsichtlich seiner methodischen Prämisse ausgesprochen werden.
Worringer vertritt einen völkerpsychologischen Ansatz, d.h. er geht davon aus, daß jedes Volk sich hinsichtlich seiner spezifischen psychischen Disposition von anderen Völkern unterscheidet. Hieraus folgt, daß die Kunst eines Volkes beziehungsweise eines bestimmten Kulturkreises immer das notwendige Resultat ihrer psychischen Voraussetzungen ist, und demnach jedes Volk, d.h. jede ,Rasse`, eine ihr eigene und als solche identifizierbare Kunst hervorbringt. Eine solche Ideologie hinterläßt heutzutage einen allzu bitteren Nachgeschmack, bedenkt man unter anderem, daß bereits im Jahre 1913 Kurt Gerstenberg in seiner Dissertation "Deutsche Sondergotik" von der Gotik als einem "Rassestil" spricht[5].
Doch sollte beachtet werden, daß Worringers Ausführungen gerade nicht in Deutschtümelei ausarten, sondern Ausdruck eines allgemeinen Bestrebens sind, wie es sich zu jener Zeit auch fernab von Nationalismen manifestierte. Worringer betont stets die Wertneutralität seiner Klassifizierungen und wirkt darin in aller Regel auch glaubhaft. Deshalb sollte man bemüht sein, Worringer diesbezüglich nicht zu brandmarken oder ihn falschen Vorwürfen auszusetzen.
Schließlich sollte zudem berücksichtigt werden, daß das empirische Material, von dem Worringers Hypothese ihren Ausgang nimmt, bestehen geblieben ist: Verschiedene Zeiten und Kulturen haben eben unterschiedliche Kunstwerke hervorgebracht. Ob sich heutige Erklärungs- modelle im Kern so sehr von Worringers eigenem unterscheiden, oder aber ob an jene Systemstelle, an der bei Worringer von der ,psychischen Disposition eines Volkes` die Rede ist, nicht einfach nur andere Begriffe, wie zum Beispiel ,Episteme` (Foucoult) oder ,Habitus` (Bordieu), gerückt sind, ist zumindest in Frage zu stellen.

 


2. Abstraktion und Einfühlung
2.1 Voraussetzungen und Ziele
Wilhelm Worringer sieht seine kunsttheoretische Abhandlung aus der Erkenntnis motiviert, daß der Kunstwissenschaftler in der überkommenen Ästhetik kein geeignetes Werkzeug findet, um das einheitsstiftende Moment innerhalb der Heteronomität jener Erscheinungen herauszu- arbeiten, die unter den Oberbegriff ,Kunst` fallen und das Untersuchungsfeld seiner eigenen Disziplin bilden:

"Jede tiefe Revision des Wesens unserer wissenschaftlichen Ästhetik muß zu der Erkenntnis führen, daß sie an den eigentlichen Kunsttatsachen gemessen von überaus beschränkter Anwendbarkeit ist."[6]

Dieses ,Hinterherhinken` der wissenschaftlichen Ästhetik gegenüber der Faktizität von Kunst - ein Eindruck, der sich mit dem Aufkommen der abstrakten Malerei zu jener Zeit besonders frappant dargestellt haben muß - hat zur Folge, daß die mit der Ästhetik untrennbar verbundene Kunstwissenschaft auf unsicherem Fundament steht. Hierin liegt aus kunsthistorischer Perspektive die Rechtfertigung für die Beschäftigung mit den Fragen der Ästhetik. Deren Erörterung muß jedem Versuch, die eigene Disziplin zu begründen, notwendi- gerweise vorangehen. Ansonsten, so Worringers düstere Prognose, werden "objektive Kunst- wissenschaft und Ästhetik [...] in Gegenwart und Zukunft unverträgliche Disziplinen"[7] sein.
Ziel und Zweck seiner ästhetischen Reflexionen ist es demzufolge, jene Bedingungen namhaft zu machen, unter denen etwas zum Kunstwerk wird, also die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst zu analysieren. Indem Worringer mit dieser Fragestellung hinter die Grenzen der Kunstwissenschaft zurückgeht, betreibt er philosophisch gesprochen Wissen- schaftstheorie.
Auf dem so abgesteckten Gebiet sieht er vornehmlich von dem Philosophen Theodor Lipps sowie dem Wiener Gelehrten Alois Riegl bereits einige wesentliche, obgleich unvollkommene Vorarbeitet geleistet, an die es anzuknüpfen gilt. Worringer bezieht sich hierbei maßgeblich auf zwei Schlüsselbegriffe, den auf Lipps zurückgehenden Begriff der ,Einfühlung` und die durch Riegl geprägte Rede vom ,Kunstwollen`.[8]
Die Wirkmächtigkeit, die der Terminus der Einfühlung um die Jahrhundertwende und noch bis in die zwanziger Jahre entfaltete, läßt sich heute kaum noch ermessen. Lipps begründete ihn im Rahmen seiner psychologischen Konzeption einer Ästhetik, die ihrerseits als Reaktion auf den materialistischen Ansatz der Psychophysik Gustav Theodor Fechners zu betrachten ist. Demnach darf man sie wohl im Kontext der Rehabilitation geistig-ideeller Gehalte gegenüber dem Feldzug positivistisch-naturwissenschaftlicher Strömungen ansiedeln.
Als charakteristisch für Lipps gilt die Formorientiertheit seines Ansatzes. Dieses Primat der Form - Worringer wird es übernehmen - führt dazu, daß in seinen Untersuchungen Fragen nach Themen, Stoffen und Sujets nahezu ausgeklammert sind.
Im Rahmen seiner formästhetischen Überlegungen formuliert Lipps die These, daß die Apperzeption eines Gegenstandes der sinnlichen Betrachtung erfolgt, indem sich das Subjekt in ihn ,einfühlt`, das heißt, seine eigene Bewegung und Tätigkeit in die Formen des Gegenstandes projiziert. Dies gilt besonders für die Linie, an deren Beispiel Lipps den Vorgang der Einfühlung erläutert:

"Es ist in dieser [sc. Linie], wenn ich sie betrachte, eine Bewegung, ein sich Strecken, sich Ausdehnen, sich Begrenzen, ein schroffes Einsetzen und Absetzen, oder ein stetiges Gleiten, ein Auf- und Abwogen, ein sich Biegen, sich Schmiegen, ein sich Einmengen, sich Ausweiten."[9]
Es liegt ganz in seiner Absicht, daß die hier von ihm verwendeten Substantive äquivok sind, insofern sie sowohl objektive Eigenschaften der wahrgenommenen Linie bezeichnen und zugleich auf die emotionale Innenwelt des betrachtenden und (ein-)fühlenden Subjekts rekurrieren. [10]
Als Triebfeder des Einfühlungsprozesses bestimmt Lipps das anthropologische ,Bedürfnis der Selbstbetätigung`. Da dieses dem Menschen wesenhaft ist, steht es ihm nicht zur Disposition. Es vermag sich auf zweierlei Art zu konkretisieren, als Gefühl der freien und als Gefühl der nicht freien Selbstbetätigung. Ersteres, von Lipps als ,positive Einfühlung` bezeichnet, ereignet sich, wenn das gegebene Objekt der Betrachtung so beschaffen ist, daß das Subjekt in den Vollzug der Einfühlung einwilligt. In diesem Falle entsteht ein Gefühl der Lust.
Das Gefühl der nicht freien Selbstbetätigung hingegen gilt Lipps als Resultat eines Widerwillen auslösenden Objektes, es bewirkt ein Unlustgefühl. Lipps bezeichnet diese Art der Einfühlung als ,negative Einfühlung`.
Dem Kunstwerk nun eignet, daß es, da sein Anblick stets einen ästhetischen Genuß, d.h. ein Lustgefühl, erzeugt, den Vorgang der positiven Einfühlung auslöst. Wilhelm Worringer paraphrasiert diese Überlegung Lipps prägnant mit dem Worte: "Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß."[11]
Ähnlich wie Lipps polemisiert auch der Kunsthistoriker Alois Riegl gegen jene positivistischen Strömungen, die die Kunst und mit ihr die Kunstwissenschaft nach dem Vorbild der strengen Naturwissenschaften materialistisch zu fundieren versuchen. In diesem Bestreben steht er seinen Zeitgenossen Benedetto Croce und Christian von Ehrenfels geistig nahe. Zusammen bilden sie den Gegenpol zu Gottfried Semper.
Im Gegensatz zu diesem sieht Riegl das Kunstwerk nicht als ein Produkt, welches von den Faktoren Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik determiniert wird, sondern primär als Resultat eines dem Menschen innewohnenden, anthropologisch fundierten Formtriebes, dem sogenannten ,Kunstwollen`, welchem die Semperschen Kategorien gar als hemmende "Reibungskoeffizienten"[12] entgegenstehen. Dieses Kunstwollen fungiert als eine "überindividuelle Basis"[13], es individualisiert sich im jeweiligen ,Zeitgeist` einer Epoche und ist den einzelnen kunstwollenden Subjekten übergeordnet beziehungsweise vorangestellt.

Disziplingeschichtlich ist die von Riegl vollzogene Abkehr von der Betrachtung der materiellen Grundlagen des Kunstwerkes und der Hinwendung zur psychischen Disposition des Künstlers auf der Grundlage eines "vitalistischen"[14] Verständnisses von Kunst von eminent wichtiger Bedeutung. Die Bestimmung von Kunst als dem kunstvollen Beherrschen des Materials tritt hier zugunsten der Idee, daß Kunst ein anthropologisch fundiertes und sich primär physiologisch artikulierendes Grundbedürfnis ist, in den Hintergrund. Kunstgeschichte wird aus diesem anthropologischen Blickwinkel nicht mehr als Geschichte des Könnens respektive der jeweiligen Reproduktionsbedingungen verstanden, sondern als eine Abfolge unterschiedlichen und in dieser Unterschiedlichkeit inkommensurablen Wollens.
Auf dieser Folie wird es möglich, das alte Denkschema von den Verfallszeiten und -stilen, denen die Blütezeiten entgegengestehen, zu überwinden. Riegl gewahrt, daß die Herabwürdigung der Kunstprodukte bestimmter, als dekadent stigmatisierter Epochen, eine unhistorische Verallgemeinerung des im spezifischen Kunstwollens der eigenen Zeit fundierten Schönheitsideals darstellt.
An diese beiden Theoreme, die der philosophischen Schule des Psychologismus zuzurechenen sind und mit denen laut Worringer der "entscheidende Schritt vom ästhetischen Objektivismus zum ästhetischen Subjektivismus"[15] getan war, knüpft sein ,Beitrag zur Stil- psychologie` an.

 


2.1 Einfühlung und Abstraktionsdrang als Vermögen des kunstwollenden Subjekts


Zunächst vollzieht Worringer einen naheliegenden Schritt und verbindet die Überlegungen Lipps und Riegls dergestalt miteinander, daß er das Prinzip der Einfühlung als im Kunstwollen fundiert erachtet. Ferner radikalisiert er Riegls Überlegungen, indem er eine ausdrückliche Trennung der Sphären von Natur und Kunst postuliert.
Letzteres erscheint nur konsequent, denn die Kopplung der Kunst an ein anthropologisch verortetes, absolut gedachtes Kunstwollen läßt die traditionelle Bestimmung ihrer Funktion als Nachahmerin der Natur wenn nicht überflüssig, so doch zumindest nachgeordnet erscheinen.[16]
Demzufolge gelten Worringer auch nur solche menschlichen Hervorbringungen als Kunst, insofern sie dem absoluten Kunstwollen entsprungen sind. Die Werke aber, die die Natur imitieren, ohne daß diesem Akt subjektiv ein Kunstwollen zugrunde liegt, sind nicht der Kunst zuzurechnen, sondern stellen lediglich eine Befriedigung des "Nachahmungstriebes"[17] dar, der nach Worringer dem Menschen in gleicher Weise wie das Kunstwollen wesenhaft zu eigen ist.
Sein eigentlicher Neuansatz geht nun von der Kritik an Lipps Annahme der uneingeschränkten Geltung des Einfühlungsprinzips aus. Worringer insistiert, daß im Vorgang der Einfühlung lediglich eine Objektivation des ihr übergeordneten Kunstwollens erblickt werden dürfe. Der Einfühlungsprozeß sei lediglich als historisch bedingte Erscheinung zu erachten und brauchbar nur im Hinblick auf die griechisch-römische und modern okzidentale, also die am klassischen Ideal orientierte Kunst. Im Falle andersgearteter Kunsterscheinungen jedoch, so zum Beispiel ägyptischer und orientalischer, bleibe uns ein einfühlendes Verständnis verwehrt. Aber obschon die (positive) Einfühlung hier versage, handele es sich doch zweifelsohne um Produkte der Kunst, denn sie entsprächen, da sie dem "absoluten Kunstwollen" entsprungen seien, dem zuvor aufgestellten Kriterium. Offenbar, so Worringers Schlußfolgerung, herrscht hier ein Mangel an Einfühlungpotential.
In diesem Defizit erblickt Worringer dann auch die Ursache dafür, daß das Urteil der Kunstwissenschaft über zahlreiche Epochen und Stile bislang so vernichtend ausfiel, blühte sie doch selbst in einer vom Prinzip der Einfühlung geprägten Zeit und Kultur auf, deren Wertmaßstäbe sie zwangsläufig übernahm.
Aufgrund dieses Befundes moniert Worringer die Unvollständigkeit des modernen ästhetischen Neuansatzes und folgert, daß noch ein zweites, der Einfühlung diametral entgegengesetztes Prinzip existieren müsse. Dieses erblickt er in dem von ihm als ,Abstraktionsdrang` gefaßten Grundsatz: "Als diesen Gegenpol [sc. menschlichen Kunstempfindens] betrachten wir eine Ästhetik, die, anstatt vom Einfühlungsdrang auszugehen, vom Abstraktionsdrang des Menschen ausgeht"[18].
An dieser Stelle ergibt sich für Worringer ein methodisches Problem: In der Absicht, bislang von der Kunstgeschichte geringgeschätzte beziehungsweise vernachlässigte Stile und Epochen zu rehabilitieren, konstruiert er einen Dualismus der Prinzipien von Einfühlung und Abstraktion, deren Ursprung in der Riegelschen Kategorie des Kunstwollens verortet wird. So sehr es im Falle der dem Einfühlungstrieb entsprungenen Werke unbestritten bleibt, daß sie Kunstwerke sind, so wenig ist bislang etwas in Bezug auf die Objekte bewiesen, die aus dem Abstraktionsdrang entstanden sind. Von ihnen wird schlichtweg behauptet, sie seien Kunstprodukte, weil sie ihren Ursprung im absoluten Kunstwollen hätten. Umgekehrt sind sie Emanationen des absoluten Kunstwollens, weil gar nicht erst in Frage gestellt wird ist, daß sie Kunsterzeugnisse sind. Das zu Beweisende wird hier bereits als bewiesen vorausgesetzt. Auf dieser Entwicklungsstufe verläuft Worringers Argumentation zirkulär.
Worringer bedient sich nun eines geschickten Kunstgriffes, um diesem ,circulus vitiosus` zu entgehen. Im Gegensatz zu Riegl erhebt er das absolute Kunstwollen nicht zum obersten unhintergehbaren Axiom seines Systems, sondern bettet es in eine ursprünglichere Kategorie ein. Diese tritt in Gestalt eines psychischen Bedürfnisses auf, in dem Worringer das "tiefste und letzte Wesen alles ästhetischen Erlebens"[19] zu erkennen vermeint. Es handelt sich um das anthropologische "Bedürfnis nach Selbstentäußerung"[20], also das Bedürfnis des Menschen, sich seines als fragmentiert empfundenen Selbst zu entledigen, um so zu einer als erstrebenswert angesehenen Ganzheit zu gelangen. Eine Möglichkeit dieser Identitätsstiftung nun besteht Worringer zufolge im ästhetischen Erleben von Kunst. Kunst ihrerseits definiert sich darin, daß sie die Möglichkeit zur Selbstentäußerung in sich birgt.
Die Erkenntnis, daß der Mensch wesenhaft nicht mit sich identisch ist, wurde in der Geschichte der Philosophie erstmals von Sören Kierkegaard formuliert: Dieser definiert zunächst in Einklang mit der Philosophietradition stehend das Wesen des Menschen als Geist. Doch ist nach Kierkegaard jener für den Menschen immer nur in seiner Konkretisierung da, so daß die Gattungsbestimmtheit Geist sofort rückbezogen werden muß auf das faktische Individuum. Den konkreten Geist bestimmt er nicht als Ich oder Subjekt, sondern als Selbst. Das Selbst stellt keine Einheit dar (wie das Ich), sondern ist ein Verhältnis, aber ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Als ein solches sich-zu-sich-selbst-verhaltendes Verhältnis ist der Mensch in eine prinzipielle Nicht-Identität mit sich selbst und damit in eine Grundbewegtheit gestellt, die Kierkegaard ontologisch ,Existenz` und anthropologisch beziehungsweise psychologisch ,Verzweiflung` nennt. Hieraus folgt, daß nach Kierkegaard jede Existenz wesenhaft ,verzweifelt` ist. Diese Verzweiflung kann zwei Formen annehmen: ,verzweifelt man selbst sein wollen' und ,verzweifelt nicht man selbst sein wollen`. Während nach Kierkegaard die Heilung der Verzweiflung erfolgt, indem sich der Einzelne seine Gründung in Gott bewußt macht und durch das Medium seines Glaubens in einem erst mit dem Tode endenden Prozeß sukzessive er selbst wird, vollzieht sie sich für Worringer im ästhetischen Erleben - eine Möglichkeit, die für Kierkegaard nicht existent ist, da in seinem Denken Ethik und Ästhetik zueinander in einem kontradiktorischen Gegensatz stehen.[21]
Pointiert könnte man davon sprechen, daß bei Worringer die Kunst hier an die Stelle der Religion getreten ist - eine These, die eine merkwürdige Bestätigung findet, erinnert man das Diktum von der ,Kunst als Religionsersatz` im kunsttheoretischen Diskurs um 1900 und zieht jene Textstellen hinzu, an der Worringer Kunst- und Religionsgeschichte parallelisiert[22].
Doch auch andere geistes- und kulturgeschichtliche Bezüge liegen offenbar und seien an dieser Stelle nur angedeutet: So mag man einen Zusammenhang der Idee des zersplitteten Selbst und des Selbstentäußerungstriebes zur faktischen Entfremdungserfahrung des Großstadtmenschen sowie zur Ich-Analyse Sigmund Freuds und außerdem zur Erlösungsvision des um 1910 aufkommenden Expressionismus erkennen. Des weiteren offenbaren sich signifikante Parallelen zu den philosophischen Überlegungen Friedrich Nietzsches, auf die in einem eigenen Kapitel noch gesondert eingegangen wird.
Auf diesem Hintergrund kann Worringer nun behaupten, daß "jeder Stil [...] für die Menschheit, die ihn aus ihren psychischen Bedürfnissen heraus schuf, die höchste Beglückung dar[stelle]"[23]. In diesen "Beglückungswerten"[24], dem, mit Kierkegaard gesprochen, ,Heilmittel der Verzweiflung`, erblickt er den eigentlichen Wert, die Schönheit eines Kunstwerkes.
Indem er im folgenden nun feststellt, daß das Bedürfnis nach Selbstentäußerung zwar überzeitlich ist, jedoch die konkreten künstlerischen Mittel, mit denen der Vorgang der Aufhebung des Selbst initiiert wird, offensichtlich nicht zu allen Zeiten und bei allen Völkern identisch gewesen sind, vollzieht Worringer an diesem Punkt methodisch den Übergang von der anthropologischen zur völkerpsychologischen Ebene. Er behauptet nämlich, daß die Unterschiedlichkeit der künstlerischen Mittel (des Stils) bestimmt sei von der jeweiligen psychischen Disposition eines Volkes. Die psychische Grundhaltung bedingt ihrerseits die Qualität des jeweiligen Verhältnisses von Mensch und Welt und wirkt hierin mittelbar bestimmend auf Religion und Kunst.
An dieser Stelle ist zu beachten, daß es Worringer um die Analyse des primären Verhältnisses zwischen Mensch und Außenwelt geht. Dieses primäre Verhältnis ist als solches nie das Resultat einer intellektuell-reflektierten Auseinandersetzung mit den Außenwelt- erscheinungen, sondern steht dieser als etwas instinktiv Gegebenes vor.
Die mögliche Beschaffenheit des primären Außenweltverhältnisses wird dabei von zwei Extremen markiert:
Der Mensch kann einerseits in vollkommener Harmonie mit seiner Umwelt sein und in ihr einen Spiegel Gottes beziehungsweise - was für Worringer ebenso wie für Feuerbach miteinander identisch ist - eine Widerspiegelung seines Selbst erblicken. Einem so gearteten Verhältnis erwächst der Einfühlungsdrang. Dieser bringt in religiöser Hinsicht einen Pantheismus und auf dem Gebiete der Kunst eine klassische Kunst hervor, wie sie exemplarisch bei den alten Griechen begegnet. Diese Kunstform wird von Worringer als organisch und lebensbejahend beschrieben.
Was nun den Vorgang der Selbstentäußerung anbelangt, so vermag der einzelne Mensch sich angesichts eines organischen Kunstwerkes seines Selbst zu entäußern, indem er sich in es einfühlt, um im Vorgang dieses Einfühlens nicht mehr er selbst, sondern im Kunstwerk zu sein. In diesem Zustand nimmt der Betrachter die festen Grenzen des Kunstwerkes als die eigenen wahr, er fühlt die dem Kunstwerk innewohnende Harmonie. Er objektiviert sich gewissermaßen selbst im Kunstwerk und ist so von seinem individuellen Sein erlöst.
Dem entgegen steht die Möglichkeit eines absoluten Mißtrauens gegenüber den Erscheinungen der Außenwelt. Der Mensch nimmt hierbei seine Umwelt als willkürlich, unberechenbar und deshalb bedrohlich wahr. Er entwickelt eine instinktive Furcht vor ihr, aus der heraus eine "Raumscheu"[25] erwächst. Dies ist die Geburtsstunde des Abstraktionsdranges. Mit seiner Hilfe vermag der Mensch den Außenwelterscheinungen ihre beunruhigende Kontingenz zu nehmen.
Konkret geschieht dies, indem der Künstler sich entweder eine abstrakt-geometrische Welt mit einer völlig eigenen Gesetzmäßigkeit erschafft oder aber, sobald er sich an Gegenständen der äußeren Welt orientiert, dasjenige an ihnen extrahiert, was ihm konstant, d. h. wesenhaft zu sein scheint. Dieses Bestreben führt nach Worringer drei Konsequenzen mit sich: Erstens, die "Annäherung der Darstellung an die Ebene", zweitens die "strenge Unterdrückung der Raumdarstellung" und drittens die "ausschließliche Wiedergabe der Einzelform"[26]. Das Ergebnis stellt sich als eine Kunst dar, die sich in ihrer abstrakten Tendenz anorganisch und lebensverneinend gibt und sich am reinsten in der ornamentalen Kunst des orientalischen Kulturkreises wiederfindet. Auf religiösem Gebiet zeitigt jene disharmonische Grundsituation einen Monotheismus beziehungsweise einen Transzendentalismus, welcher aus einem Grundbedürfnis nach Erlösung resultiert. Aufgrund ihrer orientalisch-semitischen Herkunft steht die christliche Religion in dieser Traditionslinie.
Worringer nimmt außerdem an, daß jener Zustand des Mißtrauens gegenüber der Außenwelt historisch betrachtet der primäre gewesen sein muß. Diese Überlegung erlaubt es ihm, das Angstgefühl als die "Wurzel des künstlerischen Schaffens"[27] auszumachen.
In Bezug auf den Selbstentäußerungstrieb sagt Worringer dem Abstraktionsdrang eine größere Intensität nach.[28] Das Bedürfnis, sich seines Selbsts zu entäußern, gelangt im Abstraktionsdrang zu seiner Befriedigung, indem sich der Einzelne in der Betrachtung des Notwendigkeit und Inkontingenz suggerierenden abstrakten Kunstwerkes von seinem individuellen und zufälligen Sein, von der "scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz"[29], erlöst wird.
Im Kontext dieser These läßt Worringer den wirklichen Anlaß seiner Abhandlung durchscheinen: Er konstatiert hier hinsichtlich seiner eigenen Epoche, auch sie sei von "Unklarheit und Willkür im Weltbild geprägt", jedoch mit dem Unterschied, daß das, "was vorher Instinkt war, [...] nun letztes Erkenntnisprodukt [sei]"[30]. Der moderne Mensch fühle sich gegenüber der Welt verloren - eine Einsicht, die Worringer Arthur Schopenhauer entlehnt.
Hier liegt die Schnittstelle zwischen historischem Interesse und der Diagnose der eigenen Zeit, einer Zeit, die von Zerrissenheitserfahrung und Transzendenzschwund geprägt ist und in der Rückbesinnung auf das Archaische die Ankunft eines ,Neuen Menschen` erwartet.
Obwohl Worringer dies nicht explizit formuliert, so geht doch aus seinen diesbezüglichen Äußerungen deutlich hervor, daß er als die zentrale Ausprägung aller zeitgenössischen Veränderung den Paradigmenwechsels von der Einfühlung zur Abstraktion erachtet.

Zusammenfassend läßt sich sagen: Verschieden geartete Verhältnisse zur Welt haben verschiedene ethnisch wie historisch bedingte psychische Dispositionen zur Grundlage und bringen ihrerseits unterschiedliche psychische Bedürfnisse hervor, die allesamt ihren Ursprung im menschlichen Bedürfnis nach Selbstentäußerung haben. Ihren maßgeblichen Ausdruck finden diese psychischen Bedürfnisse in Religion und Kunst, weswegen ihre qualitative Beschaffenheit sich unter anderem an der konkreten Ausprägung des absoluten Kunstwollens, das heißt am Stil eines Kunstwerkes ablesen läßt. Aus diesen Gründen ist Kunstgeschichte in Worringers Verständnis eine "Psychologie des Kunstbedürfnisses" beziehungsweise "Stilbe- dürfnisses" und als solche identisch mit einer "Geschichte des Weltgefühls"[31]. Da ihm ebenso die Religionsgeschichte als Geschichte des Weltgefühls gilt, existieren seiner Ansicht nach wesentliche Berührungspunkte zwischen Religions- und Kunstgeschichte, zwischen religiöser Verzückung und ästhetischem Genuß. Kunst und Religion rücken in diesem Denken so nahe zueinander, daß sie fast identisch werden und eine Ablösung der Religion durch die Kunst nur noch einen kleinen und konsequenten Schritt darstellt.
2.2 Naturalismus und Stil als objektive Eigenschaften des Kunstwerkes
Den Kategorien der Einfühlung und des Abstraktionsdranges auf der Produktions- beziehungsweise Rezeptionsebene korrespondieren auf der Objektseite die als Naturalismus und Stil bezeichneten Kunstgattungen.
"Den beiden Polen des Kunstwollens, wie wir sie im ersten Kapitel zu definieren und gegeneinander abzugrenzen suchten, entsprechen, auf das Produkt des Kunstwollens angewandt, die beiden Begriffe Naturalismus und Stil."[32]
Nachdem Worringer zunächst beide Begriffe von ihrem Alltagsverständnis abgegrenzt, ordnet er sie im nächsten Schritt zu. Dieser Zuordnung zufolge fallen unter die Gattung des Naturalismus alle Kunstwerke, die aus dem Einfühlungsdrang, unter die des Stils, jene, die aus dem Abstraktionsdrang entstanden sind. Worringer stellt deutlich heraus, daß die Kunstgattungen ,Naturalismus` und ,Stil` nie für sich, sondern immer nur vor dem Hintergrund ihrer psychischen Voraussetzungen existieren. Bislang jedoch, so seine Diagnose, habe die Kunstwissenschaft dies in aller Regel übersehen. Eine Verkehrung der Betrachtungsweise ist die Folge gewesen und hat zwangsläufig zu einer Vielzahl von Fehlurteilen geführt. Zur Veranschaulichung dieser These sollen im weiteren einige der Beispiele, die Worringer diesbezüglich anführt, ergänzend wiedergegeben werden.

Den Begriff des Naturalismus definiert Worringer als "Annäherung an das Organisch-Lebenswahre"[33]. Als eine Realisation des Kunstwollens ist er deutlich von der reinen Naturnachahmung zu trennen, die ihrerseits nicht auf ein Kunstwollen zurückzuführen, sondern der objektive Ausdruck des zuvor erwähnten Nachahmungstriebes ist. Hieraus folgt, daß nach Worringer alle Werke, deren alleiniger Zweck die Nachahmung der Natur ist, nicht unter den Oberbegriff Kunst fallen.
Die Differenzierung zwischen Naturalismus und Naturnachahmung führt zu der paradoxen Situation, daß, obwohl zwei Werke identisch erscheinen, möglicherweise nur das eine von ihnen ,Kunst` genannt werden darf, insofern das andere seine Entstehung keinem Kunstwollen zu verdanken hat, sondern allein mit der Absicht verfertigt wurde, die Natur nachzuahmen[34] - diese Überlegung Worringers mutet zunächst kurios an, erscheint jedoch innerhalb seines stilpsychologischen Ansatzes nur konsequent und bietet bei genauerem Hinsehen einen interessanten Ansatz hinsichtlich der Frage nach der Authentizität eines Kunstwerkes.

Die Blütezeiten des Naturalismus sind für Worringer die Antike und die Renaissance. Deren Rezeption sieht er trotz oder gerade wegen der intensiven Aufmerksamkeit, die die Kunstgeschichte diesen beiden Epochen bislang widmete, von groben Mißverständnissen und Fehlurteilen geprägt. Die Ursache jener Fehleinschätzungen erblickt er - wie üblich - in der wortwörtlich verkehrten Betrachtungsweise, die man schon vor Beginn der Kunstgeschichts- schreibung diesen Epochen entgegenbrachte[35]. Stets bewunderten die Rezipienten nämlich das hohe Maß an Übereinstimmung mit dem Naturvorbild und verloren dabei aus dem Auge, daß es dieser Kunst ihrem Wesen nach eigentlich gar nicht um die Nachbildung der Welt ging. Vielmehr ist die Naturnachahmung als das notwendige Resultat einer Entäußerung des originären Lebensgefühls zu begreifen. Ihr Wesen liegt in einem Nach-außen-projizieren der innerlichen Befindlichkeit, mit dem Ziel, einen "Schauplatz zu schaffen für eine freie ungehemmte Betätigung des eigenen Lebensgefühls"[36]. Innerhalb dieses Erlebens der eigenen Vitalität, der eigenen Körperlichkeit, kann der Mensch jener Epoche sich seines Selbst entäußern. Das Wirkliche beziehungsweise dessen Nachbildung fungiert dabei stets als Mittel, niemals jedoch - zumindest im Falle authentischer Kunst - als Endziel. Worringers Kunstverständnis zufolge steht am Anfang sowohl allen Kunstschaffens wie auch allen Kunsterlebens die Befriedigung archaischer Triebe, und erst an zweite Stelle ein intellektuell-reflektierter Genuß, der sich am analytischen Vergleich zwischen Naturvorbild und Kunstprodukt entzündet. Doch eben diesen geistigen Genuß erhob man, so Worringers, wohl aus Mangel an Wissen um die Triebstruktur des Menschen, zum vorrangigen Ziel und Zweck zunächst der Rezeption von Kunst und bald darauf auch ihrer Produktion. Ihren Kulminus findet die Entwicklungslinie eines so gearteten Kunstverständnisses für ihn in der materialistischen Kunsttheorie seiner eigenen Zeit, die an die Stelle einer Psychologie der Kunst die Beschäftigung mit empirisch meßbaren Tatsachen setzt.
Dem Terminus ,Naturalismus` gegenüber steht der des Stils. Wie bereist erwähnt, steht er in notwendigem Zusammenhang mit dem Abstraktionsdrang und ist ebenso wie der Begriff des Naturalismus von seiner alltäglichen Verwendungsweise abzugrenzen.
Der Abstraktionsdrang wurde von Worringer beschrieben als adäquates Mittel des Menschen, angesichts der ihm bedrohlich erscheinenden Außenwelt Ruhepunkte zu generieren, um sich sodann in diese flüchten zu können. ,Stil` nun bezeichnet jene Kunstgattung, die der Abstraktionsdrang hervorbringt. Analog zum Naturalismus unternimmt Worringer den Versuch einer Genese des Stils:
Hierbei stellt er eine Kunst der "reinen geometrischen Abstraktion"[37], die völlig isoliert von der Natur dasteht, d.h., sich keines direkten Naturvorbildes bedient[38], an den Anfang der Entwicklung. Die nächste Entwicklungsstufe besteht darin, daß sich der Mensch den Objekten seiner Außenwelt zuwendet und diesen in der Kunst die Kontingenz ihrer Erscheinungsweise nimmt. Dies geschieht mittels zweierlei Vorgehensweisen, die lediglich theoretisch separiert werden können: Erstens "durch Ausschließung der Raumdarstellung und durch Ausschließung jeder subjektiven Beimischung"[39], deren Folge die Annäherung der Darstellung an die Ebene ist. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig einen vollständigen Verzicht jedes Hinweises auf die dritte Dimension, vielmehr geht es hier um eine Transformation von Tiefen- in Ebenenrelationen.
Als zweites künstlerisches Medium nennt Worringer die "Annäherung an die abstrakten kristallinischen Formen"[40]. Beide Forderungen sieht Worringer am konsequentesten in der ägyptischen Kunst verwirklicht.
Es bedarf keines außergewöhnlichen Scharfsinns, zu bemerken, daß jene künstlerischen Probleme, die Worringer hier zur Veranschaulichung seiner Theorie anführt, insbesondere die Frage nach der Möglichkeit der Darstellung von Tiefenrelationen in der Ebene, zur selben Zeit in der moderenen Malerei, vor allem in der Frühphase des Kubismus verhandelt wurden. Die nähere Untersuchung dieses Zusammenhanges erweist sich als sehr aufschlußreich, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Einige Zusammenhänge seien jedoch an dieser Stelle skizziert:
Trotz seiner revolutionären Formsprache war der Kubismus nicht voraussetzungslos, sondern prägend von der Malerei Paul Cézannes beeinflußt. Dessen Schaffen wird ungefähr ab dem Jahre 1880 von zwei Forderungen bestimmt. Einerseits ist Cézanne bestrebt, der Zweidimensionalität des Bildträgers gerecht zu werden, da er das Bild gerade nicht im Sinne der Definition Leon Battista Albertis als ,imaginäres Fenster` begreift, sondern den Betrachter auffordert, sich klar zu machen, daß es sich um eine flache Leinwand handelt. Die einfachste und naheliegendste Realisation dieses Postulats wäre eine Flächenkunst. Dem aber widerspricht die zweite Forderung Cézannes, welche aus seinen kunsttheoretischen Überlegungen folgt. Kunst ist in den Augen Cézannes eine exemplarische Darstellung der Natur, weshalb sie folglich auch einen Hinweis auf Räumlichkeit in sich bergen müsse. Unter dieser Perspektive kann sein Schaffen als der Versuch aufgefaßt werden, der Autonomie des Bildmediums bei gleichzeitigem Verweis auf die Wirklichkeit gerecht zu werden.[41]
Picasso und Braque, die Begründer des Kubismus, knüpfen inhaltlich an dieses künstlerische Problem an. Sie verwenden hierbei jedoch ein völlig neues Mittel, die Abstraktion, wobei allerdings beachtet werden muß, daß selbst in den abstraktesten Bildern des Sommers 1910 eine allgemeine Gegenstandsbezogenheit ein wesentliches Charakteristikum der kubistischen Malerei bleibt.
Der frühe Kubismus, d.i. die Phase von 1907 bis Mitte 1910[42], bedient sich nun zur Lösung der zuvor beschriebenen Aufgabe des künstlerischen Mittels der Mehransichtigkeit, d.h., daß mehre Ansichtsseiten eines Körpers zusammen dargestellt werden, die in der Realität aufgrund der Standpunktbezogenheit des Betrachtenden nicht gleichzeitig gesehen werden können. Als Beispiel hierfür mag Braques ,Grand nu` aus dem Jahre 1908 dienen. Das Bild zeigt dem ersten Eindruck nach eine stehende stämmige Frau mit einem Badetuch. Der Hintergrund ist rostrot, der Boden besitzt eine bräunliche Farbe.
Ein genauer Blick jedoch relativiert den ersten Eindruck, denn tatsächlich lassen sich die Gegenstandsbereiche gar nicht voneinander separieren, wo die Bodenzone respektive das Badetuch aufhört und der Frauenkörper beginnt, vermag der Betrachter nicht genau zu sagen. So ist auch nicht mit letzter Sicherheit zu erkennen, ob die Frau liegt oder steht. Die Gegen- standsbereiche sind hier sowohl durch Farb- als auch durch Formanalogien miteinander verklammert. Zudem gewahrt man räumliche Widersprüche, z.B., daß die hintere Gesäßbacke ins rechte Bein übergeht. Max Imdahl äußert sich bezüglich der Relation zwischen Braques Aktdarstellung und der Wirklichkeit, d.h., allgemein gesprochen, zwischen Kunst und Natur folgendermaßen:

"[...] In der mimetischen Darstellungsweise tritt die Schönheit der Frau unter Bedingungen auf, die das absolute Schönsein jeweils relativieren. So ist bereits die absolute Schönheit eines Körperkanons relativiert dann, wenn dieser zum Beispiel - wie notwendigerweise ein einer mimetischen Darstellung- entweder in Vorder- oder in Seitenansicht oder immer nur unter der Voraussetzung einer bestimmten Körperhaltung in Erscheinung kommt. [...] Braque sucht das Absolute der Schönheit, insofern es in der absoluten Schönheit einer Frau gegeben ist, und zwar ersetzt der Maler die Unmöglichkeit einer mimetischen Darstellung der absoluten Schönheit einer Frau durch eine ,neue Art von Schönheit`, welche ein aus dem subjektiven Gefühl des Malers erschaffenes Ausdrucksäquivalent für jene absolute Schönheit ist."[43]


Braque geht es also darum, ein Absolutes darzustellen. Doch erscheint dieses Absolute in seiner Darstellung, so Imdahl weiter, "[...] unter den Erwartungen eines ansichtsbedingt schönen Figurenbildes nicht schön [...][44]. Ersetzt man hier ,ansichtsbedingt` durch ,einfühlend` und zieht ferner jenes frühkubistische Bestreben, ein Naturvorbild von der Relativität seiner realen Erscheinungsweise zu lösen, hinzu, so wird ein Zusammenhang zu Worringers Thesen augenscheinlich. Auch er beschäftigt sich, allerdings im Hinblick auf die ägyptische Kunst, mit der Transformation von Tiefen- in Ebenenrelationen beziehungsweise mit der Realisierung von Flächigkeit bei gleichzeitigem Hinweis auf Räumlichkeit, deren Zweck in der ägyptischen wie in der kubistischen Kunst darin liegt, ein Empirisches ins Absolute zu überführen.
Nach diesem Exkurs empfiehlt es sich, mit der Darstellung von Worringers Thesen fortzu- fahren.
Zunächst bedarf eine zusätzliche Differenzierung, die Worringer im zweiten Teil des ersten Kapitels seines Buches vornimmt, einer Erwähnung, da sie von großer Bedeutung für den folgenden praktischen Teil sein wird.
Die Rede ist von der Unterscheidung zwischen der "Ästhetik der Form" und "ästhetischer Wirkung"[45]. Diese Unterscheidung steht in keiner direkten Beziehung zu den Begriffspaaren von Einfühlung und Abstraktion beziehungsweise Naturalismus und Stil, vielmehr liegt sie ,quer` zu ihnen.
Worringer dekretiert, daß bei jedem Kunstwerk von einer Ästhetik seiner Form gesprochen werden kann, nicht aber zugleich auch davon, daß es eine ästhetische Wirkung besäße. Den Terminus der ,ästhetischen Wirkung` reserviert er, sich auf Kant berufend, für jene Kunsterlebnisse, welche "[...] sich innerhalb der allgemeinen ästhetischen Kategorien [...] abspielen"[46], sprich für jene Kunstwerke, welche allein mittels ihrer Form apriori vorhandene ästhetische Elementargefühle ansprechen. Und auch nur diese Art von Kunst kann Worringer zufolge den Gegenstand ästhetischer-wissenschaftlicher Untersuchung bilden - er stellt dies betontermaßen wertneutral fest.
Sobald nun bei einem Kunstwerk von einer Ästhetik der Form, nicht aber von einer ästhetischen Wirkung gesprochen werden kann, bedeutet dies, daß seine Wirkung nicht formaler, sondern ,literarischer` Natur ist. Dies meint, daß das Kunstwerk komplexe individuelle Gefühle, zum Beispiel persönliche Erinnerungen und Assoziationen, auslöst, anstatt überindividuelle ästhetische Elementarempfindungen zu produzieren. Als Paradebeispiel einer Kunst der ästhetischen Wirkung gilt Worringer die Gotik, mit der er sich unter anderem im praktischen Teil seiner Untersuchung beschäftigt.

 


2.4 Worringers Veranschaulichung seiner Kunsttheorie an ausgewählten Beispielen der Kunstgeschichte


Während Worringer für den theoretischen Teil seiner Analyse den Anspruch (psycho)-logischer Allgemeingültigkeit erhebt, erhält der zweite, applikative Teil lediglich den Status "logische[r] Mutmaßungen"[47]. Dies erscheint nicht weiter verwunderlich, schließlich bewegt sich Worringer hier auf empirischem, also Schwankungen unterworfenen Terrain, innerhalb dessen jene zuvor säuberlich geschiedenen Begriffe sich zumeist ineinander verschlungen und untereinander vermengt wiederfinden.
Worringer widmet sich im Fortgang seiner Untersuchung zunächst der Ornamentik. Aufgrund ihres formalen Charakters sieht er, gemäß seinem Primat der Form, in ihr das spezifische Kunstwollen eines Volkes am augenscheinlichstenen ausgedrückt. Im Zuge dieser Betrachtung entfaltet er die bereits im theoretischen Teil grob angedeutete Entwicklungsthese.
Dieser zufolge liegt der Ursprung aller Ornamentik im geometrischen Stil. Als der "erste Kunststil"[48] ist er spontan entstanden und deswegen auch voraussetzungslos. Aus ihm heraus entwickelt sich, so Worringer weiter, allmählich das Pflanzenornament, worin nun eine Vegetabilisierung der linear-geometrischen Verzierungsweise zu erblicken sei.
Hinsichtlich der Bestandsaufnahme des empirischen Materials stimmt Worringer bis zu diesem Punkt noch mit der gängigen Meinung zeitgenössischer Kunsthistoriker überein. Was ihn nun radikal von diesen unterscheidet, ist seine psychologische Interpretation jenes Vorganges der Vegetabilisierung des linear-geometrischen Ornamentes. Wie so oft verläuft seine Argumentation hier gegenläufig zu den gängigen Erklärungsmodellen.
Weder geht Worringer nämlich davon aus, daß das Eindringen des Pflanzlichen in das Abstrakt-geometrische als Resultat eines naturalistischen Nachahmungsbestrebens zu werten sei, noch schließt er sich der Theorie an, man habe bestimmte Motive wegen ihres Symbolwertes ornamental stilisiert. Zwar bestreitet er nicht, daß jene Motive sehr wohl einen symbolischen Gehalt besitzen, doch hält er diesen für eine Folgeerscheinung, nicht aber für die Ursache der Entwicklung vom Abstrakt-geometrischen zum Pflanzlichen und später zum Figürlichen.
Stattdessen führt seine Überlegung dahin, das Auftauchen pflanzlicher Elemente in der Ornamentik als Übertragung allgemeiner Bildungsgesetze der Natur in die Kunst zu deuten, statt hierin allein die Nachahmung eines konkreten Naturvorbildes zu erblicken. Ebenso wie schon der abstrakte Stil seinerseits eine Übertragung natürlicher Bildungsgesetze (des Anorganischen) darstellt, werden nun im vegetabilen Stil die Gesetzmäßigkeiten des Organischen nachgebildet. Pointiert faßt er diese These in folgenden Worten zusammen:

"Der Prozeß ist also der, daß ein reines Ornament, d.h. ein abstraktes Gebilde, nachträglich naturalisiert wird, und nicht der, daß ein Naturobjekt nachträglich stilisiert wird."[49]

Im Grunde genommen geht es Worringer auch an diesem Punkt erneut darum, gegen die Materialisten polemisierend die ursprüngliche Bedeutung des Mimesis-Begriffes in ihr Recht zu setzen. Diese Intention offenbart sich nicht zuletzt dort, wo er sich auf ein Beispiel aus der Kunsttheorie Arno Holzs bezieht, um gegen dessen Auffassung zu wettern.[50]

Worringer vollzieht nun einen Exkurs und beschäftigt sich mit den Wölfflinschen Begriffen ,Regelmäßigkeit` und ,Gesetzmäßigkeit`.
Heinrich Wölfflin konstruierte auf der Grundlage eines dualistischen Verständnisses von Körper und Geist einen wesentlichen Gegensatz beider Termini. Indem er behauptete, alles Regelmäßige spreche allein den Körper, nicht aber den Intellekt, alles Gesetzmäßige hingegen den Intellekt, nicht aber den Körper an, ordnete er den Begriff der Regelmäßigkeit der Physis und den der Gesetzmäßigkeit dem Intellekt zu. Worringer nun nimmt die Idee einer Einheit von Leib und Seele zum Ausgangspunkt und modifiziert Wölfflins These. Er behauptet, Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit unterschieden sich nicht, wie es Wölfflin annahm, qualitativ, sondern lediglich graduell. Auch sieht Worringer einen Zusammenhang beider Termini mit den Prinzipien von Abstraktion und Einfühlung, wobei er den Begriff der Gesetzmäßigkeit mit dem Abstraktionstrieb, den der Regelmäßigkeit mit dem Einfühlungsdrang in Zusammenhang bringt. Von der Regelmäßigkeit behauptet er ferner, sie habe Ausdruck, während die Gesetzmäßigkeit a priori ausdruckslos sei, womit schließlich noch ein drittes Begriffspaar ins Spiel gebracht wird.
Wozu diese Begriffssystematik letztendlich dient, wird erst gegen Ende seiner Ausführungen vollends deutlich. Vorerst wendet er sie auf die Entwicklung ägyptischer und griechischer Ornamentik an.
Wie schon zuvor angedeutet, wird das ägyptische Kunstwollen vom Abstraktionsdrang bestimmt, auch wenn es sich hier nicht um eine streng linear-geometrische Ornamentik handelt. Worringer spricht von einer "geometrische Gesetzmäßigkeit"[51] des ägyptischen Stils.
Anders in der klassischen griechischen Kunst: Sie steht nicht in der Tradition der ägyptischen Ornamentik, sondern erscheint bei genauer Analyse als eine Synthese aus dem eher abstrakten Diphylonstil und der naturalistischen, d.h. organischen mykenischen Kunst. Letzter Einfluß erhält hierbei ein deutliches Übergewicht. Anstelle der geometrischen Gesetzmäßigkeit der ägyptischen Kunst weist die klassische griechische Kunst Worringer zufolge eine "organische Gesetzmäßigkeit"[52] auf.
Zuletzt widmet er sich schließlich der sarazenischen Arabeske und dem einfachen Bandver- flechtungsornamentsstil des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Bei der Beschreibung der Entwicklung der Arabeske verfährt er ganz analog und beschreibt sie als Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien von Einfühlung und Abstraktion, an dessen Ende ein Ausgleich in Gestalt einer Synthese steht. In diesem Fall dominiert allerdings das Abstrakte.
Das Ergebnis der Untersuchung des Bandverflechtungsornamentes, wie es sich im ersten nachchristlichen Jahrhundert im Norden Europas findet, stellt hingegen einen Sonderfall dar, anhand dessen Worringer zur aspektorientierten Untersuchung von Architektur und Plastik überleitet.
Im Gegensatz zur klassischen griechischen Ornamentik und zur Arabeske sind hier nämlich Naturalismus und Stil zu keiner Synthese gelangt, sondern befinden sich im Zustand der Disharmonie. Ihr Widerstreben ist gleichsam eingefroren worden, nicht jedoch etwa, weil den damaligen Künstlern eine Versöhnung der Prinzipien mißlungen wäre, sondern weil diese Disharmonie in der Kunst den adäquaten Ausdruck eines disharmonischen Lebensgefühls darstellt. In diesem Widerspruch einer "Verlebendigung des Anorganischen"[53] als dem Resultat des Widerstreits von Naturalismus und Stil artikuliert sich laut Worringer die psychische Disposition der nordischen Völker.
Er verdeutlicht diese Überlegung, deren Ziel eine Würdigung der gotischen Kunst sein wird, nun weiter an ausgewählten Beispielen aus Architektur und Plastik sowie an der Nordischen Vorrenaissancekunst:
Zunächst wendet er sich der Skulptur zu. Dies verwundert, möchte man doch zunächst meinen, daß die dieser Kunstgattung eigene rundplastische Darstellung jeglichem Abstraktionsdrang zuwider läuft. Fordert doch dieser, wie man erinnert, eine Gebundenheit an die Fläche, während hingegen "[...] eine freiplastische Darstellung eigentlich ebenso verloren und willkürlich im Weltbild steht wie ihr Naturvorbild [...]"[54].
Worringer benennt nun vier Möglichkeiten, wie sich dennoch an der Skulptur abstrakte Tendenzen realisieren konnten. Da ist zunächst die Möglichkeit, den taktischen Zusammenhangs durch die ungegliederte Körperlichkeit des Materials zu bewahren, wie es sich für ihn an einer archaischen Statue ebenso wie bei Michelangelo oder Rodin zeigt.
Eine weitere Möglichkeit liegt darin, das Organische gewaltsam in kubische Formen zu fassen, wie es bei frühen griechischen und durchweg bei ägyptischen Plastiken zu sehen ist. Die genuin organischen Werte werden so auf eine äußerliche Art ins Anorganische übergeleitet.
Eine spezielle Unterart solch eines "Verbrämens des Organischen durch das Anorganische"[55] sieht Worringer in der Einbeziehung der Plastik in die Architektur. Die Plastik geht dabei ihrer Relativität verlustig, indem sie in ein anderes, gesetzmäßiges System eingebunden wird.
Drittens unternahmen vor allem die Ägypter den Versuch, das Kubische flächenhaft wirken zu lassen. Das evidenteste Beispiel hierfür erblickt Worringer im Typus der Pyramide, "[...] die ebensogut als plastisches Mal wie als architektonisches Gebilde betrachtet werden kann"[56].
Zuletzt schließlich führt Worringer noch die Möglichkeit an, Einzelheiten zu geometrischen Mustern auszuarbeiten, um sie so ins Anorganisch-Abstrakte zu überführen. Diese Art der Stilisierung spielt besonders in der byzantinischen Kunst eine große Rolle, deren Betrachtung er sich intensiv widmet, um von hier den Zusammenhang zur mittelalterlich nordischen Kunst herzustellen.
Die byzantinische Kunst gilt ihm als "Universalerbin der antiken und altchristlichen Kunst"[57]. Seine Analyse ergibt, daß sie ein Konglomerat aus hellenistischen, altchristlichen und allgemein-orientalischen Einflüssen darstellt, also gleichermaßen von organischen (hellenische Tradition) wie abstrakten (altchristlich-orientalische Komponente) Faktoren geprägt ist. Diese beiden Pole ringen miteinander, so daß im Laufe der Entwicklung, angefangen zu theodosianischer Zeit (ca. 400 n.Chr.) über die Herrschaft Karls des Großen (ca. 800 n.Chr.) bis zur Zeit des Makedonischen Kaiserreiches (ca. 1000 n.Chr.), mal das eine Prinzip und mal das andere die Oberhand gewinnt. Zur Zeit der Komnenenkaiser (ca. 1100 n.Chr.) schließlich trägt dann in der spätbyzantinischen Kunst die orientalisch abstrakte Komponente den Sieg davon und wird absolut bestimmend. Als Beispiel führt Worringer hier die Reliefs am Konstantinbogen in Rom an, deren zentrale Merkmale eine "Rückkehr zur Fläche", eine "Unterdrückung des Organischen" und die "kristallinisch-geometrische Komposition"[58] sind.
Im Hinblick auf die Gotik und die ihr vorangehende Romanik sieht Worringer in der spätbyzantinischen Kunst einen prägenden Einflußfaktor. Den anderen, ähnlich starken Einfluß nehmenden Bestandteil, erblickt er in Gestalt der nordischen keltogermanischen Ornamentik, wie sie sich in der Kunst des skandinavischen und irischen Nordens, im Völkerwanderungsstil und auch in der merowingischen Kunst zeigt. Ebenso wie die spätbyzantinische Kunst charakterisiert der geometrisch-abstrakte Stil auch die keltogermanische Ornamentik. Und dennoch herrscht hier ein wesentlicher Unterschied. Worringer bemerkt einen Ausdruck in der keltogermanischen Ornamentik, einen Wert, der seiner Begriffsystematik zufolge eigentlich dem Naturalismus anhaftet und demzufolge im Kontext eines aufs Abstrakte gerichteten Kunstwollens nicht zu vermuten ist. Worringer erklärt diese Zwitterhaftigkeit der nordischen Kunst damit, daß in ihr zwar "das Material zur Abstraktion, nicht aber die Abstraktion selbst gegeben [ist]"[59].
Auch in diesem Fall liegt ist das Kunstwollen das Ergebnis eines bestimmten Verhältnisses zur Welt. Dessen Besonderheit beschreibt Worringer anhand eines Vergleiches mit dem Orient.
Während nämlich für die orientalischen Völker die Zwecklosigkeit jeglichen Erkenntnisversuches festgestanden habe, hätten die nordischen Völker unbewußt stets an die prinzipielle Möglichkeit von Erkenntnis geglaubt, obwohl ihnen ihre Umwelt aktuell bedrohlich erschien. Sie waren eben nicht wie die Völker des Orients von allem Erkenntnisstreben dispensiert. Hieraus folgt, daß ein Gespür für das Organische stets vorhanden und folglich ihr Abstraktionsdrang nicht so stark ausgeprägt gewesen ist. Das künstlerische Ergebnis präsentiert sich - abstrakt formuliert - in Form einer gesteigerten Bewegung (als Ausdruck eines generellen Strebens nach Erkenntnis) auf anorganischer Grundlage (aufgrund der faktischen Schwierigkeit, zu einer Erkenntnis zu gelangen).
Als erstes Ergebnis des Aufeinandertreffens zwischen spätbyzantinischer und kelto- germanischer Kunst erachtet Worringer die Epoche der Romanik.
Nachdem nun im Laufe der weiteren Entwicklung jene in der spätbyzantinischen Kunst enthaltenen und in der Romanik latent spürbaren formalen antiken Einflüsse versiegten, wurde der gotische Stil geboren. In ihm sieht Worringer die Nordische Kunst, deren Wesensart zuvor als "gesteigerter Ausdruck auf anorganischer Grundlage" gefaßt wurde, zur "Apotheose"[60] gelangt. Diese Apotheose besteht nun in dem in der Kunstgeschichte einmaligen Vorgang, daß der an sich anorganische Stil der Gotik eine einfühlende Rezeption hervorruft. Der Anblick einer gotischen Kathedrale erweckt den Einfühlungsdrang, ohne doch selbst organisch zu sein. Aufgrund dieser eigentümlichen Diskrepanz vermag der Betrachtende im Genuß gotischer Kunst keinen Ruhepunkt zu finden, stattdessen fühlt er seine eigene Körperlichkeit ins Ekstatische überhöht, sein eigenes Vitalitätsgefühl ins Pathetische gesteigert. Die gotische Kathedrale stellt gleichsam dritte Möglichkeit zwischen der organischen Tempelarchitektur der Griechen und der ägyptischen Pyramide, zwischen Einfühlungsdrang und Abstraktionstrieb dar. Von allen Kunstgattungen schien die Architektur aufgrund ihrer konstruktiven Bedingungen am geeignetesten, "[...] das Abstrakte expressiv zu machen [...]"[61], weshalb sie im Mittelalter eine so vorrangige Stellung einnahm.
An dieser Stelle liegt es nahe, eine Verbindung zur Glas-Eisen-Architektur um 1900 herzustellen und zu untersuchen, inwiefern die Rezeptionsweise, die Worringer im Hinblick auf gotische Architektur konstatiert, nicht auch auf die Ingenieursarchitektur seiner eigenen Zeit zutrifft. Denn auch sie bietet in ihrer Eigenschaft, eine Dynamisierung des Raumes zu bewirken, dem Einfühlungsvermögen des Betrachters keine Ruhepunkte. Im Gegenteil, sie beschleunigt seine Wahrnehmung, so daß auch von dieser Architektur behauptet werden kann, sie mache, indem sie die Affekte des Betarchters anspricht, ihr abstrakt-konstruktives Element expressiv.
Eine ausführliche Betrachtung jener Parallelen würde das Thema einer eigenen Arbeit bilden, es soll deshalb bei diesen skizzenhaften Andeutungen belasssen werden.
Abschließend wirft Worringer noch einen letzten Blick auf die mittelalterliche Plastik, um hieran zu analysieren, auf welche Art und Weise jene Tendenzen, wie er sie an der gotischen Architektur aufgewiesen hat, sich hier manifestiert haben.
In ähnlicher Weise wie in der romanischen Architektur war der griechisch-römische Einfluß auch in der romanischen Skulptur noch spürbar. Erst in dem Moment, an dem der Schwung der antiken Gewänder einem nicht mehr am Naturvorbild erklärbaren Eigenleben der Linie wich und die Figuren in das architektonische System der Gotik eingefügt wurden beziehungsweise sich diesem unterordneten, war die gotische Plastik geboren.
Doch äußert sich an der gotischen Plastik noch etwas Spezifisches, was in der Architektur nicht auftaucht. Es ist der "charakterisierende Nachahmungstrieb"[62], der sich Worringer zufolge im Realismus der Köpfe der Figuren ausdrückt. Dieser ruft eine ,literarische` Wirkung hervor, da er - man erinnere sich an voranliegende Ausführungen - nicht an die apriori vorhandenen Elementargefühle appelliert. Demzufolge steht in der gotischen Skulptur die anorganisch-gesteigerte Bewegung des Gewandes dem sich im Charakteristischen artikulierenden Naturalismus beziehungsweise Realismus des Kopfes gegenüber[63]. In einem ,Abfärben` dieses Naturalismus auf den Körper der Figuren meint Worringer die Initialzündung für die Entstehung der Renaissance erkennen zu können - eine These, die mehr als spekulativ erscheint - und schlägt so, seine Ausführungen abschließend, den Bogen zu dieser Epoche.

Im folgenden Kapitel soll nun abschließend noch ein Blick auf jenen Philosophen genommen werden, dessen Einfluß auf die Gedanken von ,Abstraktion und Einfühlung` sich als maßgeblich erweisen wird. Die Rede ist von Friedrich Nietzsche.
Neben einigen inhaltlichen Übereinstimmungen zeigen sich vor allem strukturelle Parallelen zu Nietzsches ,Geburt der Tragödie`, deren Aufdeckung den Schwerpunkt der folgenden Analyse bilden wird.

 


2.5 Affinitäten zu Friedrich Nietzsches ,Geburt der Tragödie`


In seiner 1871 erschienenen Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"[64] gibt Nietzsche vor dem Hintergrund einer Kritik am klassisch-humanistischen Griechenland-Ideal, welches seinerzeit die Vorstellung des deutschen Bildungbürgertums und auch Nietzsches eigene Disziplin, die Altphilologie, beherrschte, eine Neuinterpretation der griechischen Kultur. Da für Nietzsche Kunst das zentrale Phänomen des Lebens überhaupt darstellt, gilt sein Augenmerk vorrangig der griechischen Kunst. Nietzsche sieht sie bestimmt vom ästhetischen Dualismus zweier Prinzipien: dem Dionysischen und dem Apollinischen.
Das Apollinische, abgleitet vom Sonnengott Apoll, bezeichnet die Kunst des Bildners, die nach Nietzsche eine Welt des Scheins und der Harmonie ist. Das Apollinischen beschreibt ein ,principium individuationis`, also ein Verfahren der Differenzung, ebenso wie ein Verfahren der Repräsentation, denn es etabliert einen Schein über einer zweiten Welt. Diese zweite Welt ist eine Welt des Grauens, es ist die Welt des Dionysischen, d.h. des Rauschhaften und Ursprünglichen, des dunklen Urgrundes. Das Dionysische, benannt nach dem Gott Dionysos, ist dem Apollinischen entgegengestellt, insofern es das Subjektiv zu völliger Selbstver- gessenheit steigert und das ,principium individuationis` in kollektiven Handlungen wie Chorgesang und Tanz wieder aufhebt. Nietzsche formuliert diese Verhältnis in seiner geschichtlichen Entwicklung folgendermaßen:

"[...] beide so verschiedene Triebe gehen neben einander her, zumeist im offenen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort ,Kunst` nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen , Willens` miteinander erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen."[65]

Die attische Tragödie stellt demnach für Nietzsche die Apotheose des griechischen Kunstschaffens dar, da in ihr jene beiden so gegensätzlichen künstlerischen Prinzipien einer idealen Vereinigung zugeführt worden sind.
Diese nur grobe und unvollständige Skizze der Theorie Nietzsches mag genügen, um an dieser Stelle den Vergleich mit Worringer einzuleiten.
Auf den allerersten Blick spräche einiges dafür, das Prinzip des Apollinischen mit dem der Einfühlung und das Dionysische mit dem Abstraktionsdrang in direkte Verbindung zu bringen. Doch zeigt eine genauere Betrachtung, daß diese Parallele nur oberflächlicher Natur ist und einer kritischen Überprüfung nicht standhält. So haben zwar das Dionysische und der Abstraktionsdrang gemeinsam, daß sie beide etwas Ursprünglich-archaisches und zugleich zutiefst Disharmonisches bezeichnen, außerdem, daß das Subjekt sich ihrer bedienend eine Aufhebung seiner Individualität zu initiieren vermag, doch unterscheiden sich auf der anderen Seite beide Prinzipien in wesentlichen Punkten voneinander. Beispielsweise darin, daß Worringer das Abstraktionsprinzip keinesfalls als prägend oder charakteristisch für die griechische Kultur erachtet, wie dies Nietzsche tut. Auch konstruiert Nietzsche keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verhältnis der Griechen zur Welt und dem Vorherrschen eines bestimmten Prinzips.
Noch auffälliger werden die Differenzen, vergleicht man das Apollinische mit dem Einfühlungsdrang. Zwar etablieren beide eine Welt des Harmonischen, des ,schönen Scheins`, während jedoch ebenso wie im Abstraktionsdrang auch im Einfühlungsdrang ein Mittel zur Überwindung des ,principium individuationis` liegt, fungiert das Apollinische gerade als der Inbegriff desselben. Zuletzt darf nicht außer acht gelassen werden, daß den Gegenstand der Untersuchung im Falle Nietzsches die Tragödie, bei Worringer Bildende Kunst und Architektur darstellen, denen Nietzsche seinerseits eine nur marginale Bedeutung beimißt.

Die entscheidenden Parallelen beider Theorien liegen demzufolge weniger in der unmittelbaren Übernahme von Gedankengut, sondern betreffen, wie ein genauer Blick zeigen wird, ihre Architektur.
Zunächst ist es die eigentümliche Paarung von historisch-wissenschaftlichem Interesse und dem Anliegen der Kritik der eigenen Zeit, die Nietzsche und Worringer miteinander verbindet. Beiden geht es um eine Umwälzung kultureller Werte, die sie als überholt erachten. So spricht Worringer verächtlich von der Renaissance als der Epoche der "großen Bürgerlichkeit"[66], einer Bürgerlichkeit, von der er zweifelsohne auch seine eigene, "vom Kunstinstinkt verlassene Zeit"[67] geprägt sieht. Nietzsche seinerseits verachtet die Gründerzeitkultur als ,Kultur des reinen Scheins` und des Epigonentums. Im Grunde genommen gilt die Kritik beider der Ästhetik Hegels, dessen Annahme, im Scheinhaften eines Kunstwerkes scheine Wahrheit auf, sie radikal ablehnen und der Ästhetik des Scheins eine Ästhetik des Ursprungs gleichberechtigt gegenüberstellen.
Im Rahmen dieser Kritik ist Nietzsche wie Worringer nicht zuletzt auch daran gelegen, eine Neuorientierung ihrer eigenen wissenschaftlichen Disziplinen herbeizuführen. Nietzsche will die Altphilologie von der Dominanz des klassisch-humanistischen Griechenland-Ideals Winkelmanns befreien, Worringer will dies letztlich auch für die Kunstgeschichte erreichen und polemisiert außerdem gegen die Herrrschaft von Positivismus und Materialismus, den er durch die Schüler Gottfried Sempers vertreten sieht.
Strukturell weisen beide Theorien drei beziehungsweise vier Ebenen auf.
Im ersten Schritt wird eine klare Distinktion der beiden Elemente respektive Prinzipien vorgenommen, das Apollinische wird klar vom Dionysischen, der Einfühlungsdrang deutlich vom Abstraktionstrieb beziehungsweise der Naturalismus vom Stil unterschieden.
Auf der zweiten Ebene findet dann etwas statt, was man als ,Reentry-Figuren`, d.h. als Wiedereintrittsfiguren bezeichnen kann, die Variationen ermöglichen. Es kommt zu Vermisch- ungen beider Prinzipien, so zum Beispiel ,das Dionysische im Apolinischen` oder ,der vom Abstraktionstrieb beinflußte Naturalismus` etc.
Diese Wiedereintrittsfiguren gehen mit einer Verzeitlichung beider Prinzipien einher, eine Geschichte beider Prinzipien wird erzählt und verbunden mit einer Kritik der eigenen Zeit beziehungsweise der eigenen Zivilisation. Dies hat zur Folge, daß beide Kategorien sowohl geschichtsphilosophisch als auch typologisch gebraucht werden, wodurch eine klare Unterscheidung ihrer aktuellen Verwendungsweise nicht immer möglich ist.
Am Ende der Theorie steht dann die Figur der Apotheose, in der Ursprung und Telos zusammenfallen. Bei Nietzsche findet sie sich in der attische Tragödie, bei Worringer in der gotischen Architektur.

 


3. Schlußwort


Im Vorwort zu seinem Buch "Formprobleme der Gotik" behauptet Wilhelm Worringer im Hinblick auf die Arbeit des Kunsthistorikers folgendes:

"Sobald der Historiker über die bloße Eruierung und Fixierung der historischen Fakten hinaus zu einer Interpretation dieser Fakten strebt, kommt er mit bloßer Empirie nicht mehr aus. Hier muss er sich seinen divinatorischen Fähigkeiten überlassen. Sein Arbeits- prozeß ist hier der, aus dem vorliegenden toten Material auf die immateriellen Voraussetzungen zu schliessen, denen es seine Entstehung verdankt. Das ist ein Schluß ins Unbekannte, Unverkennbare hinein, für den es keine andere Sicherheit gibt als die intuitive."[68]

Diese ,divinatorische` Vorgehensweise, die Worringer hier beschreibt, erweist sich als für sein gesamtes Schaffen programmatisch, sie prägt bereits seine Dissertation. Jede Kritik wird hier ansetzten müssen, denn in einer solchen Methodik findet sich die Ursache dafür, daß Worringer insbesondere im praktischen Teil von ,Abstraktion und Einfühlung` die Bahnen historischen Erkenntnisgewinns verläßt und ins Spekulative abgleitet. Exemplarisch hierfür ist die Steigerung der Sprache ins Pathetische gegen Ende seiner Untersuchung, sie steht gewissermaßen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Plausibilität des Inhalts. Vor allem im praktischen Teil der Dissertation werden komplexe historische Prozesse über weite Strecken einer starken Schematisierung unterworfen, um sie dem zuvor im theoretischen Teil entworfenen Systems gefügig zu machen.
Freilich bedurfte die materialistische Schule Sempers eines Korrektivs, doch bevor ein vernünftiger Mittelweg zwischen dem Versuch, das Phänomen Kunst als mathematische Summe seiner materiellen Bedingungen zu begreifen und dem, es aus einem enthistorisierten ,Wesensbegriffes` zu erklären, gefunden werden konnte, schlug mit Worringer das Pendel in nochmals zur letzteren Möglichkeit hin.
Doch soll hier auch über das Verdienst Worringers gesprochen werden. Überzeugend und aus diesem Grunde wohl historisch so erfolgreich ist vor allem der theoretische Teil seiner Schrift. Wie die vorliegende Arbeit aufzuzeigen versucht hat, gelingt es Worringer hier, unterschiedlichste geistes- und kulturgeschichtliche Einflüsse mit eigenen Gedanken zu vermischen und zu einem weitestgehend allgemeinverständlichen und konsistenten System zusammenzufügen. Selbstverständlich geht mit der Allgemeinverständlichkeit unweigerlich einher, daß viele jener Theorien, die Worringer sich zu eigen macht, von ihm stark vereinfacht wiedergegeben werden, nicht selten entsteht so ein ;schiefes Bild'. Auch gewinnt der Leser oftmals den Eindruck, daß sich Worringer stets nur jener Teile einer Theorie bedient, die ihm für das eigene Vorhaben nützlich erscheinen, den Rest aber ausblendet. In dieser Vorgehens- weise, welche durchaus ,ekklektizistisch` zu nennen ist, ist Worringer ganz Kind seiner Zeit, gegen deren Epigonentum er ironischerweise doch gerade angetreten ist.
Demgegenüber darf nicht übersehen werden, daß es vermutlich gerade jenes Epigonenhafte und Trivialisierende gewesen ist, das Worringers Schrift zu ihrer Popularität verholfen hat. Das diese Popularität bis auf den heutigen Tag ungebrochen ist, beweisen die Spuren, die ,Abstraktion und Einfühlung` selbst noch in der Werken der Poststrukturalisten hinterlassen hat.

Viele der Einflüsse, die Worringers Theorie in sich aufgesogen hat, konnten innerhalb des begrenzten Rahmens dieser Arbeit nur angedeutet werden. An manchen Stellen wäre eine weitere Ausarbeitung wünschenswert, so zum Beispiel hinsichtlich des Zusammenhanges zum Kubismus und zur modernen Glas-Eisen-Architektur.
Andere Aspekte konnten noch nicht einmal eine Erwähnung finden, wie etwa die Frage nach dem Einfluß Sigmund Freuds und Arthur Schopenhauers. Angesichts dessen, daß Worringers Werk bislang wissenschaftlich kaum erschlossen worden ist, eröffnet sich hier ein weites Forschungsfeld.

 


4. Literaturverzeichnis


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Bast, Rainer, Sören Kierkegaard. In: Handbuch Philosophie. - Hamburg: Hoffmann und Campe 1998.

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Schneider, Norbert, Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. - Stuttgart: Reclam 1996.
Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. - Amsterdam: Verlag der Kunst 1996 [11908].

Ders., Formprobleme der Gotik. - München 1912.


[1] Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. - Amsterdam 1996 [11908].
[2] Ebd., S.7.
[3] Schneider, Norbert, Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. - Stuttgart: Reclam 1996, S.139.
[4] Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. - Stuttgart: Reclam 1993 [11871].
[5] Gerstenberg, Kurt, Deutsche Sondergotik. Eine Untersuchung über das Wesen der deutschen Baukunst im Mittelalter. - München 1913, S.115.
[6] Worringer, Wilhelm, Von Transzendenz und Immanenz in der Kunst, in: Abstraktion und Einfühlung. - Amsterdam: Verlag der Kunst 1996 [31910], S.175. Der Aufsatz erschien erstmals 1908 in der von Max Dessoir herausgegebenen Zeitschrift für Ästhetik und angewandte Kunstwissenschaft.
[7] Ebd.
[8] Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Schneider, Norbert, Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. A.a.O., S.134ff. sowie: Kultermann, Udo, Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft. - München: Prestel 1996 [Wien; Düsseldorf 11966], S.149ff. und: Kemp, Wolfgang, Alois Riegl. In: Dilly, Heinrich, Altmeister moderner Kunstgeschichte. - Berlin: Reimer 1990, S.37ff.
[9] Lipps, Theodor, Ästhetik. In: Systematische Philosophie, von W.Dilthey, A.Riehl, W.Wundt, W.Ostwald, H.Ebbinghaus, R.Eucken, A.Riehl, W.Münch; Th.Lipps. - Berlin;Leipzig 1907, S.351. [Ergänzung von mir, M.D.].
[10] Hingewiesen sei an dieser Stelle auf die auffällige Nähe zur Philosophie Immanuel Kants. Der Begriff der Einfühlung befindet sich bei Lipps an derselben Systemstelle, an der die Kategorien der Wahrnehmung im Lehrgebäude Kants stehen. Beide vertreten die Ansicht, das Objekt der Wahrnehmung werde in seiner spezifischen Erscheinungsweise vom Subjekt konstituiert. Verkürzt kann man von einer Psychologisierung der Kantischen Kategorien durch Lipps sprechen.
[11] Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.35.
[12] Kultermann, Udo, Geschichte der Kunstgeschichte. A.a.O., S.154.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O. S.36.
[16] Wenn Worringer hier gegen den Begriff der Nachahmung wettert, so hat er dabei dessen eng gefaßte Interpretation durch naturalistische beziehungsweise materialistische Strömungen vor Augen. Ohnehin ist dieser Terminus in der Geschichte der Kunsttheorie oft heftig umstritten gewesen, da das griechische Wort ,Mimesis`, dessen Übertragung er darstellt, weitaus mehr bezeichnet als nur das Kopieren eines materiell Vorhandenen. Freilich vermag Worringer seine eigene Forderung nicht konsequent durchzuführen - die Behauptung Natur und Kunst ständen zueinander in keinerlei Verbindung, muß auch ihm absurd erschienen sein - , doch ist ihm auch eigentlich gar nicht wirklich daran gelegen, Natur und Kunst voneinander isoliert zu betrachten. Vielmehr will er den Begriff der Naturnachahmung weiter fassen als dies die materialistischen Kunsttheorie tut, womit er im Grunde genommen der originären Bedeutung von ,Mimesis` näher kommt.
[17] Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.61.
[18] A.a.O., S.36. [Ergänzung von mir, M.D.].
[19] Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.59.
[20] Ebd., S.59.
[21] Vgl. hierzu Bast, Rainer, Sören Kierkegaard. Handbuch Philosophie. - Hamburg: Hoffmann & Campe 1998. Der Lexikonartikel ist bislang noch nicht publiziert, er wurde mir freundlicherweise vom Autor bereitgestellt, so daß ich ihn bei Bedarf zugänglich machen kann.
[22] Vgl. Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.46 und S.147f.
[23] Ebd., S.47.
[24] Ebd., S.46.
[25] Ebd., S.83.
[26] Ebd. S.56.
[27] Ebd., S.49.
[28] Vgl. Ebd., S.59.
[29] Ebd., S.59.
[30] Ebd., S.52.
[31] Ebd., S.46.
[32] Ebd., S.61.
[33] Ebd., S.63.
[34] Vgl. Ebd., S.61.
[35] Bereits Vitruv ist Worringer zufolge vor solchen Fehlurteilen nicht gefeit gewesen. Vgl. Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.115.
[36] Ebd., S.63.
[37] Ebd., S.71.
[38] Dem Vorbild der Natur folgt sie allerdings in einem höheren Sinne, indem sie ihre Gesetze zur Bildung anorganischer Materie, das heiß das Prinzip ihrer schöpferischen Tätigkeit, nachahmt .Vgl. Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.71f.
[39] Ebd., S.74.
[40] Ebd., S.74.
[41] Vgl. hierzu Badt, Kurt, Cezanne. München: Prestel 1956.

[42] Ich beziehe mich hierbei auf Douglas Cooper, der der gängigen Differenzierung zwischen der Phase des analytischen und des synthetischen Kubismus aus guten Gründen nicht folgt und ihr die neutralere Unterscheidung zwischen Früh-, Hoch- und Spätkubismus entgegenstellt. Vgl. hierzu: Cooper, Douglas, The essential Cubism. - New York 1983.

[43] Imdahl, Max, Bildautonomie und Wirklichkeit. Zur theoretischen Begründung moderner Malerei. - Mittenwald: Mäander 1981, S.20.
[44] Ebd., S.21.
[45] Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.66.
[46] Ebd., S.66.
[47] Ebd., S.55.
[48] Ebd., S.90.
[49] Ebd., S.99.
[50] Vgl. Ebd., S.93. Worringer führt hier die Kritzeleien eines Kindes als Exempel einer nicht dem Kunstwollen entsprungenen Naturnachahmung an. Das Beispiel selbst geht auf Arno Holz zurück, der in einer 1891 erschienen Schrift Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze die Ansicht vertritt, daß in jenen Kritzeleien der Archetypus einer künstlerischen Tätigkeit zu erblicken sei. Von dieser Beobachtung ausgehend induziert er seine berühmt gewordene Formel Natur=Kunst-x.
[51] Ebd., S.112.
[52] Ebd.
[53] Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.118.
[54] Ebd., S.125.
[55] Ebd., S.130.
[56] Ebd., S.133.
[57] Ebd., S.137.
[58] Ebd., S.149.
[59] Ebd., S.154.
[60] Ebd., S.158.
[61] Ebd., S.162.
[62] Ebd., S.165.
[63] Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, ob Worringer mit seiner Rede von einem ,sich im charakteristischen äußernden Nachahmungstrieb` jenes anthropologische Vermögen meint, das er zuvor als nicht-künstlerisch bezeichnet hat, oder ob sich hier nicht vielleicht eine bislang nicht erwähnte Synthese zwischen nicht-künstlerischem Nachahmungstrieb und Einfühlungsdrang zeigt - für diese Möglichkeit spräche, daß der ,charakterisierende Nachahmungstrieb` mit den Begriffen ,Naturalismus` und ,Realismus` in Verbindung gebracht wird, die ja eigentlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Einfühlungsdrang stehen.

[64] Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. A.a.O.

[65] Ebd., S.19.
[66] Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung. A.a.O., S.168.
[67] Ebd., S.116.
[68] Worringer, Wilhelm, Formprobleme der Gotik. München 1912, S.3.