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1. Einleitung

Die Auswanderungswelle der Jahre 1816 und 1817 war die erste große Auswanderungswelle des 19. Jahrhunderts.[1] Ihren Schwerpunkt hatte sie in Baden und Württemberg, wo hauptsächlich in Folge mehrerer katastrophaler Mißernten für damalige Verhältnisse gigantische Zahlen an Auswanderern ihr Glück in der Fremde suchten. Die vorrangigen Auswanderungsziele waren Amerika und Rußland. [2]
Insbesondere in den besser situierten, "gebildeten" Schichten des Bürgertums und der Geistlichkeit wurde diese Auswanderungswelle nicht ohne Besorgnis und Widerspruch aufgenommen.[3] Immer wieder versuchten Auswanderungskritiker, meist von eigenen Gnaden, in verschiedenen Schriften ihre Landsleute zum Bleiben zu überreden, meist jedoch, ohne selbst fundierte Kenntnisse der Notlagen im eigenen Land bzw. der Situation in den Einwanderungsländern zu haben.
Ein typisches Beispiel dafür ist die vorliegende Quelle, das beziehungsreich betitelte Werk "Bleibet im Lande" des Zeitungsredakteurs Friedrich Rückert. Anhand einiger weiterer Quellen ähnlicher Tendenz sollen im folgenden einige typische, wiederkehrende Argumente der Auswanderungskritiker zusammengefaßt und auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht werden. Dazu soll in knapper Form auf die Zustände in Baden und Württemberg in den Jahren 1816/17 eingegangen werden, um die wahren Auswanderungsgründe zu erschließen. Hierzu werden auch die Untersuchungen Friedrich Listsberücksichtigt.[4]
Wiederkehrende Berichte der Kritiker über katastrophale Zustände während der Reise und im Ankunftsland werden anhand der Berichte Moritz von Fürstenwärthers sowie weiterer Quellen untersucht, Klischees sollen aufgedeckt werden. Das sogenannte "Redemptionersystem", daß es Mittellosen erst ermöglichte, auszuwandern, findet hierbei besondere Berücksichtigung, bezeichnen Kritiker es doch als "White Slavery", "Weiße Sklaverei".[5]
Die Beschränkung auf die Jahre 1816/1817 und auf das Auswanderungsland Amerika findet ihre Begründung im vorhandenen knapp bemessenen Raum.

 

2. Zur zentralen Quelle

2.1. Text: Bleibet im Lande

Bleibet im Lande und nähret euch redlich,
Rücket zusammen und füget euch fein.
Machte nur keiner zu breit sich und schädlich,
Wäre das Land nicht für alle zu klein.
Aber wo alle sich drängen und reiben,
Da ist für Menschen im Land nicht zu bleiben,
Flösse das Land auch von Milch und von Wein.
Ist denn nicht Schwaben ein fruchtbarer Garten,
Eine gesegnete Weide die Schweiz?
Wollen die Gärtner der Reben nicht warten,
Fasset die Hirten der Wanderschaft Reiz?
Über den Meeren und nahe den Polen
Will sich da Schätze die Dürftigkeit holen,
Wo sie schon längst nicht mehr findet der Geiz?
Meinet ihr, draußen sei`s besser auf Erden?
Überall ist es auf Erden jetzt schlimm.
Nicht an dem Land, daß es besser soll werden,
Liegt es, am Menschen, es liegt nur an ihm.
Betet zu Gott, daß sein Licht hier besieget
Diese Verkehrtheit, an welcher es lieget;
Sein sei die Lenkung, nicht euer der Grimm.
Ziehet im Grimm nicht, im Unmut von dannen,
Wendet der Heimat den Rücken nicht zu!
Will sich das Vaterland, soll sich`s ermannen,
Wahrlich bedarf es der Männer dazu.
Aus der Verworrenheit gärendem Streben
Soll sich die Klarheit, die Ordnung erheben;
Bleibet und wartet, und wirket in Ruh.
Sehet! Der Himmel im Land euch ernähren
Will er, der schenkt euch die Fülle des Korns.
Teilet euch nur in die reichlichen Ähren,
Trinkt nur verträglich begnügsam des Borns!
Daß nicht an euch sich das Beispiel erneue,
Nicht als verworfenes Volk euch zerstreue
Rings in die Länder die Rute des Zorns.
Bleibet im Lande und nähret euch redlich,
Rücket zusammen und füget euch fein.
Mache nur keiner zu breit sich und schädlich,
Wäre das Land nicht für alle zu klein.
Wollet nur selbst euch nicht drängen und reiben,
Da ist für Menschen im Land noch zu bleiben,
Und es wird fließen von Milch und von Wein.[6]

2.2. Quellenkritik

Die vorliegende Quelle entstammt ursprünglich der Gedichtsammlung "Zeitgedichte 1816.1817." des Zeitungsredakteurs Friedrich Rückert.[7] Das Gedicht entstand in Stuttgart. Rückert war dort Mitredakteur des "Morgenblattes", das im Cotta-Verlag erschien. Zitiert wird nach der Quellenedition "Aufbruch nach Amerika", herausgegeben von Günter Moltmann. Insbesondere, da nach der zweiten, abermals überarbeiteten und von etwaigen Fehlern bereinigten Auflage zitiert wird, darf die Authentizität der Quelle angenommen werden.
In seinen Vorbemerkungen betont Moltmann die angewandte, größtmögliche Quellentreue in Wortlaut, Rechtschreibung und Grammatik. Auch weitere, diesem Band entnommene Quellen dürfen also als den Originalen größtmöglich angenähert und authentisch betrachtet werden. Daß, wie im Folgenden herausgestellt werden soll, in ihnen etliche inhaltliche Parallelen zur Hauptquelle auftauchen, unterstreicht die Berechtigung einer Einordnung des Rückertschen Gedichtes in eine breitere Strömung meist bürgerlicher Auswanderungskritik .

2.3. Inhalt der Quelle

Schon die Überschrift "Bleibet im Lande" zeigt den appellativen Charakter des vorliegenden Gedichtes. Adressaten des Textes sind offensichtlich die Auswanderungswilligen.
In Anlehnung an das Bibelwort "...Bleibe im Lande und nähre dich redlich" ermahnt Rückert seine Landsleute, von der Auswanderung abzulassen.[8] Statt dessen sollten sie betend und in Gottvertrauen auf bessere Jahre warten. Besserung erwarte sie weder "über den Meeren" (= in Amerika) noch "nahe den Polen" (hier wohl: Rußland): "Nicht an dem Land, daß es besser soll werden, / Liegt es, am Menschen, es liegt nur an ihm."
Daß im Text nicht nur auf die Fruchtbarkeit des Schwabenlandes, sondern auch der Schweiz hingewiesen wird, darf hier wohl als bloßes Zugeständnis an die Notwendigkeit eines Reimes auf "Reiz" und nicht als Anspielung auf etwaige Auswanderungsprozesse in anderen deutschsprachigen Staaten verstanden werden.
In der fast wortidentisch am Ende des Gedichtes wiederholten Anfangsstrophe jedenfalls verspricht Rückert als Belohnung für Genügsamkeit und Geduld, ein (Heimat-)Land, das "[...] von Milch und von Wein [...] fließen" wird.

2.4. Parallelen: Andere Auswanderungskritiker

Auf das Bibelwort "Bleibet im Lande" greifen auch andere Auswanderungskritiker zurück. So spielt auch der Landarzt Rieggert in seinem am 12. Februar 1817 im "Freiburger Wochenblatt" erschienenen Text mit seinen Schlußworten "Darum bleibet im Lande, und nährt euch im fruchtbaren Breisgau - einstweilen so gut's geht, nur redlich!" offensichtlich darauf an.[9] Auch im vorhergehenden ähneln seine Aussagen denen Rückerts: Ebenfalls gereimt, mahnt er Genügsamkeit an: "Genieße, was dir Gott beschieden / Entbehre gern, was du nicht hast; / Ein jeder Stand hat seinen Frieden / Ein jeder Stand hat seine Last." Zwar gesteht Rieggert den offenbar addressierten niederen Ständen zu: "Wahr ist's, es liegen große Lasten auf euch, herbeigeführt durch eine Reihe verhängnisvoller Kriegsjahre; selbst der Himmel scheint gegen euch im Bunde zu sein." Doch: "[...] ihr könnt ja viel ertragen, ihr schleppt euch noch ein Jahr durch, und der bessere Tag bricht für uns alle an." Als Ausweg empfiehlt auch Rieggert Gottesfurcht, die "Umkehr nach oben".
Über Rückerts Aussagen hinaus geht Rieggert mit einer dramatischen Schilderung der schweren Schiffsreise ("Den Sterbenden braucht man freilich die Augen nicht zuzudrücken. Diesen Liebesdienst verrichten die Haifische [...].") und Anspielungen an das Redemptioner-System: "Wer den [Geld-]Beutel nicht ziehen kann [um die Schiffsreise zu zahlen], verdient ihn ab. Es ist um 3,4,5, oder mehr Jahre zu thun [...]."[10]
Abermals mit besagtem Bibelwort schließt auch ein Christian Schilling aus Ludwigsburg, der seinem Bruder Jacob Schilling, einen Schneider im württembergischen Stetten (im Westen von Heilbronn) bittet: "[...] warne doch jeden für diesem unsinnigen Unternehmen [d.h. der Auswanderung] [...]"[11] Zu diesem Zwecke bietet Schilling reichliches Anschauungsmaterial über angebliche Unfruchtbarkeit amerikanischer Ländereien (... nun mußten sich die Menschen an die wilde Thiere machen, um sich vor dem Hungertod zu retten..."). Überhaupt wird Amerika ausschließlich als "Wildniß" beschrieben. Um Ackerland urbar zu machen, müßten erst Wälder gerodet werden. Und was Rieggert der Haifisch, ist Schilling der Bär: Die Worte "... fort mit Weib und Kinder fliehen / in ein Land voll Wildniß ziehen, / wo der Bär oft, eh mans glaubt / Kinder aus der Wiege raubt", sollen offenbar für Abschreckung durch Schockeffekt sorgen. Auch Schilling appelliert an die Bescheidenheit: "... du würdest lieber deine wenige Aker behalten, und in Ruh und Frieden dein Brod essen und nach saurer Tagarbeit in deinem weichen Bette dich ausruhen, als eine solche Meyerey haben, wo du nichts als Elend und Verderben vor Augen hast [...].
Der pensionierte Schullehrer A.F. Koch betont in seiner Schrift stärker als die bereits zitierten Autoren den Aspekt der angeblich fehlenden Vaterlandsliebe der Auswanderer. [12] Wie Schilling spielt er auf die angebliche Unfruchtbarkeit amerikanischer Böden an: "Die Unglücklichen! - Wie sehr täuschten sie sich, wie viel Elend und Jammer wartet ihrer, bis sie nur das Ziel ihrer mühseligen Reise erreicht haben,- und dann treffen sie öde Felder, statt den gesegneten Fluren Wirttembergs [...]!" Mit der nötigen Gottesfurcht, so glaubt auch Koch, werde sich die auch von ihm zugestandene Krise von selbst erledigen: "Nur Geduld, es werden auch wieder gute Zeiten kommen, das Land wird sein Gewächs geben, und Gott wird uns auch wieder segnen [...]." Was Rückert nur unterschwellig andeutet, spricht Koch offen aus: "Sind wir arbeitsam, so haben wir immer Brod, der Hunger steht dem Arbeitsamen nur ins Fenster, ins Haus darf er nicht kommen." Ganz offen wird hier also das Elend der Massen zumindest teilweise fehlendem Arbeitseifer zugeschrieben. In einer abschließenden Fußnote gibt Koch als maßgeblichen Auswanderungsgrund auch die Erzählungen von rückkehrenden "Schwärmern" und ihrer Briefe an.

3. Auswanderungsgründe

3.1. Mißernten

"Die Mißernte von 1816 und die dadurch verursachte Hungersnot bewirkten Steigerungen der Lebensmittelpreise von ungewöhnlichem Ausmaß und verstärkten gleichzeitig bestehende Arbeitslosigkeit. Diese Situation löste im Wechselspiel mit längerfristig wirkenden Faktoren allen obrigkeitlichen Warnungen vor der 'überhandnehmenden Auswanderungssucht' zum Trotz den ersten großen Emigrationsstoß im 19. Jahrhundert aus."[13]
Schon die Jahre 1811 bis 1815 brachten in Südwestdeutschland keine guten Ernten. Häufiger Regen und eine kühle Witterung hatten wiederholt für karge Erträge gesorgt. Zusätzlich hatten die vorangegangenen politisch unruhigen Zeiten, zuletzt der Krieg gegen Frankreich 1813/14 und 1815, das Anlegen von Vorräten erschwert.[14] Die durchmarschierenden Truppen beider Seiten verlangten nach Verpflegung, teils kam es auch zu Plünderungen.
Die infolge von erbrechtlichen Besonderheiten - vielfach wurden die Besitztümer beim Tod des Vaters unter den Söhnen aufgeteilt - oft in winzige Besitze aufgeteilten Äcker erbrachten ohnehin nur geringe Erträge. Zum Verkauf auf dem freien Markt blieb den Landwirten nur wenig übrig. Das meiste konsumierten sie selbst. Oft verdienten die Landwirte durch handwerkliche Tätigkeiten, etwa der Herstellung von Holzwerkzeugen und dergleichen, etwas hinzu.
Als nun mit dem Katastrophenjahr 1816 die Erträge so niedrig waren wie nie zuvor, kam es zur Katastrophe. "1816. Mai und Juni fast täglich Regen und Gewitter, so daß die Aecker versoffen und Weinberge rutschten" schrieb Carl Bames in seiner "Chronica von Reutlingen in Freud und Leid, im Festtags- und im Winterkleid". Schon im Oktober brach Frost ein, gerade, als die Ernte eingefahren werden sollte. "Infolgedessen erfroren oder verfaulten unschätzbare Mengen von Kartoffeln in der Erde. Auch die Erträge an Getreide, Futtermitteln, Wein und Obst blieben gering. [...] Zu allem Überfluß litt die Agrarwirtschaft in jenem Jahr auch noch unter einer verheerenden Mäuseplage".[15] Nach diesen Ereignissen gelangte im Jahr 1817 die Not an ihren Höhepunkt.
Die kleinen Besitztümer der Landwirte erbrachten nicht mehr genug Ernte, um sie selbst zu ernähren. Gerade zu Zeiten der Knappheit also, wo in größeren Betrieben die Not normalerweise durch hohe Preise und somit höhere Einnahmen gelindert worden wäre, mußten sie Getreide hinzukaufen. Die hohe Nachfrage erzeugte eine ungeheure Preissteigerung.[16]
Im April 1816 bekam man für einen Kreuzer noch einen 120 Gramm schweren Wecken. Im Juli 1816 kostete die gleiche Menge Brot schon das doppelte. Im Januar 1817 wog der 2-Kreuzer-Wecken nur noch 85 Gramm, im Sommer 1817 schließlich nur noch 50. Zum Vergleich: Ein Tagelöhner verdiente am Tag nur 15-20 Kreuzer. Eine Familie zu ernähren, war fast unmöglich geworden.[17]
Wenn Rückert also 1817 "Teilet euch nur in die reichlichen Ähren" schreibt, wirkt dies wie blanker Hohn, ebenso wie die Appelle zur Genügsamkeit von ihm und anderen Auswanderungskritikern: "Legt man einen Pro-Kopf-Bedarf von rund fünf Scheffeln Getreide zugrunde, so mußte schon in Normaljahren [infolge einer recht hohen Bevölkerungsdichte] als unterversorgt vor allem die Schwarzwaldregion, [und] mehrere Oberämter des mittleren Neckararms (Canstatt, Esslingen, Waiblingen) [...] gelten".[18] Der Ausgleich durch Intensivierungsmaßnahmen wie etwa verstärktem Kartoffelanbau reichte in den Krisenjahren nicht mehr aus. Da infolge der großen Teuerung auch von einer einbrechenden Nachfrage nach anderen Produkten ausgegangen werden kann, fielen auch die schon angesprochenen Nebenverdienste der Bauern knapper aus.
Durch pure Mehrarbeit also, wie etwa von Koch vermutet, konnte die Krise nicht bewältigt werden. Der Ausweg Emigration lag nahe. Und tatsächlich: "Die untere Mittelschicht kleiner Landwirte und überwiegend ländlicher Gewerbetreibender [stellte] das Gros der Emigranten".[19] Der Zusammenhang zur Mißernte ist eindeutig. Schätzungen von Hippels ergeben für das Jahr 1815/16 3000 Auswanderer im Baden-Württembergischen, im Jahr 1816/17 17.500. Danach gingen die Zahlen wieder zurück, offenkundig in Zusammenhang mit der guten Ernte des Sommers 1817.

3.2. Weitere Auswanderungsursachen

3.2.1. Die Untersuchungen Friedrich Lists

Zwar kann die Agrarkatastrophe der Jahre 1816/17 als Hauptgrund der Auswanderungswelle angenommen werden. Daß jedoch durchaus auch andere Faktoren dazu beitrugen, zeigen in deutlicher Weise auch die Befragungen des damaligen Rechnungsrates Friedrich List. Der König von Württemberg hatte List am 29. April 1817 durch seinen Innenminister von Kerner entsandt, um die Gründe der Auswanderung zu erforschen (und, wenn möglich, die Auswanderer zum Verbleib in Württemberg zu überreden).
List, ohnehin als liberaler und kritischer Geist bekannt, nahm bei der Auswertung der Befragungen der Auswanderer, die er in der Zeit vom 30. April bis zum 6. Mai 1817 in Heilbronn, Weinsberg und Neckarsulm sprach, kein Blatt vor den Mund und offenbarte als Auswanderungsgründe neben der Mißernte zu hohe Auflagen und Steuern, Korruption der Verwaltung, eine langsame Justiz, "Bedrükungen durch Gutsherrenschaften" und andere Gründe.[20] Die Wechselwirkung dieser schon länger wirkenden Faktoren mit der Hungerkrise analysiert List treffend und schließt: "...[E]s ist doch wohl die Sprache der Verzweiflung, wenn die Auswanderer von Weinsberg sagen, Es sey hier keine Beßerung zu hoffen. Sie wollen lieber Sklaven in Amerika seyn, als Bürger in Weinsberg."

3.2.2. Werbung

In seiner Analyse der Auswanderungsgründe vermutet List, daß auch das Wirken einer "ganze[n] Bande von Seelenverkäufern, größtentheils Württembergern" seine Landsleute zur Auswanderung verführt habe. Auch Koch vermutet ja in seiner Auswanderungskritik Artverwandtes.
Tatsächlich gab es schon seit längerem professionell organisierte Werber, die unter anderem mit echten oder gefälschten Briefen von Amerikareisenden über die Dörfer zogen und für die Auswanderung warben. Auf diese Weise trugen sie sicherlich zur Auswanderung bei, jedoch nicht entscheidend: "Eine Auswanderungswelle wie die der Jahre 1816/1817 konnte zwar von vielen ausgenutzt, aber nicht von ihnen verursacht werden. Werbung spielte eine eher untergeordnete Rolle."[21]

4. Auswanderung - tatsächliche Risiken und Chancen

4.1. Gefahrvolle Überfahrt

"[...] [I]ch sage euch, die Reiß ist hart, so hart als eine Kribelnus": Diese Worte des Auswanderers Chrisostemos Weis können als exemplarisch für die Reise-Erfahrungen wohl aller Auswanderer dieser und früherer Auswanderungs-Phasen gelten. [22] Überfüllte Schiffe und mangelhafte Ernährung an Bord werden allenthalben vermeldet. Viele Auswanderer überstanden die Überfahrt infolge von Unterernährung oder Seuchen nicht.[23] Erst nach dem Einsetzen staatlicher Regulierungen wurde die Überfahrt menschenwürdiger gestaltet. [24] Bis dahin aber ist die Überfahrt wohl eines der Felder, bei denen die Auswanderungskritik am ehesten zutraf. Insbesondere in den Niederlanden, dort besonders im Hafen von Amsterdam, spielten sich Szenen des Elends ab.[25] Vielfach endete für mittellose Auswanderer die Reise schon dort, sofern sie nicht vermittels des Redemptioner-Systems doch noch zu einer Passage nach Amerika kamen.

4.2. Das Redemptioner-System - eine Form der Sklaverei?

Eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen der Auswanderungswelle von 1816/17 spielte das damals noch vorhandene Redemptioner-System.[26].Abgeleitet vom Englischen "to redeem" (loskaufen, ablösen), beschrieb der Begriff ein System der Vertragsarbeit auf Zeit: Mittellose Auswanderer wurden dennoch nach Amerika befördert. Angekommen in den Zielhäfen, mußten die Auswanderer so lange an Bord der Schiffe warten, bis ihr neuer Dienstherr sie freikaufte. In mehrjähriger Arbeit mußten sie diese Summe dann dort abarbeiten.
Kritiker wie Landphysikus Rieggert setzen dieses System mit der in Deutschland üblichen Tagelöhnerei gleich. Rieggert selbst kommt zu dem Schluß: "...[D]as hätten sie so in der Nähe haben können [...] Der NegerSklavenHandel geht nicht mehr überall, sie [die Amerikaner] wollen's mit teutschen Blut probieren [...]". Christian Schilling schreibt: "[...] noch andere haben sich auf Plantagen als Sklaven vermiethet [...]."
Mit Sklaverei jedoch hatte das System nichts gemein, lagen doch den Arbeitsverhältnissen bei korrekter Durchführung zeitlich begrenzte Arbeitsverträge zugrunde.[27] Und mögen auch gewisse Parallelen zur Tagelöhner-Arbeit in Deutschland vorhanden sein, bleibt festzustellen, daß das zeitlich begrenzte Dasein eines Tagelöhners in Amerika wohl immer noch eine lohnendere Perspektive darstellte als das Hungern in Deutschland. So heißt es in einem Brief des Franz Anton Weis.[28] "[...] mir hätten am Ende [in Deutschland] noch können betelbuben werden und jetzt wan wir ein wenig obacht geben so können wir in diesem Land noch Herren werden. Essen und Trinken haben mir schon so gut als Herrenleut bei euch."

4.3. Die Mission Fürstenwärther

Auf Veranlassung seines Vetters Hans von Gagern, Gesandter des Großherzogtums Luxemburg im Frankfurter Bundestag, war der Freiherr Moritz von Fürstenwärther im Sommer 1817 über Amsterdam nach Amerika gereist. Versehen mit einem ausführlichen Fragenkatalog forschte Fürstenberg dort mehrere Monate. Sein Abschlußbericht vom 6. März 1818 stellt zwar nochmals heraus, daß die Reise nach Amerika etliche Risiken birgt und "Wenige [ankamen], die nicht irgend einen Verlust zu beweinen hatten." [29] Immer wieder jedoch betont Fürstenwärther - in krassem Gegensatz zu den oben zitierten Kritikern - die enormen Möglichkeiten Amerikas: "Allein bey den ungeheuren noch unbevölkerten Ländern, welche das Gebiet der vereinigten Staaten ausmachen, werden jene Aussichten, wenn gleich nicht mehr so lockend und so untrüglich wie in den ersten Zeiten der Colonien, immer fortdauern." Insbesondere "[...] die Abwesenheit aller Nahrungssorgen und Besorgnisse für das Schicksal der Kinder, die daher rührende Möglichkeit früher Heirathen, wenig Abgaben, bürgerliche Freyheit, Toleranz, Sicherheit vor Revolutionen und Kriegen sind Vorzüge desselben [Amerika]."
Wenn Fürstenwärther selbst Kritik an Amerika äußert, so mißfallen ihm eher ideelle Dinge: "Man hat in diesem Lande keinen Begriff, ja nicht die Ahnung eines höhern und feinern Lebens, wenigstens auf dieser Erde. [...] Grober Materialismus und Interesse sind der Charakter [...]." Insbesondere das angeblich fehlende Nationalbewußtsein mißfällt Fürstenwärther. Einer gewissen Arroganz entbehren Passagen wie die eben zitierte nicht. Man kann davon ausgehen, daß derartige "Beobachtungen" zu einem Gutteil gewissen Vorurteilen gegenüber der noch jungen Nation Amerikas entsprangen.

5. Fazit

"Kartoffeln gibt's wie Marzipan / An jedem Stock drei Scheffel dran / Wir ziehen ins Land, wo immergrün / Und selbst im Winter Rosen blühn": Diese Strophe aus der erzgebirgischen Fassung eines Auswandererliedes von 1830 des Lehrers Sauter kann wohl als krasses Gegenstück zu den anfänglich zitierten Auswanderungskritikern gelten.[30] Sogar Goethe ließ sich zu Auswandererdichtung hinreißen: "Wo an wohlgebahnten Straßen / Man in einer Schenke weilt, / Wo dem Fremdling reichermaßen / Ackerfeld wird zugeteilt / Siedeln wir uns an mit andern / Eilet, eilet einzuwandern / In das feste Vaterland! / Heil Dir, Führer! Heil Dir, Band!"[31]
Bei aller Gegensätzlichkeit der Aussage haben die eben zitierten Werke eins mit der zitierten Auswanderungskritik gemein: Sie sind maßlos übertrieben und gründen zum Teil auf purer Erfindung. Tatsächlich anwendbarer Rat für Auswanderer findet sich in ihnen nicht.
Wenn Koch die Lockungen von auswärts als Hauptgrund für die Auswanderung wähnt, wenn Rückert und Rieggert von den Auswanderungswilligen fordern, doch einfach gottvertrauend auf Besserung zu warten, anstatt wegzuziehen, sind ihnen die Zustände im eigenen Land, sind ihnen die Befindlichkeiten der Auswanderungswilligen ebensowenig im Detail bekannt wie den beiden zitierten Dichtern die wirklichen Verhältnisse in Amerika. Gewisse bewußte Verzerrungen mit propagandistischer Absicht können zusätzlich auf beiden Seiten angenommen werden.
Wenn im übrigen noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wilhelm Heinrich Riehl mit Thesen über "den deutschen Bauern" wie "Hagel und Mißwachs kann er hinnehmen, ergebenen Sinnes ausharrend" oder "Wenn man den Bauern fragt, dann hat er immer etwas zu murren und zu klagen; man kann ihm das Murren so wenig abgewöhnen als den Wölfen das Heulen" großen Erfolg in konservativen bürgerlichen Kreisen hatte, so weist dies darauf hin, daß die Distanz zwischen Bürgertum und "einfachen Leuten" mit Sicherheit Mit-Ursache für Fehleinschätzungen wie die in der Hauptquelle aufgezeigten auch längere Zeit nach dem Ende der Hungerkrise 1816/17 noch fortdauerte.[32]
Wie auch immer: Das Ausmaß der Auswanderung zeigt, daß die Kritiker von der breiten Masse ignoriert wurden. Wie es sich auf den Verlauf der Baden-Württembergischen Krise ausgewirkt hätte, wenn die Auswanderer tatsächlich "im Lande geblieben" wären, kann jedenfalls nur spekuliert werden.

6. Bibliographie

6.1. Quellen

Moltmann, Günter (Hg.): Aufbruch nach Amerika. Die Auswanderungswelle von 1816/17, 2. überarbeitete Auflage, Stuttgart 1989.
Riehl, Wilhelm Heinrich: Die bürgerliche Gesellschaft. Herausgegeben und eingeleitet von Peter Steinbach, Frankfurt/M. 1976.

6.2. Fachliteratur

6.2.1. selbständige Veröffentlichungen

Bayer, Dorothee: O gib mir Brot. Die Hungerjahre 1816 und 1817 in Württemberg und Baden, Ulm 1966.
Bretting, Agnes, Bickelmann, Hartmut: Auswanderungsagenturen und Auswanderungsvereine im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991 (Zur Sozialgeschichte der Auswanderung des 19. und 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Günter Moltmann, Bd. 4).
Hippel, Wolfgang von: Die Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984.
Smolka, Georg, Freeden, Hermann von (Hg.): Auswanderer. Bilder und Geschichten der deutschen Auswanderung, Leipzig 1937.
Walker, Mack: Germany and the Emigration 1816 - 1885, Cambridge/Mass. 1964.

6.2.2. unselbständige Veröffentlichungen

Bretting, Agnes: Der Staat und die deutsche Massenauswanderung. Gesetzgeberische Maßnahmen in Deutschland und Amerika, in: Trommler, Frank (Hg.): Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, Opladen 1986, S. 50-63.
Focke, Harald: Friedrich List und die südwestdeutsche Amerikaauswanderung 1817-1846, in: Moltmann, Günter (Hg.): Deutsche Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Beiträge, Stuttgart 1976, S. 63-79.
Moltmann, Günter: Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert, in: Trommler, Frank (Hg.): Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, Opladen 1986, S. 40-49.


[1] Wolfgang von Hippel, Die Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 175; Günter Moltmann (Hg.): Aufbruch nach Amerika. Die Auswanderungswelle von 1816/17, 2. überarbeitete Auflage, Stuttgart 1989, S. 19 ff.
[2] Mack Walker, Germany and the Emigration 1816 - 1885, Cambridge/Mass. 1964, S. 1.
[3] Von der Obrigkeit selbstverständlich auch nicht. So war in Württemberg von 1807-1815 die Auswanderung durch König Friedrich in krassem Gegensatz zum seit dem frühen 16. Jahrhundert geltenden Recht des "freien Abzugs" sogar ganz verboten worden.
[4] List, Friedrich, geboren 6.8.1789 in Reutlingen, gestorben 30.11.1846 in Kufstein. List war Volkswirtschaftler und Politiker radikal-liberaler Gesinnung.
[5] Moltmann, Aufbruch, S. 30.
[6] Zit. nach Moltmann, Aufbruch, S. 396-7.
[7] In: Friedrich Rückert's gesammelte Werke in zwölf Bänden, Neue Ausgabe, Band 1, Frankfurt a.M.: J.D. Sauerländer's Verlag, 1882, S. 197-198.
[8] Psalm 37, Vers 3: "Hoffe auf den Herrn und tue Gutes; bleibe im Lande und nähre dich redlich."
[9] Zitiert nach Moltmann, Aufbruch, S. 365-369.
[10] Zum Redemptioner-System vgl. Punkt 4.2. dieser Arbeit.
[11] Zitiert nach Moltmann, Aufbruch, S. 373-375.
[12] A.F. Koch, Darstellung der Ursache der gegenwärtigen Auswanderungssucht in fremde Erdteile. Ein Wort zu seiner Zeit gesprochen, Eßlingen 1817, zit. nach Moltmann, Aufbruch, S. 379-385.
[13] Von Hippel, S. 142.
[14] Vgl. Moltmann, Aufbruch, S. 26.
[15] Harald Focke, Friedrich List und die südwestdeutsche Amerikaauswanderung 1817-1846, in Günter Moltmann (Hg.), Deutsche Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Beiträge, Stuttgart 1976, S. S. 72.
[16] Walker, S. 3 ff.
[17] Zahlen zitiert nach Dorothee Bayer, O gib mir Brot. Die Hungerjahre 1816 und 1817 in Württemberg und Baden, Ulm 1966. Die Zahlen entstammen lt. Bayer Gerichtsprotokollen aus Waiblingen.
[18] Von Hippel, S. 163.
[19] Von Hippel, S. 278.
[20] Hierzu ausführlich Günter Moltmann, Friedrich Lists Auswanderungsbefragungen, in Moltmann, Aufbruch, S. 121 ff.
[21] Agnes Bretting, Hartmut Bickelmann, Auswanderungsagenturen und Auswanderungsvereine im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991 (Zur Sozialgeschichte der Auswanderung des 19. und 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Günter Moltmann, Bd. 4), S.22. Dazu auch Walker, S. 8: "Agents did not go into areas where no one had thought of leaving and suddenly create the movement. They went where the movement already existed."
[22] Zit. nach Moltmann, Aufbruch, S. 270-274. C. Weis fand später übrigens ein Auskommen als Bäckermeister.
[23] Moltmann, Aufbruch, S. 281ff, Auswandererelend auf den Schiffen "Ceres", "Hope" und "April" im Sommer 1816.
[24] Etwa der Einschränkung der Passagierzahlen pro Schiff.
[25] Walker, S. 9: "[...] [T]housands of destitute German families piled up in Netherlands port towns, jamming the docks, streets, and porthouses, spilling out into the countryside; and still they came, by boat, wagons, and on foot."
[26] Zur Abschaffung des R. trug mit Sicherheit ein 1819 verabschiedetes Gesetz zur Einschränkung der Passagierzahlen pro Schiff bei - Agnes Bretting, Der Staat und die deutsche Massenauswanderung. Gesetzgeberische Maßnahmen in Deutschland und Amerika, in Frank Trommler, (Hg.), Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, Opladen 1986, S. 58. Zum R. auch Georg Smolka, Hermann von Freeden, Auswanderer. Bilder und Geschichten der deutschen Auswanderung, Leipzig 1937, S. 28-30.
[27] Moltmann, Auswanderung, S. 297-303.
[28] Ein Sohn des oben zitierten Chrisostemos Weis. F. A. Weis war von seinem Vater getrennt worden, da dieser nicht, wie neben F.A. auch dessen Bruder Hans-Georg, rechtzeitig ausgelöst wurde. F.A. Weis zitiert nach Moltmann, Aufbruch, S. 279-280.
[29] Zitiert nach Moltmann, Aufbruch, S. 231-238.
[30] Zit. nach Smolka, S. 146.
[31] Goethe, Lied der Auswanderer (1840), dritte Strophe, zitiert nach Smolka, S. 146.
[32] Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft. Herausgegeben und eingeleitet von Peter Steinbach, Frankfurt/M. 1976.