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1. Prolog als Vorrede
Die vorliegende Ausarbeitung meines Referats über den ersten Frauenroman in der deutschen Literatur, die Geschichte des Fräuleins von Sternheim von Sophie von La Roche, entspricht nicht dem Format herkömmlicher Hauptseminararbeiten im Fach Germanistik. Sie tut dies bewußt nicht. Der Grund liegt vor allem in der Abneigung des Verfassers, zur Vermehrung trockener, ungern zu lesender Abhandlungen in der germanistischen Sekundärliteratur beizutragen. Der im folgenden meist als Sternheim bezeichnete Roman ist ein literarisches Werk, und noch so viele geistreiche Schriften können dem literarischen OEvre und der Intention der Autorin nicht gerecht werden. Schließlich kann die - erst seit 1775 adelige - La Roche nicht mehr für sich selbst sprechen. Oder doch? Möglicherweise in der Fiktion? Wie wäre es, wenn im literarischen Weltenraum der Fiktion eine Schriftstellerin zu Wort kommen könnte, die bereits seit 191 Jahren tot ist? Sie könnte uns berichten, wie ihr Erstlingsroman zustande gekommen ist, welche Geschichte in ihm steckt und welche Gefühle und Gedanken sie mit der Sternheim verbunden hat. Den Inhalt würde sie allerdings nur am Rande direkt zitieren, denn schließlich kennt sie ja ihr Werk, und jeder Interessierte kann es noch heute nachlesen. Also, ziehen wir den Vorhang auf und erteilen wir Sophie La Roche das Wort...

2. Die Geschichte (von) der Geschichte des Fräuleins von Sternheim
Es war ein trüber, verregneter Novembertag des Jahres 1771. Der Wind blies schon den ganzen Tag stetig vom Rhein her, aus der Richtung der nahen Weinberge, in denen das rostrote Laub der Rebzweige an die bunten, entschwundenen Tage des Herbstes erinnerte. Die schwachen Strahlen der bereits kraftlosen Sonne bemühten sich, zwischen den schweren, brokatenen Vorhängen hindurch in das Arbeitszimmer von Georg Michael Frank, genannt La Roche, zu dringen. Drinnen war eine nicht mehr ganz junge Frau in die Lektüre eines Briefes vertieft. Das kastanienbraune Haar über dem kleinen Kopf hatte sie sorgfältig in einem weißen Flügelhäubchen versteckt, nur hier und dort lugten einige Strähnen über das anmutige Gesicht. Schlank und zart gebaut, eher groß als klein, machte Sophie La Roche, die Hausherrin des Anwesens in Ehrenbreitstein, auch am Schreibtisch eine würdige Figur. Sie war eine schöne, vortrefflich gewachsene Dame, die trotz ihrer fast 41 Jahren gut und gerne zehn Jahre jünger wirkte[1]. Ihre regelmäßigen Züge und ihre Gewandtheit beim Tanzen[2] zogen ihr bei offiziellen Gesellschaften schnell die bewundernden Blicke anderer zu.
Sophies Gesicht beim Lesen des Briefes verriet keine Regung. Ob Freude oder Leid, nie ließ sie sich aus der Ruhe bringen, immer galt es, das Bild der in sich ruhenden, Würde ausstrahlenden Hofdame zu bewahren. Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden, ohne zu leiden; den Scherz ihres Mannes, die Zärtlichkeit ihrer Freunde, die Anmut ihrer Kinder, alles erwiderte sie auf die gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne daß ihr in der Welt durch Gutes und Böses ... wäre beizukommen gewesen[3].
Allerdings hatte sie heute auch - trotz des wenig einladenden Wetters draußen - allen Grund zur Freude. Christoph Martin Wieland, ihr alter Jugendfreund und kurzzeitiger Verlobter, hatte aus Erfurt geschrieben. Einen Moment blitzte Wehmut bei Sophie auf. Heiß hatte sie den drei Jahre jüngeren, damals 17-jährigen Vetter geliebt, ihm ewige Treue geschworen. Das war vor ziemlich genau zwanzig Jahren gewesen. Aber wie die Männer nun mal waren: Erst hatte Wieland noch herzensinnige Briefe aus seinem Studienort Tübingen geschrieben. Doch als er 1752 seinem Lehrmeister Johann Jakob Bodmer als Schüler nach Zürich folgte, galt ihm offensichtlich die Literatur mehr als sie, Sophie Gutermann. Doch war die La Roche nun froh über den zu Ruhm gekommenen Vetter, der vor knapp zwei Jahren, 1769, zum außerordentlichen Professor der Philosophie und Mainzer Regierungsrat an der kurmainzischen Universität Erfurt berufen worden war[4]. Mit seiner "Geschichte des Agathon" hatte er drei Jahre zuvor (1769) den ersten großen Bildungsroman deutscher Sprache verfaßt, einer Sprache, die für Sophie immer etwas fremd geblieben war. Nun hatte sich der Jurist und Schriftsteller Wieland auch ihrer Sternheim angenommen - ihr erster Roman!
Gut eine Woche nur war es her, daß sie von der Verlagsdruckerei Weidmanns Erben und Reich in Leipzig sechs Exemplare des zweiten Bandes[5] ihres Erstlingswerkes zur Durchsicht erhalten hatte. Endlich sollten beide Teile als ein gedrucktes Werk zusammengeführt werden, endlich! Was aber würde mit den Druckfehlern in diesem Band sein, hatte Sophie sich immer wieder gefragt. Doch Wielands Brief, in seiner gradlinigen Handschrift geschrieben, ließ Sophie einen Stein von der Brust fallen. "Es gibt nicht viele [Druckfehler] darin, und es erstaunt mich, daß es nicht zehnmal soviel sind. Ein Werk ohne Druckfehler wäre eines von den Dingen, die man noch nie gesehen hat"[6].
Was Sophie La Roche als "Drukfehler" bezeichnete, sind nach heutigem Verständnis redaktionelle, sinneingreifende Änderungen, die wohl auf Wieland zurückgingen, der das Manuskript stets ,mit der Feder in der Hand` (Sternheim 353) las. Dies war im ausgehenden 18. Jahrhundert eine übliche, notwendige redaktionelle Maßnahme, um mundartliche Ausdrücke an die - sich noch nicht endgültig durchgesetzt habende - hochdeutsche Schriftsprache anzupassen. Dies galt auch für Sophie La Roche - die Erhebung ihres Mannes in den (Verdienst-)Adelsstand erfolgte erst 1775 - , die "aus dem Grenzgebiet des sich der einheitlichen deutschen Hochsprache am meisten widersetzenden Schwaben und Bayern" (ebd) stammte. Ein Beispiel für die sich aus der regionalen Abstammung ergebenden Änderungen ist das Endungs-e in der Deklination und Konjugation. Sophie ließ es in ihren Briefen als bayerische Schwäbin - sie stammte ja aus Kaufbeuren im Allgäu und verbrachte ihre Jugend in Augsburg - stets weg, so daß der sächsische Drucker mit ihrer Schreib- wie Redeweise (z.B. "er will eine reiß machen"; "die glehrte sind wunderliche leut"; Sternheim 354) wohl seine Mühe gehabt haben dürfte.
Sophie ließ Wielands Brief mit einem Seufzer der Erleichterung sinken. Eigentlich konnte sie sehr zufrieden mit sich sein. Die Sternheim war bisher gut aufgenommen worden; selbst der Universalgelehrte Albrecht von Haller hatte sich in seiner Rezension in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen am 3. Oktober, also vor einem Monat, positiv über den ersten Band geäußert. Ein kleiner sittlicher und empfindsamer Roman sei er, von lebhafter Einbildungskraft des Verfassers und Metaphysik des Herzens[7] war gar die Rede. Daß man in der Öffentlichkeit glaubte, Wieland sei der Verfasser des Romans, das gefiel Sophie nicht recht. Eigentlich sah sie es durchaus gern, wenn sie ob ihrer gesellschaftlichen Situation und ihrer Person anerkannt und gelobt wurde[8]. Und jetzt hielten nicht wenige Zeitgenossen Wieland, der doch eigentlich nur ihr Lehrmeister, Kunstrichter und Sprachlehrer war und ihr im Entstehen begriffenes Werk begutachtet hatte[9], für den Verfasser der Sternheim. Nun, vielleicht würde sich diesem Manko ja noch durch geschickt gestreute Hinweise im Bekanntenkreis abhelfen lassen.
Seit die Familie Ende März in Ehrenbreitstein ihr Domizil aufgeschlagen hatte, hatte sich für die La Roches vieles zum Guten geändert. Ihr Mann hatte nach den Unsicherheiten des als gesellschaftlicher Abstieg empfundenen Exils in Bönnigheim, wo er nach dem Tod [1768] seines Ziehvaters, des Grafen Friedrich von Stadion, eine Stelle als Amtmann bekleidet hatte, endlich wieder gesellschaftlich Tritt gefaßt. Sophie schätzte ihren Gatten - gesellschaftlich - wegen seiner Leistungen und weil er ein guter Kopf war[10]. La Roche stand jetzt im geachteten[11] Range eines Konferenzministers des Kurfürsten Wenzeslaus von Trier mit Sitz in Ehrenbreitstein. Damit hatte auch Sophie wieder die Möglichkeit, ein eigenes Haus zu führen und endlich, endlich alle ihre Kinder um sich zu scharen. Der Älteste, Fritz, war bei Wieland zur Erziehung gewesen; Maximiliane und Luise konnten aus Straßburg zurückkehren. Ja, und die kleinen Knaben Carl und Franz Wilhelm waren allenthalben bei ihr, so daß sich Sophie nun nach Kräften der Erziehung aller Kinder widmen konnte[12]. Und trotzdem hatte sie immer noch Zeit gefunden, an der Sternheim weiterzuschreiben, zu feilen, so daß der erste Teil im Sommer, der zweite Teil im Oktober bei dem von Wieland verschafften Verleger in Leipzig gedruckt werden konnte.
Sophies Gedanken schweiften zu ihren Kindern, besonders zu den beiden ältesten, am kurfürstlichen Hof des Grafen Stadion in Mainz geborenen Mädchen, Maximiliane und Luise. Maxe war jetzt bereits 15 Jahre alt, eine richtige kleine Dame. Bald mußten sie und ihr Mann sich Gedanken über eine standesgemäße Verheiratung machen, schoß es Sophie durch den Kopf. Maxe und ihre Schwester Luise, die zarte 12 Lenze zählte, sie waren gewissermaßen zum Mit-Auslöser dafür geworden, daß Sophie ihr bereits 1766 auf Gut Warthausen, dem Musenhof Stadions, begonnenes Gedankengerüst ausgearbeitet hatte. Nach dem Tod Graf Stadions, des Adoptivvaters ihres Mannes, hatten die La Roches die ältesten Töchter zur weiteren Erziehung in das katholische Straßburger Klosterinstitut St. Barbara geschickt, aus Gründen des gesellschaftlichen Feinschliffs und des Erlernens der französischen Sprache und Zivilisation einerseits, aus der unerfreulichen Situation des Aufenthalts in Bönnigheim andererseits[13]. Deutlich erinnerte sich Sophie an jenen Tag, als der befreundete Pfarrer Brechter zu Gast bei ihr war. Brechter war damals Prediger in Schwaigern bei Heilbronn und ein an Verstand und Herzen vortrefflicher Manne, welcher das Urbild aller Pfarrherren war[14]. Ihm hatte sie voll Trauer von dem erziehungsbedingten Verlust der Töchter erzählt. Sophie glaubte beinahe, die gütige Stimme Brechters zu vernehmen: "Sie jammern mich! Ihre lebhafte Seele windet sich immer um diesen Gegenstand, wie (vergeben Sie mir das Gleichniß!) die kleine papierne Schlange, welche man mit dem Kopfe auf eine Nadelspitze stellt... Wissen Sie was; bringen Sie alles, was Sie mir von Zeit zu Zeit zu Ihrer Erleichterung mündlich sagen, so wie ihre Ideen sich folgen, genau zu Papier."[15] Eine Art privates Schreiben als Hilfsmittel, persönliche Schwierigkeiten zu überwinden, so hatte es sich Brechter vorgestellt.[16] Sophie hatte dieser Vorschlag gefallen, durch Verarbeitung und Gestaltung in fiktionaler Handlung kreativ ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Denn der Vorschlag paßte in vorzüglicher Weise zum zentralen Anliegen ihres Erzählens: dem Erziehen (so wollte sie es jedenfalls in ihren späteren Jahren verstanden wissen): "Ich wollte nun einmal ein papiernes Mädchen erziehen, weil ich meine eigenen nicht mehr hatte, und da half mir meine Einbildungskraft aus der Verlegenheit und schuf den Plan zu Sophiens Geschichte. ... Der Grund meiner Seele war voll Trauer; einsame Spaziergänge in einer lieblichen Gegend gossen sanfte Wehmuth dazu, und daraus entstand der gefühlvolle Ton, welcher in dieser Geschichte herrscht"[17].
Sophie legte den Brief Wielands beiseite und erhob sich aus ihrem schwarzen Eichenstuhl. In allen ihren Bewegungen verriet sie eine gewisse Eleganz der Gestalt, worin sie zwischen dem Benehmen einer Edeldame und einer würdigen bürgerlichen Frau gar anmuthig schwebte[18]. Der gußeiserne Ofen verbreitete eine wohlige Wärme in dem mit brokatenen Wandbehängen geschmackvoll ausstaffierten Schreibzimmer. Sophie trat zum Fenster, wobei ihr langes, schwarzes, bis auf den Boden reichendes Grosdetourkleid mit seiner langen Schleppe[19] ein sanftes Rauschen auf den hölzernen Parkettböden erzeugte, und ließ den Blick und ihre Gedanken über die Idylle des Residenzortes Ehrenbreitstein schweifen. "Schöner kann beynah keine Lage seyn", dachte sie, "als die Lage der Stadt C[oblenz], an dem Zusammenfluß zwey schiffreicher Ströme, der R[hein] und der M[osel]. - Weinberge auf einer, Kornfelder, Wiesen, Obst- und Nußbäume auf der andern Seite; die Festung an einem, die Stadt an dem andren Ufer; - nahe und entfernte Gebürge, und dann die reizende Fläche, durch welche man, von dem Festungsberge, den R[hein] hinfliessen sieht"[20]. Auch das Haus der La Roches, die Freiheit und Großzügigkeit der Anlage, waren ganz nach dem Geschmack Sophies. Ganz am Ende des Thals, wenig erhöht über dem Fluß gelegen, hatte [es] die freie Aussicht den Strom hinabwärts. Die Zimmer waren hoch und geräumig, und die Wände galerieartig mit aneinanderstoßenden Gemählden behangen. Jedes Fenster, nach allen Seiten hin, machte den Rahmen zu einem natürlichen Bilde, das durch den Glanz einer milden Sonne sehr lebhaft hervortrat"[21]. Es war für Sophie wieder eine glückliche Zeit: gesellschaftlich geachtet, konnte sie wie früher am kurfürstlichen Schloß Stadions in Mainz repräsentativen Aufgaben nachgehen, ihre kleine Hofgesellschaft regieren. Und ganz nebenbei fand sie auch die Zeit, ihren Lieblingszeitvertreib[22] voranzutreiben, die Idee der Erziehung junger Mädchen in Büchern. Sophie erinnerte sich an einen Brief, den sie vor mehr als anderthalb Jahren an Wieland geschrieben hatte. Damals lebte sie noch in Bönnigheim, und das Phantasiegebäude ihrer Sternheim ging ihr "mit ausgespannten Armen im Kopf herum"[23].
Der Roman sollte teilweise auf Sophies persönlichen Beobachtungen, Erfahrungen und Gelesenem beruhen, aber vor allem ein gefühlvolles Seelenbild einer tugendhaften Frau, und zwar ganz aus der Perspektive dieser Frau, die ein Vorbild für die Töchter und Frauen des begüterten Bürgertums werden sollte[24], zeichnen. Er sollte die Geschichte einer verfolgten Unschuld schildern und eine empfindsame, tugendhafte Weiblichkeit. Die Rolle einer Frau, die sich durch Initiative und tätige Nächstenliebe in den widrigsten Lebenslagen behaupten sollte, so hatte die La Roche es vor Augen gehabt.
Die Empfindsamkeit ist eine Strömung, die sich gegen den Rationalismus der Aufklärung richtet. Sie wirkt sich vor allem auf die deutsche Literatur der Jahre um 1750 bis 1780 aus. Im Mittelpunkt steht dabei die ursprünglich pietistische Vorstellung der Rückwendung zu Gefühl und Phantasie im praktisch-religiösen Leben des einzelnen Gläubigen. Die Tendenz, Regungen der Einzelseele zu belauschen, führte seinerzeit zu einer ersten Entfesselung des Gefühls in der Dichtung. Auch in der Empfindsamkeit gilt es, innerseelische Stimmungen zu belauschen. Allerdings ist das Ordnungsprinzip der Vernunft weiterhin gültig, das die Effekte und Gefühle zu sittlichem Verhalten führen soll. In den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts findet die Gefühlsschwärmerei der Empfindsamkeit ihre Weiterentwicklung im Gefühlsrausch der jungen Stürmer und Dränger.
Als Entdecker des Gedankens der Empfindsamkeit in der Dichtung, der "delicacy", gilt der Engländer Samuel Richardson (1689 - 1761). Der selbständige Buchdruckermeister in London bestach durch seine "feine psychologische Beobachtungs- und Individualisierungsgabe" (Kimpel 92). Er hat mit drei Romanen aus dem puritanistischen England Weltruhm erlangt, die für die Sternheim bedeutsam wurden: 1740/41 erscheint der Roman Pamela, in dem die Standhaftigkeit und Tugend eines Dienstmädchens geschildert werden, die ihre Erlebnisse in Briefen in Tagebuchform an ihre Eltern schreibt. Sieben Jahre später verfeinert Richardson die Briefform seiner Romane in Clarissa Harlowe. Auch hier geht es um die Standhaftigkeit der Heldin, die sich ihrer Verheiratung und Verkupplung bis in den Tod widersetzt; ihr Schicksal wird erstmals in einer brieflich-polyperspektivischen Sichtweise geschildert. Sir Charles Grandison (entstanden 1753/54) schildert das Tugendthema aus der Perspektive eines englischen Gentlemans.
Letzteres ist aber eher eine Ausnahme: "Die ,empfindsame` Erzählung rankt sich meist um eine weibliche, eher passiv reagierende Hauptfigur, deren moralische Standfestigkeit in einer Reihe von Prüfungssituationen auf eine harte Probe gestellt wird, bis die zugleich materielle und sittliche Belohnung am Ende davon zeugt, daß Tugend sich lohnt und die sittliche Unordnung, als welche die ganze Welt der Heldin gegenübertrat, doch nicht deren Wahrheit ausmacht" (Spiess 80).
Das Adjektiv "empfindsam" wurde in der Zeit des 3. Reiches als "Bezeichnung eines kraftlosen Gefühls, als Bezeichnung einer gewissen weichlichen Sentimentalität" (Brüggemann 10) (bewußt miß-)verstanden. Die Jugend von 1771 habe in der Sternheim etwas Neues empfunden, was sich gegen die "kraftlose Sentimentalität der vorausgegangenen Zeit" gewandt habe. Weil Sophie von Sternheim aber gerade die Aktivität als Mittel zur Überwindung widriger Lebensumstände gewählt habe, deshalb, so die Schlußfolgerung Brüggemanns, sei die Sternheim "so wenig ein empfindsamer Roman wie der Werther" (ebd).
Sophie hatte beim Schreiben immer an Richardsons Briefromane denken müssen, vor allem an Clarissa Harlowe. Und natürlich an Gellerts Schwedische Gräfin[25], die allesamt das derzeit so verbreitete Gefühl, die Seelenlage vor allem der weiblichen Leser in der meist bürgerlichen Leserschaft trafen: das ... Allen Romanen zu eigen war die moralisch-didaktische Tendenz im Schicksal der Heldin und die intensive Darstellung der Gefühle, verbunden mit jenem pädagogisch-aufklärerischen Ton, der der unterhaltsamen Lektüre eine höhere Legitimation verschaffte[26]. Und pädagogisch-belehrend sollte auch ihre Sternheim werden, ganz ohne Frage. Sie wollte allerdings nicht durch moralische Vorhaltungen, sondern durch das gelebte Beispiel ihrer Heldin überzeugen, weshalb sie dieser auch gleich ihren eigenen Namen und ihre Neigungen und Denkart schenkte, wie jeder Schriftsteller seine Lieblinge mit den seinigen auszustatten pflegt[27]. Wie ihr Vorbild Richardson, so wollte auch die La Roche das Musterbild dessen zeigen, was von einer tugendhaften Frau zu ihrer Zeit erwartet wurde. Auch den Weg der Darstellung dieser Tugendhaftigkeit hatte sie von dem Engländer übernommen: die Offenbarung von geheimen und vertraulichen Geschehnissen und Gefühlsregungen in Briefform.
Die Sichtweise des Briefromans bildet eines der möglichen Erzählverfahren eines Romans. In Briefen fingierter Verfasser wird chronologisch der Verlauf eines Geschehens mitgeteilt, ohne daß ein Erzähler die Briefe miteinander in Verbindung setzt. Einzig der Herausgeber und der Leser stellen ständig den Handlungsablauf her, sie bilden den Fluchtpunkt für die Momentaufnahmen der Briefe. Dies gilt insbesondere, wenn im Rahmen des polyperspektivischen Erzählens mehrere unterschiedliche Personen ihre Sichtweise der Geschehnisse schildern. Die Mitteilung des Geschehens durch die direkte Selbstaussage der Personen in den Briefen ließ den Leser an den Gedanken und Empfindungen der Personen ohne Distanz und unmittelbar teilhaben und förderte eine identifizierende Leseweise (vgl. Melzer 65). Die Form des Briefromans folgt englischem Vorbild, das um 1770 in Deutschland bereits gut bekannt war. In der Sternheim werden Briefe jedoch hin und wieder von erzählenden Partien abgelöst, um keine inhaltliche Unklarheit entstehen zu lassen (vgl. Sudhof 303). In einer vielschichtigen Verflechtung der Erzählperspektiven wechseln tagebuchartige Passagen mit reinen Briefen, dialogisch-erzählenden Briefen und einschaltenden Erzählerberichten ab. Auf die Wiedergabe von Antwortbriefen hat die La Roche ganz verzichtet, dafür hat sie eine den formalen Kriterien des Briefromans zuwiderlaufende Mitteilung der Vorgeschichte gewählt (vgl. Langner 41f.).. Vor diesem Hintergrund ist die Sternheim kein reiner Briefroman, wie Goethes Werther, der nur drei Jahre nach der Sternheim erschienen ist, sondern ein Entwicklungsroman mit Brief-, Dialog- und eingeschobenen Erzählerteilen!
Sophie ging in Gedanken noch einmal den Inhalt ihres Romans durch. Er erzählt die Geschichte der Sophie von Sternheim, der Tochter des wegen seiner Verdienste geadelten Obersten von Sternheim und der altadeligen Sophie von P. Sophie wächst auf dem idyllischen Landgut der Eltern auf, die ihr eine sorgfältige Erziehung zukommen lassen. Als nach der Mutter auch der über alles geliebte und verehrte Vater stirbt, wird die 19-jährige Sophie zur weiteren Erziehung von ihrer Tante, der inzwischen zur Gräfin Löbau gewordenen Schwester des Vaters, in die Landeshauptstadt D geholt. Die skrupellose Tante beabsichtigt, die tugendhafte Sophie dem Landesherrn als Mätresse zuzuführen, um in einem schwebenden Rechtsverfahren am Hofe einen Vorteil zu erlangen. Die ahnungslose Sophie erkennt das finstere Spiel erst, als ihr der empfindsame, aber zurückhaltende Engländer Lord Carl Seymour, zu dem sich Sophie heimlich hingezogen fühlt, auf einem Maskenball die Augen öffnet. Um dem Liebeswerben des Fürsten und den Verdächtigungen am Hofe zu entgehen, nimmt sie das Angebot des gewissenlosen, ränkevollen Bösewichts Lord John Derby an, der sich als tugendhafter Verehrer ausgibt und sich bereit zeigt, sich heimlich mit Sophie zu vermählen und somit ihre Ehre zu schützen. Die beiden werden heimlich von dem als Geistlicher auftretenden Sekretär John "getraut" und fliehen aus der Residenzstadt.
Die La Roche war mit sich und ihrer schriftstellerischen Leistung in diesem ersten Teil zufrieden.[28] Allein: das war nicht immer so gewesen. Rund ein Jahr vor dem Druck des ersten Teils hatte sie - am 22. April 1770 - noch aus Warthausen an Wieland geschrieben, unsicher, ob das Geschriebene wohl des Drucks würdig sei. Wieland hatte umgehend geantwortet, und seine Stellungnahme fiel deutlich und positiv aus: "Allerdings, beste Freundin, verdient Ihre Sternheim gedruckt zu werden; und sie verdient es nicht nur; nach meiner vollen Ueberzeugung erweisen Sie Ihrem Geschlecht einen wirklichen Dienst dadurch. Sie soll und muß gedruckt werden, und ich werde Ihr Pflegevater seyn"[29]. Pflegevater! So ganz konnte sich Sophie eines gewissen Schmunzelns nicht erwehren. Wieland hatte zwar pflegend und korrigierend auf Wortwahl und Glätte des Inhalts gewirkt, dabei aber auch in seiner Vorrede und seinen insgesamt 17 Fußnoten[30] sich kommentierend und Sophies Intention einengend zu Wort gemeldet.
Seine Vorrede war eine Mischung von Rezension und Lesehilfe. Wieland wollte den Roman in einer ganz bestimmten Weise verstanden wissen. Einerseits beabsichtigte er, die schriftstellerische Leistung der La Roche, einer Frau!, zu rechtfertigen, die doch nie daran gedacht habe, für die Welt zu schreiben oder ein Werk der Kunst hervorzubringen. "Damit sollte die Bescheidenheit der Frau und ihre Natürlichkeit - die zugleich jeden Anspruch auf Kunst ausschließt - betont, ihre Weiblichkeit gewahrt werden" (Becker-Cantarino in: Sternheim 399). Wieland versucht, die schriftstellerische Leistung der La Roche mit dem gängigen Bild der bescheidenen, tugendhaften Frau zu vereinbaren, ja, er entschuldigt sie beinahe, indem er die Intention auf pädagogische Nützlichkeit einengt. Die Sternheim habe Mängel, die den Kunstkritikern nicht verborgen bleiben würden (vgl. Sternheim 13). Doch dürfe das Werk auch nicht unter künstlerischen Aspekten gesehen werden, sondern als "moralische Dichtung, bei welcher es mehr um die Ausführung eines gewissen lehrreichen und interessanten Hauptcharakters, als um Verwicklungen und Entwicklungen zu tun ist, und wobei überhaupt die moralische Nützlichkeit der erste Zweck ... ist" (ebd. 14). Wieland schließt mit dem "liebsten Wunsch" der Heldin: "nützlich zu sein wünscht sie; Gutes will sie tun; und Gutes wird sie tun" (ebd. 17). Mit seiner Betonung des Nutzens für das weibliche Geschlecht bahnt der Dichter einen neuen Weg in der deutschen Literatur: der Frauenroman ist geboren (vgl. ebd. 397).
Sophie La Roche blickte aus dem Fenster in die einsetzende Dämmerung. Sie blinzelte einige Male mit den Augen, um sich nach dem sanften Schein der Kerze vor sich wieder an das nachlassende Tageslicht zu gewöhnen. Ja, sie hatte sich auf Wielands Vorschläge eingelassen. In der Vorgeschichte des Romans ließ sie die fiktive Erzählerin, die sich später als Kammerzofe der Sternheim entpuppende Jugendfreundin Rosalia[31], eine Vorschau auf das kommende Geschehen und die widrigen Umstände abgeben, die "durch die Probe, auf welche sie [Sophie] ihren innerlichen Wert setzten, ihre Geschichte für die Besten unsers Geschlechts lehrreich machen"[32]. Eine Anleitung zu passendem Betragen junger Frauen, ja. Auch hatte sie beweisen wollen, "daß, wenn das Schicksal uns auch alles nähme, was mit dem Gepräge des Glücks, der Vorzüge und des Vergnügens bezeichnet ist: wir in einem mit nützlicher Kenntniß angebauten Geiste, in tugendhaften Grundsätzen des Herzens und in wohlwollender Nächstenliebe die größten Hülfsquellen finden würden"[33]. Aber gewollt hatte die La Roche mehr. Ihr hatte ein pädagogisch-soziales Programm vorgeschwebt: volkserzieherische Einrichtungen, ein erzieherisches Engagement der Kirche, die Begründung einer allgemeinen Schule auch für Mädchen, schließlich die Schaffung von Gesindehäusern für den besitz- und erwerbslosen Teil der Bevölkerung.[34] Obwohl diese Gedanken utopisch waren, hatte die La Roche sie doch in ihrem Roman verarbeitet.
Der Stil des Romans kam dem Lebensstil speziell der jungen Generation des aufstrebenden Bürgertums sehr entgegen, die Sudhof zufolge in der gefühlvoll-empfindsamen Sternheim eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung gefunden hatte. Drei Jahre vor Erscheinen von Goethes großem Sturm-und-Drang-Werk habe die Sternheim wie eine "Vorwegnahme des Werthergefühls" (Sudhof 306) gewirkt. Caroline Flachsland meint, sie habe "wie versteinert da geseßen und warte nun mit der äußersten Ungeduld auf die Fortsetzung" (Brief an Herder v. 1.7.1771, zit. n. ebd.).
Der zweite Teil war also gerade frisch aus der Druckerei gekommen. Sophie strich mit der Rückseite der rechten Hand über den ledernen Einband eines der Bücher. Mit einer großen Auflagenhöhe konnte sie nicht rechnen, 2000 bis 3000 Exemplare[35] galten zu Sophies Zeiten als normale Auflagenhöhe. Doch da die Bücher von Leihbüchereien und auch von Privatleuten häufig verliehen wurden, konnte geschätzt werden, daß ein Buch von mindestens zehn Leuten gelesen wurde. Gerade weibliche Leser freuten sich darauf, durch Lektüre den Müßiggang und die Langeweile zu vertreiben. Allerdings sollten die Leserinnen keine Philosophinnen oder Gelehrte werden, vielmehr sollte die Lektüre das Frauenzimmer tugendhafter, vernünftiger, verständiger und liebenswürdiger machen[36]. Kurzum - und damit war Sophie völlig einverstanden -, man konnte von der schöngeistigen Bildung, die weibliche Leser genossen, eine Steigerung der häuslichen und geselligen Fähigkeiten der Frau[37] erwarten. Auf diese Bedürfnisse des weiblichen - und männlichen - Lesepublikums hatte die La Roche ihre Sternheim optimal zugeschnitten. Denn im zweiten Teil, den sie wenige Wochen nach ihrem Umzug nach Ehrenbreitstein fertiggestellt hatte, konnte sie ihre erzieherischen Ideen, die vor allem in der Vorgeschichte der Jugend der Sternheim grundgelegt waren, voll entfalten.
Sophie ging in Gedanken den Inhalt des zweiten Bandes durch. Ob er ebenfalls auf ein so positives Leserecho stoßen würde? In ihm, so schoß es der Autorin durch den Kopf, kamen Männer eigentlich nur noch als Randfiguren vor.[38] Zu Beginn der Scheinehe entpuppt sich Lord Derby als Casanova, der er ist, und verläßt die in seinen Augen prüde Moralistin Sophie. Die getäuschte Sternheim verharrt nicht in ihrem Schmerz, sondern unterrichtet unter dem Pseudonym "Madam Leidens" die Töchter ihrer Wirtin, wie auch später andere Mädchen als Lehrerin an einer Gesindeschule. Auf einer Badereise lernt sie die Engländerin Lady Summers kennen und reist auf ihr Gut Summerhall, wo sie in einem benachbarten Schloßherrn, Lord Rich, einen aufrichtigen Verehrer findet. Unglücklicherweise erfährt Lord Derby, ein angeheirateter Neffe Lady Summers, von Sophies Aufenthalt. Er muß nun fürchten, daß seine Missetaten ans Tageslicht kommen und läßt deswegen Sophie in die schottischen Bleigebirge entführen. Doch auch in diesem Elend verzagt Sophie nicht, sondern unterrichtet die Tochter ihrer Wirtsleute und sogar die uneheliche Tochter einer früheren Geliebten ihres Peinigers. Nachdem sie in einem Turmverlies eingekerkert worden ist, erkrankt sie schwer und wird durch die Familie eines Bleiminenknechts gerettet. Der inzwischen ebenfalls schwerkranke Derby plagt sich derweil mit Gewissensbissen herum und gesteht den Brüdern Lord Seymour und Lord Rich seine Schandtaten. Beide finden die schon totgeglaubte Sophie, die letztlich als Lady Seymour eine vorbildliche Ehefrau und Mutter wird[39].
Eine vorbildliche Ehefrau und Mutter, und eine perfekte Gastgeberin! Sophie La Roche wußte, was die Gesellschaft und die Männer von ihr, von den Frauen allgemein, von ihrer Sternheim erwarteten. Eine Frau zu sein, das bedeutete, daß der Lebenskreis durch die Zugehörigkeit zum Gatten oder zum Vater definiert war. Für sich selbst genommen war eine Frau nichts; was sie war, war sie durch einen Mann. Ihr Kreis war das Haus, aber was man im Haus von einer Frau verlangte, war abhängig von der sozialen Stellung des Mannes[40]. Schon am stadionschen Hof des Erzbischofs und Kurfürsten Emmerich Joseph von Mainz, des höchsten geistlichen Fürsten im alten Reich, hatte man ihr als frischvermählter Ehefrau die Etikette und Hierarchie des kleinen katholischen Hofstaates eingebleut. Sie mußte ihrem Mann beim Briefwechsel mit ausländischen Korrespondenten des Kurstaats helfen, auf Spaziergängen oder an der Tafel des Grafen Stadion für Anregungen zu Gesprächen sorgen, wofür sie sich Auszüge aus den verschiedensten Büchern, die ihr Mann auswählte, machte, um diese graziös und scheinbar absichtslos einzustreuen, damit sie dann von dem Grafen und der übrigen Gesellschaft weiter ausgeführt wurden[41]. Man gab Gesellschaften und führte in der europäischen Hofsprache Französisch Gespräche, die mit Esprit gewürzt sein mußten. Vor allem war es dabei wichtig, mit den schönen Künsten und gelehrter Bildung vertraut zu sein, ohne pedantisch zu wirken.[42] Gesellschaften geben, unterhalten und repräsentieren, und immer gute Laune verbreiten, das gehörte nun auch in Ehrenbreitstein zu ihren Pflichten. Für die Kindererziehung blieb da wenig Zeit. Sophie seufzte kurz auf, und ein dunkler Schleier legte sich für einen Moment über ihr Gemüt. Die Rolle einer Mutter in ihrem Stand bestand wohl nur aus dem Gebären! Es war bei den La Roches wie bei so vielen wohlsituierten Bürgern und Adligen: Eigentlich sofort nach der Geburt bemühte sich fortan ein wechselndes Heer von Ammen, Kinderfrauen, Hauslehrern und Hofmeistern um Aufzucht, Erziehung und Ausbildung für den Stand der Eltern. Sie als Mutter hatte nur eine organisatorische Rolle[43] inne, für eine emotionale Mutter-Kind-Bindung, nein, dafür war nun wirklich kein Platz! Sophie hatte sogar davon gehört, daß es nicht gut für die Säfte und Stimmung sei, wenn Frauen stillten[44]. Wie anders war dies doch alles bei Gutermanns in Augsburg gewesen! Bisweilen hatte Sophie in Mainz über diese gesellschaftliche Aufgabenzuweisung geseufzt, aber nie hätte sie offen geklagt, weil sie zu große Hochachtung, ja Verehrung für Friedrich von Stadion empfunden hatte[45]. Sophie hätte die Töchter lieber selbst erzogen; aber die Mutter wurde in solchen Dingen nicht gefragt[46].
Sophie schüttelte die trüben Gedanken ab. Jetzt und hier in Ehrenbreitstein konnte sie sich endlich wieder nach Kräften der Erziehung der Kinder annehmen![47] Und doch hatte die harte Zeit der Abstinenz ihre Gedanken und Ideen von Erziehung geprägt. Nicht von ungefähr kam es, daß die Erziehung der Sophie von Sternheim auf dem Landgut ihrer Eltern in der Sternheim solch einen herausragenden Platz einnahm. Hier hatte das Mädchen, in das sich die La Roche so oft hineingeträumt hatte, ihre unerschütterlichen Grundsätze und ihre festgegründete Tugend erworben. Hier hatten ihr die Eltern die später so wichtige Grundposition vermittelt, Handeln sei wichtiger als Denken[48]. Der La Roche war es gar nicht auf konkrete Vorschläge für die Erziehung von Mädchen angekommen, sondern mehr auf die Darstellung eines erfüllten, tugendhaften Lebens. Wichtiger als Wissen ist das Erkennen und Umsetzen moralischer Normen sowie die Vermeidung zu großer Empfindsamkeit[49]. Nur als Schutz vor dieser emotionalen Schwäche sollte eine geistige Beschäftigung erlaubt sein, so war es auch Sophies Protagonistin ergangen.
Geistige Beschäftigung in der Erziehung, das bedeutete Bildung. Die aber stand für Frauen zu Sophie La Roches Zeiten nicht hoch im Kurs. Gewöhnlich wurde in der (Männer-)Gesellschaft die Position vertreten, daß Kenntnisse für ein Mädchen nicht nur nutzlos, sondern schädlich seien, weil sie es von den ihm zugedachten Aufgaben abzogen, es hochmütig und stolz machten. Außerdem würde sich kein Bewerber einer ihm an Kenntnissen überlegenen Frau unterordnen wollen[50]. So lernten Mädchen des gehobenen Bürgerstandes - wie Sophie Gutermann früher - und des Adels eben, was die Väter als gut für sie ansahen: Katechismus und Tanzen, Französisch und Blumenmalen, Klavierspielen und Zeichnen, Kochen, Sticken und Haushaltsführung.[51] Abgesehen von den dafür vorgesehenen Klosterschulen und privaten Pensionaten gab es für Mädchen keine öffentlichen Schulen. Bestenfalls besuchten die Mädchen der Mittel- und Unterschichten ein oder zwei Jahre eine Sonntags- oder Katechismusschule, in denen der Katechismus und Lieder auswendig gelernt wurden, manchmal auch das Lesen oder Schreiben - sprich: Buchstabenmalen...[52]. Berufsbildende Schulen existierten ebenfalls nicht für Mädchen, und die Latein- und Realschulen waren allein für Jungen da. Bildung war also allein dem männlichen Geschlecht vorbehalten, sofern sie sich nicht auf eine spezifisch ,weibliche` Gefühlsbildung und auf die von ,deutscher Weiberhand` auszuführenden ,reizenden Tugenden`[53] der Arbeit im Haus bezog.
Eigentlich bejahte die La Roche die grundsätzliche Zuschreibung der Geschlechter, ihre jeweils verschiedenen Bahnen, in denen sie dem Endzweck ihrer Bestimmung entgegenstrebten[54]. Einer hochgebildeten Frau bedurfte es dabei in keiner Weise. Trotzdem: Mußten [...] nicht auch die Männer, wenn sie als Gelehrte geeignete Lebensgefährtinnen suchten, auf die Bildung ihrer Frauen bedacht sein? Und wenn der Bürger durch Bildung zum Menschen wurde, war es da nicht klug, eine gebildete Frau zu nehmen, die als Mutter ihren Einfluß erziehend auf die Kinder geltend machen konnte? Und mußte man nicht, wo es den Frauen an Bildung fehlte, diese auf eine ihnen gemäße Weise vermitteln? Mußte man nicht auch für die Frauen vermehrt Schulen einrichten? Mußte man nicht, wo es an Schulen immer noch fehlte, durch Bücher den Horizont für die Bildung öffnen und das Versäumte nachholen?[55] Diese kühnen Gedanken waren der La Roche bereits in Warthausen durch den Kopf gegangen. Immer und immer wieder hatte sie darüber im Stillen nachgedacht. Und schließlich war sie doch zur Auffassung gekommen, daß die für Mädchen notwendigen Fähigkeiten allein in den Bereichen erworben werden sollten, wo die sozialen Zustände verbessert werden mußten. "Hilf anderen, damit sie sich selbst helfen können", das war ihr Motto. Und wo konnte dies besser geschehen als auf einer Gesindeschule für junge Mädchen aus dem armen Bürgertum und dem Bauernstande, die auf einen Beruf vorbereitet wurden, der ihnen einen Lebensunterhalt gewähren würde: Dienstmädchen, Köchin, Kammerzofe.
Sophie wußte, daß ihre Ideen derzeit Utopie waren - aber eben eine schöne und erstrebenswerte. Sie mußte allerdings mit dem Ideal der Tugendsamkeit verbunden werden, denn ohne Sittlichkeit, Moral und Tugend konnte keine Mädchenbildung auskommen! Deshalb war sie auch auf die Idee gekommen, die fiktive Erzählerin Rosalia eine Lebensbeschreibung in Abschriften von Briefen liefern zu lassen, um anhand des Lebenswegs der Sternheim deren beispielhafte, übende Tugend zu demonstrieren[56]. Die La Roche liebte es, diese Tugend überwiegend in Situationen zu erwähnen, in denen die Unschuld der Heldin gefährdet ist oder aber ein vorbildliches Verhalten, oft in Form der Wohltätigkeit, vorgeführt wird[57]. Diese Tugend konnte durch keine noch so entwürdigende äußere Einwirkung in Frage gestellt werden, weder durch das Verlassenwerden nach nur wenigen Tagen "Ehe" noch in den hoffnungslosen Zeiten der Sternheim in Schottland. Naive Unschuld mußte mit Bildsamkeit kombiniert werden, Fügsamkeit gegenüber allen äußeren Umständen mit Unbeugsamkeit, wo es darum geht, ihre [Sophie von Sternheims] moralische Integrität zu wahren oder auch den eigenen inneren Jammer über ihr Elend zugunsten einer tätigen Menschenliebe zu überwinden[58]. Wohltätigkeit und Moralität als Lebenshilfe, gewonnen aus Erziehung und geschlechtsspezifischem Wissen - dieses Universalmittel mußte doch dem Lebensziel jeder Frau zuträglich sein! Und wie sollte sich diese Tugend gewinnen lassen? Für die La Roche stand fest: durch direkt anwendbare Handlungsanweisungen[59] in der Erziehung, gewonnen durch Nachahmung tugendhafter Charaktere.
Sophie La Roches Gedanken blieben bei den Charakteren ihres Romans haften. Sie hatte versucht, den Seelenzustand der berichtenden Personen in ihren jeweiligen Briefen detailliert wiederzugeben[60]. Die psychologische Selbstoffenbarung war ihr, wie sie zufrieden feststellte, gelungen. Der La Roche hatte sich ganz in ihre fiktionalen Charaktere hineinversetzt und ein empfindsames Psychogramm dieser Seelen[61] geschrieben. Dabei hatte sie sich während des Schreibens insbesondere von den Problemen ihrer Heldin, deren seelischer Verfassung und ihrem Bemühen, den richtigen Lebensweg zu finden, aufs Äußerste berühren lassen[62]. Hier konnte sie einen idealen Charakter zeichnen: eine tugendhafte, empfindsame Frau, gefühlvoll und naturverbunden, eine empfindsame Seele, die ihre Lebensaufgabe im sozial-moralischen Handeln für andere entdeckt und deren Gesinnungen sich unter dem Eindruck praktischer Vernunft in Handlungen umsetzen. Ihre Sternheim war ein Musterbild dessen geworden, was von einer tugendhaften Frau ihrer - Sophie La Roches - Zeit erwartet wurde. Allerdings hatte die Protagonistin auch eine qualvolle innere Entwicklung durchzumachen: Der innere Gang der Sophie von Sternheim führt von der Eigenliebe zur Nächstenliebe, von einem ängstlichen Bemühen um die eigene Reinheit und Tugendhaftigkeit zum tätigen Leben, zu einer Tugend, die nicht um ihrer selbst willen, sondern für andere da ist[63]. Ihre anfängliche narzißtische Moralität mußte im Laufe des Romans zugunsten der selbstlosen, mitleidvollen geläutert werden.
Konnte sie in diesem Charakter noch ganz aufgehen, so hatte sie Folterqualen[64] gelitten bei dem Bemühen, sich in die Figur des Lord Derby hineinzuversetzen, aus seiner Perspektive als Mann zu denken. Und auch sich überhaupt in die Intrigen und Eifersüchteleien am Hofe hineinzuversetzen, die sie zwar aus der Hofrealität kannte, die sie als gute Frau aber nicht mochte. Und doch war gerade dieses Hineinversetzen notwendig gewesen, um die Charaktere schärfer voneinander in moralischer Hinsicht abgrenzen zu können. Nur so konnte die mustergültige Moralität der Sternheim deutlich werden.[65]
Sophie seufzte an ihrem Schreibtisch auf. Das Schicksal ihrer Sternheim hatte sie damals, beim Schreiben, wirklich sehr berührt. Und so mußte deren Weg der Läuterung ihrer Tugend in der Bedrängnis einfach zu einem guten Ende führen, zu einer glücklichen Ehe mit dem geliebten Lord Seymour.
Damit blieb sie im geltenden gesellschaftlichen Bezugsrahmen, in dem die Sternheim als Madam Leidens - bedingt durch ihre Reisen und eigene Handlungen bzw. Entscheidungen - einen großen Freiraum genossen hatte. Die eheliche Wirklichkeit im 18. Jahrhundert sah anders aus. Geheiratet wurde aus Status- oder Versorgungsgründen. Es herrschte die Vorstellung vor, daß alle Frauen zur Gattin, Hausfrau und Mutter vorgesehen waren. Alleinstehende junge Frauen waren (de facto) recht- und schutzlos. Durch die Eheschließung wurde die Frau vollständig den Entscheidungen des Gatten unterworfen; dies galt auch in vermögensrechtlicher Hinsicht (vgl. Bloch 837). Innerhalb der Ehe mußte die Frau tugendhaft leben, ihr sittlicher und moralischer Lebenswandel wurde von der Gesellschaft aufs Kritischste beäugt. Schon Jean-Jacqes Rousseau (1712 - 1778), der französische Pädagoge, der mit seinem Briefroman Nouvelle Héloise von 1761 und dem ein Jahr später erschienenen, in Romanform gekleideten Pädagogikbuch über die rechte Erziehung (Emile ou de l'education) die La Roche beeinflußt hatte, forderte eine dem Manne untergeordnete Rolle für die Frau. Der Lebenszweck der Frau bestand ihm zufolge darin, dem Manne zu gefallen und alle Geistesgaben und Fähigkeiten für die Hausfrauen- und Mutterrolle auszubilden und zu verwenden (vgl. Becker-Cantarino in: Sternheim 405). Die Frau mußte vor allem die sexuellen Triebe des Mannes besänftigen und ihre eigenen im Griff haben.
Sophie mußte unwillkürlich an so viele Frauen ihrer Zeit denken, denen nicht dieses utopische Glück zuteil wurde, den Mann heiraten zu können, den sie wirklich liebten. Es gab so viele unglückliche Vernunftehen rund um sie herum. Auch ihre eigene Ehe war davon nicht ganz ausgenommen. Die Konvenienzehe mit dem um elf Jahre älteren katholischen Hofrat La Roche hatte ihr Vater gutgeheißen, weil sie Sophies Versorgung sicherte. Sophie respektierte ihren Gatten, aber im Grunde waren beide von ihren Grundeinstellungen allzu verschieden, so daß beide eher nebeneinander her als miteinander lebten. Sophie empfand die Ehe schmerzhaft als Mißgriff und litt unter der Monotonie und der durch die gesellschaftliche Aufgabentrennung hervorgerufene Einsamkeit in der Ehe[66]. Auch ihr Jugendfreund Wieland hatte am eigenen Leib die Härte der gesellschaftlichen Eheauffassung kennengelernt. In Biberach, wo er 1760 zum Senator gewählt worden war, hatte er sich in die katholische Christine Hagel verliebt. Als diese von ihm ein Kind bekam, durften die beiden aufgrund ihrer unterschiedlichen Konfessionen nicht heiraten. Das Kind starb nach der Geburt, und auf Drängen der Familie hatte Wieland 1765 die Augsburger Kaufmannstochter Anna Dorothea von Hillenbrand geheiratet[67]. Die Ereignisse dieser Zeit hatten sich in bedrückender Weise auf Wielands Kreativität ausgewirkt: seine Dichtung wurde ironischer und skeptischer, vermied künftig jede Schwärmerei.
All diese Aspekte des Ehelebens waren den Frauen in Sophies Zeit wohlvertraut. Die Eheschließung bedeutete meist den Beginn eines lebenslangen Zwangs, beinhaltete die Gefahr einer nicht mehr zu revidierenden Fehlentscheidung und die Möglichkeit eines Leidensweges, die menschlichen und die sexuellen Beziehungen zwischen den Geschlechtern[68] betreffend. Doch darüber durfte nicht gesprochen werden, niemals konnte eine Frau es wagen, ihr Joch der Ehe und ihr Leiden am Manne zu beklagen[69]. Vorsichtig hatte Sophie die bedrückende Situation der Frauen in ihrem Roman anzudeuten gewagt. Sie hatte die seelischen Spätfolgen einer unglücklich verlaufenen Beziehung im Gespräch der Sternheim mit der Witwe von C. dargestellt. Die La Roche blätterte den zweiten Teil ihres Buches durch und fand schließlich die besagte Stelle. Die Sternheim hatte der Witwe gerade in optimistischen, schönen Farben das Bild einer neuen Ehe gezeichnet, die für die Frau in Form von vier Verehrern vor der Tür stand. Doch Frau von C. wollte - aus Erfahrung klug geworden - ihre Freiheit nicht aufgeben: "Sie haben mein Herz in die äußerste Verlegenheit gebracht ... aber meine traurige Erfahrung empört sich wider jede Idee von Verbindung; ich wünsche diesen Männern würdigere Gattinnen, als sie sich mich abschildern; aber mein Nacken ist von dem ersten Joche so verwundet worden, daß mich das leichteste Seidenband drücken würde".[70] Was lag da näher als der deprimierenden Wirklichkeit des ehelichen Alltags wenigstens in der Phantasie zu entfliehen, um den Mut, den Glauben an das Ideal der Liebe nicht zu verlieren[71]. Wie auch Sophie, so sollten auch den künftigen, frustrierten Leserinnen im glücklich verlaufenen Schicksal der Sternheim ein Ausgleich ihrer eigenen unbefriedigenden Situation zuteil werden - wenngleich nur in der Literatur. Von einer glücklichen Ehe träumen, das durfte man ja schließlich! Sophie La Roche erinnerte sich schwach an die so traumatisch geendete Verlobung mit Bianconi. Hier waren von beiden Seiten echte Gefühle die Basis für ihre Verbindung gewesen, nicht in erster Linie wirtschaftliche Erwägungen[72]. Ach, eine solche Ehe, das hätte ihrem Wunsch nach einer neuartigen Art von Ehe entsprochen!

3. Epilog

In dem Schreibzimmer der La Roches in Ehrenbreitstein war es dunkel geworden. Nur der flackernde Schein der Kerze verbreitete noch eine schwache, stetige Lichtquelle. Sophie blinzelte mehrmals mit den Augenlidern, um wieder in die Realität zurückzukehren. Sie sog den von Leder und Holz geprägten Geruch des Zimmers tief ein und hielt kurz den Atem an. Es half ihr, die Beklemmung der bitter-süßen Erinnerung an die Entstehungsphase ihres Romans abzuschütteln. Sie lebte hier und jetzt, zu viel Nachsinnen über die Vergangenheit konnte ihr möglicherweise nicht gut bekommen. Sophie stand auf und schob den Stuhl dicht an den Sekretär am Fenster heran. Mit einem Ruck zog sie die brokatenen Vorhänge zu und strich kurz mit der Hand über das edle Gewebe. Dann drehte sie sich um und strebte mit festen Schritten der Tür entgegen. Sie ahnte nicht, daß die Nachwelt sie einmal ganz auf den Charakter der "empfindsamen Seele" festlegen würde. Doch sollte sie erreicht haben, wovon andere Frauen nur träumen konnten: Sie sollte mit einem Schlag die berühmteste Schriftstellerin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden. Sophie La Roche schritt über die Schwelle des Zimmers hinaus in den Flur. Hinter ihr fiel die schwere Eichentüre ins Schloß.


[1] vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Graf Chotek in Wien v. 16.6.1771, nach Sternheim 381
[2] vgl. Maurer 13, so soll Sophie jedenfalls in jungen Jahren erschienen sein!
[3] J.W. v.Goethe. Aus: Dichtung und Wahrheit, Bd. 24, 1813, zit. n. Sternheim 374f.
[4] vgl. Sternheim 385
[5] vgl. ebd 352
[6] Wieland an La Roche, 6.11.1771, Maurer 152
[7] zit. n. Sternheim 366
[8] vgl. den Hinweis, Sophies Briefe zeigten sie "als ebenso interessiert an Klatsch, Eigenlob und der Promotion ihrer eigenen literarischen Produkte" (Sternheim 392)
[9] vgl. Sternheim 393
[10] Maurer 15
[11] Bloch hat hierzu festgestellt, daß das erst später geadelte Ehepaar La Roche in den Augen der Hofgesellschaft vermutlich niemals als vollwertig anerkannt worden sei. "18 Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution (1789) steht die ständische Verfassung der Gesellschaft noch fest und unerschüttert in ihren Grundmauern" (Bloch 838). Die herausragende Position La Roches als Konferenzminister war also eine labile, stets gefährdete.
[12] vgl. Maurer 20f.
[13] La Roche war testamentarisch als Stadionscher Amtmann in Bönnigheim eingesetzt worden, ein gesellschaftlicher Absturz trotz finanzieller Absicherung (vgl. Maurer 19).
[14] S. La Roche: Briefe über Mannheim. zit. n. Sternheim 363
[15] ebd.
[16] Langner hat herausgestellt, daß es sich bei der häufig zitierten Stelle um eine im Alter vorgenommene Stilisierung gehandelt hat. In Wirklichkeit kam der La Roche ihre bereits vorhandene Fähigkeit zu erzählen zugute (vgl. Briefe an Lina, n. Langner 23f.).
[17] Sternheim 363f. Julie Bondeli, die zweite Verlobte Wielands in Bern, die seit 1762 mit der La Roche in Briefkontakt stand (vgl. Sternheim 404), bestätigt bereits am 23. September 1771 in einem Brief an Leonhard Usteri Sophies Einsamkeit, Ungeduld und Unzufriedenheit mit der Trennung von den Töchtern als Motivation für Ihren Schreibbeginn (vgl. Sudhof 303).
[18] Goethe in Gesammelte Werke Bd. 28, zit. n. Sudhof 308
[19] so erinnert sich die Enkelin Bettina in ihrem Buch Die Günderode 1840 an die Großmutter (vgl. Sudhof 312)
[20] So erinnert sich die La Roche 1781 in Rosaliens Briefe an Ehrenbreitstein (zit. n. Sudhof 310).
[21] Goethe in Dichtung und Wahrheit, 13. Buch, zit. n. Sudhof 307
[22] vgl. Sternheim 395
[23] Brief vom Februar 1770, zit. n. Sternheim 395
[24] Becker-Cantarino in Sternheim 386
[25] Der Leipziger Professor für Poesie und praktische Moral, Christian Fürchtegott Gellert (1715 - 1769), hatte 1747 als erster deutscher Schriftsteller die neue Richtung Richardsons aufgenommen. Gellert gilt mit seinem pietistischen Familienroman Das Leben der schwedischen Gräfin von G. als Begründer des empfindsam-moralischen Familienromans. In seine Fußstapfen trat auch der aufklärerisch gesonnene Schriftsteller Johann Timotheus Hermes (1738 - 1821), der zur selben Zeit wie die La Roche den breit moralisch reflektierenden "Bestseller"-Roman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (entstanden 1770/73) verfaßt hat.
[26] KNLL 19, vgl. Melzer 64
[27] So schreibt die La Roche 1791 in den Briefen über Mannheim über die Parallele zwischen ihrem und Sophie von Sternheims Charakter (zit. n. Sternheim 363f.).
[28] Das galt auch für die Leserinnen und Leser der Sternheim. Caroline Flachsland, die Verlobte Herders, zeigte sich in einem Brief vom 14. Juni 1771 an ihren Verlobten begeistert: "Ich habe indeßen auch Geschichte der Fräulein von Sternheim gelesen. mein ganzes Ideal von einem Frauenzimmer! sanft, zärtlich, wohlthätig, stolz und tugendhaft. und betrogen. Ich habe köstliche, herrliche Stunden beym Durchlesen gehabt. ach, wie weit bin ich noch von meinem Ideal von mir selbst weg!" (zit. n. Sudhof 305). Auch für Herder hat "das durchgehende Dämmernde, Dunkle, und Moralischrührende eine Würde, eine Hoheit, die ich lange, lange nicht gefunden. ... welche Einfalt, Moral, Wahrheit in den kleinsten Zügen, und alle werden intereßant!" (Brief v. 22.6.1771 an Caroline; zit. n. ebd. 306).
[29] Wieland an La Roche: Sudhof 316, Endnote 16; vgl. Sternheim 396
[30] Die Kiltz/Harlander (175) als "schulmeisterliche Übergriffe ..., vorgetragen mit gelehrter und männlicher Ignoranz" abqualifiziert hat. Auch Jakob Michael Reinhold Lenz hat sich in einem Brief an die Autorin vom 25.6.1771 verärgert darüber gezeigt: "Mich ärgerte nichts mehr, als ... die dummen Noten, die mich allemal bey den seligsten Stellen in meinem Gefühle unterbrachen, gerad als wenn einem kalt Wasser aufgeschüttet wird" (zit. n. Sternheim 372).
[31] die im formalen Aufbauschema des Romans als Sammlerin der Aufzeichnungen präsentiert wird
[32] Sternheim 61; Rosalia gibt vor, die gesammelten Briefe in belehrender Absicht an eine Freundin weiterzugeben.
[33] Briefe über Mannheim, 1791; zit. n. Sternheim 364. Die Erinnerung an die Intention des Romans geschieht zwanzig Jahre nach dem Entstehen!
[34] vgl. Sudhof 304
[35] Über die Auflagenhöhe der Sternheim habe ich keine Hinweise gefunden. Der Roman hat allerdings bereits im Erscheinungsjahr zwei weitere Auflagen erlebt, 1772 folgte eine weitere in Bern und in den nächsten 15 Jahren vier weitere. Indiz für die starke Nachfrage nach dem Buch war, daß die beiden bekanntesten Nachdrucker der Zeit, Johann Georg Fleischhauer in Reutlingen und Christian Gottlieb Schmieder in Karlsruhe, das Buch 1776/77 in ihre Verlagsprogramme aufnahmen und in den achtziger Jahren auch nachdruckten (vgl. Melzer 63; Sternheim 386). Übersetzungen ins Französische, Englische, Holländische und Russische verbreiteten den Bekanntheitsgrad der La Roche als Schriftstellerin europaweit.
[36] Melzer 68
[37] ebd.
[38] Becker-Cantarino hat dazu festgestellt, Madam Leidens - die frühere Sophie von Sternheim - lebe und handele in einem Bezugssystem von Frauen; die Protagonistin lebt ausschließlich von und bei Frauen bzw. korrespondiert mit ihnen: Emilia, Madam Hills, Lady Summers (vgl. Sternheim 414).
[39] vgl. Melzer 63f., KNLL 20,
[40] Maurer 8
[41] Becker-Cantarino in: Sternheim 385
[42] vgl. Maurer 16
[43] vgl. ebd 9
[44] vgl. ebd 17
[45] vgl. ebd.
[46] ebd 18
[47] vgl. ebd 21
[48] vgl. Langner 36
[49] Langner 35f.
[50] vgl. Maurer 12
[51] Sophie Gutermann hatte allerdings das Glück gehabt, von ihrem Vater Astronomie und Geschichte und von ihrem ersten Verlobten Gian Lodovico Bianconi, katholischer Leibarzt des Fürstbischofs von Augsburg, Italienisch, Mathematik, Kunstgeschichte und Gesang zu lernen (vgl. Maurer 12, Killy 153, Sternheim 383).
[52] Becker-Cantarino in: Sternheim 409
[53] Kiltz/Harlander 168
[54] vgl. ebd. 169
[55] Maurer 10
[56] vgl. Langner 27
[57] ebd. 34
[58] Spies 82
[59] Langner 34.
[60] Die psychologische Seite der Darstellung eines Charakters war es denn auch, an der die zeitgenössischen Literaten der einsetzenden Sturm-und-Drang-Phase besonders interessiert waren. "Allein alle die Herren irren sich, wenn sie glauben, sie beurtheilen ein Buch - - es ist eine Menschenseele" - mit dieser begeisterten Rezension bestätigte Goethe die Intention der La Roche, ein Charakterbild zu zeichnen (vgl. Langner 47)
[61] vgl. Sternheim 401
[62] vgl. ebd. 395
[63] Becker-Cantarino in: Sternheim 407
[64] ebd. 396
[65] vgl. Spies 84
[66] vgl. Bloch 841
[67] homepage mdr
[68] ebd.
[69] vgl. Becker-Cantarino in: Sternheim 413
[70] Sternheim 258
[71] Besonders Melzer hat diese "mögliche Kompensationsfunktion" (Melzer 66; vgl. ebd 64) in der Lektüre des Romans herausgehoben.
[72] vgl. Kiltz/Harlander 170f.

Literatur
Bloch, Andreas: Sophie von La Roches "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" (von 1771) - Ehe und Eherecht im Werk und in der Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts. In: Neue Juristische Wochenschrift, Bd. 14, H. 13, 1995, S. 835 - 841.
Brüggemann = Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hrsg. v. Fritz Brüggemann. Leipzig: Reclam, 1938. (Deutsche Literatur, Reihe Aufklärung; Bd. 14).
homepage mdr = Internetseite http://www.mdr.de/Geschichte/personen/c-m-wieland.htm. Hrsg. v. d. Projektgruppe "Geschichte Mitteldeutschlands". Leipzig, 1998.
Kiesel, Helmuth / Münch, Paul: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland. München: Beck, 1977.
Kiltz/Harlander = Elke Kiltz / Heidrun Harlander: Konstituierung geschlechtsspezifischer Identität im bürgerlichen Roman. In: Einführung in die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Gisbert Lepper, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1983, S. 166 - 202.
Kimpel, Dieter: Der Roman der Aufklärung (1670 - 1774). 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Metzler, 1977. (Sammlung Metzler; M 68).
KNLL = Art. Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon, hrsg. v. Walter Jens, Bd. 10, 1990, S. 19 - 21.
Langner, Margrit: Sophie von La Roche - eine empfindsame Realistin. Heidelberg: Winter, 1995. (Reihe Siegen; Bd. 126).
Maurer = Sophie von La Roche: "Ich bin mehr Herz als Kopf". Ein Lebensbild in Briefen. Hrsg. v. Michael Maurer. 2. Aufl. München: Beck, 1985.
Melzer, Helmut: Die "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" von Sophie von La Roche. Ein ,Bestseller des 18. Jahrhunderts. In: Praxis Deutsch, Zeitschrift für Deutschunterricht, H. 86, November 1987, S. 63 - 68.
MLC = Metzler Literatur Chronik. Werke deutschsprachiger Autoren. Hrsg. v. Volker Meid. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1993.
Spies, Bernhard: Sophie von La Roches "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" und die moderne Trivialliteratur: Das moralische Vorbild als psychologische Kompensation. In: Literatur für Leser, 1991, H. 2, S. 80 - 89.
Sudhof, Siegfried: Sophie Laroche. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hrsg. v. Benno von Wiese. Berlin: Schmidt, 1977, S. 300 - 319.
Sternheim = Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hrsg. v. Barbara Becker-Cantarino. Stuttgart: Reclam, 1994.