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§;Universität Tübingen |
Deutsches Seminar |
Linguistik 1 / Proseminar |
"Der Gegenstand der Linguistik" |
Dr. Kennosuke Ezawa |
Achim Glasbrenner |
SS 1993 / Note: 1-2 :-) |
Literaturverzeichnis
Chomsky, Noam; "Reflexionen über die Sprache", Frankfurt/M, Suhrkamp Verlag, 1977
Büntig, Karl-Dieter; "Einführung in die Linguistik", Frankfurt/M, Verlag Anton Hain, 1993
Jakobson, Roman; "Aufsätze zur Linguistik und Poetik", München,
Nymphenburger, 1974
Der Gegenstand der Linguistik
Linguistik wird zunächst grob definiert als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Sprache auf empirischer Basis.(1) Das ernsthafte Bemühen auf der Grundlage wissenschaftstheoretischer Überlegungen ist Voraussetzung für glaubwürdige Ergebnisse. Sprache "kann adäquat nur in einem bewußt vollzogenen Wechsel zwischen Datenanalyse und theoretischer Reflexion erfaßt werden".(2)
Noam Chomsky, der für eine später noch genauer zu beschreibende Richtung innerhalb der Linguistik steht, erklärt sein Interesse an Sprachwissenschaft so: Es fasziniert ihn, "daß wir durch die Untersuchung der Sprache abstrakte Prinzipien entdecken können, die ihre Struktur wie ihre Verwendung regieren, Prinzipien, die aufgrund biologischer Notwendigkeit universale Gültigkeit besitzen und nicht bloß einen historischen Zufall darstellen, Prinzipien, die von mentalen Merkmalen unserer Spezies abhängen."(3) Seine Motivation scheint mir philosophischer, sogar antroposophischer Natur zu sein, denn "wir können hoffen, etwas über die menschliche Natur zu erfahren - etwas Signifikantes, falls es zutrifft, daß die kognitiven Fähigkeiten des Menschen das wirklich destinktive und bemerkenswerteste Charakteristikum unserer Spezies darstellen."(4)
Ich möchte zunächst versuchen, seinen Ausgangspunkt genauer zu beschreiben. Im Gegensatz zu den traditionellen Verhaltens- und Wahrnehmungstheorien, die nach seiner Einschätzung zuviel "empiristische Spekulation"(5) enthalten und durch eher dogmatisches Denken einem wirklich wissenschaftlichen Vorgehen somit im Wege stehen, versucht Chomsky durch Interdisziplinarität seine Fehlerquote und seine Angreifbarkeit zu minimieren.(6)
Er läßt Russell die übergreifende Frage stellen: "Wie kommt es, daß wir trotz unseres so kurzen, subjektiven und beschränkten Kontakts mit der Welt derart viel wissen können?"(7) Über die aristotelische Basis eines präexistenten Wissens und weiter über die Kantschen a priori Ideen kommt er zum Schluß: "Unsere Systeme des Wissens sind genau die, zu deren Konstruktion unser Geist, als eine biologische Struktur, geschaffen ist"(8) Unser mögliches Wissen hängt also von unserer biologischen Struktur ab und ist durch sie auch begrenzt. Durch eine psychologische und neurophysiologische Betrachtung der Sprache versucht er, dieses mentale Organ(9) zu verstehen und dadurch auch der Sprachfähigkeit und anderen kognitiven Fähigkeiten näherzukommen. Mentales Organ meint hierbei, daß die Sprache zum einen durch die Sprachfähigkeit, eine kognitive Fähigkeit des Geistes, und durch die von der Sprachfähigkeit generierte Grammatik bestimmt wird, und zum anderen auch durch die physische Entwicklung des Körpers, genauer des Gehirns eine determinierte biologische Struktur aufweist, nämlich die der UG, der universalen Grammatik.
Darauf aufbauend entwickelt Chomsky für die Sprache
eine Lerntheorie
LT ( M,S), wobei M für das Objekt Mensch und S für
den zu lernenden Bereich Sprache steht. Man kann sie als eine Funktion
mit Argumente- und Wertebereich ansehen, wobei die Argumente aus zu analysierenden
Daten und die Werte aus einer wie auch immer gearteten kognitiven Struktur
bestehen, letztere uns jedoch noch nicht zugänglich scheint.(10)
Diese Theorie kann für jeden Bereich verallgemeinert werden. "Die
Psychologie ist somit jener Teil der Humanbiologie, auf deren fundamentalster
Ebene es um die Fähigkeiten zweiter Ordnung geht, kognitive Strukturen
zu konstruieren, die in unseren Fähigkeiten erster Ordnung, eben in
die Fähigkeiten zu handeln und Erfahrungen zu interpretieren, eingehen."(11)
Diese Vorgehensweise Chomskys scheint typisch für diese Wissenschaft,
"die ihren Phänomenbereich deskribiert, indem sie - individualisierend
- Elemente einzeln betrachtet [hier das Phänomen der Sprachfähigkeit]
und sammelt und sie - abstrahierend - in Klassen ordnet und ihre Relationen
in z. T präskriptiv formulierte Regeln faßt."(12)
Für Chomsky bilden die durch die kognitiven Fähigkeiten gebildeten kognitiven Strukturen einen Teil des kognitiven Zustands, der als das Ergebnis einer der oben genannten Funktionen LT angesehen werden kann.(13) Innerhalb der kognitiven Kompetenz ist die Sprachfähigkeit nur ein Bereich B. Diese Kompetenz(14) ist die Kenntnis, die ein idealer Sprecher / Hörer von seiner Sprache hat und er kann durch seine kreativen oder auch generativen Möglichkeiten eine unendliche Folge von Sätzen produzieren auf der Grundlage der UG und der aus ihr abgeleiteten speziellen Grammatik.(15)
Über die Frage, wann wir Wittgensteins Sessel als einen Sessel, oder wann wir einen Tiger als Tiger bezeichnen(16), räumt er die Möglichkeit ein, "daß eine reale Sprache [auch] nur aus der Interaktion mehrerer geistiger Fähigkeiten resultiert, wobei lediglich eine davon die Sprachfähigkeit ist."(17) Eine dieser Fähigkeiten ist z. B. der Common Sense Verstand, der im Zusammenspiel mit dem System der Sprache am Akt des Benennens teilnimmt.(18) In diesem Zusammenhang findet Chomsky die Verknüpfungen Kripkes, der die sprachliche Namensgebung mit recht metaphysischen Vorstellungen von wesentlichen Eigenschaften der zu benennenden Gegenstände in Beziehung setzen will, für fraglich, und bezweifelt, ob solche Untersuchungen "recht viel über die Arbeitsweise der menschlichen Sprache und des menschlichen Denkens sagen [können]". (19) Die Behauptung Searles, der in natürliche und institutionelle Tatsachen trennt, daß Sprechen bedeutet, "in Übereinstimmung mit konstitutiven Regeln, die institutionelle Tatsachen bestimmen, gewisse Akte zu vollziehen"(20), weist er als zu einfach zurück, denn diese Akte geregelt zu vollziehen verweist auf eine weitere, andere kognitive Fähigkeit und erhellt nicht die Arbeitsweise der Sprache.
Die oben genannte Kompetenz , also die Möglichkeit oder das Vermögen, sprachliche Texte zu generieren, ist von dem tatsächlichen Akt des Sprechens, der Performanz, zu unterscheiden. Da sich Performanz nur durch ihre Ergebnisse beschreiben läßt, ist sie statisch. Chomsky fordert jedoch, daß eben die dynamischen Mechanismen der Sprache zu untersuchen seien, weil die sprachliche Kompetenz eben jederzeit neue Texte erzeugen kann und somit Ergebnisse von Untersuchungen statischer Texte ständig veraltet wären.(21)
Einen weiteren Versuch, die kognitive Struktur der Sprache zu erhellen, bietet Searle als Vertreter der Kommunikationstheoretiker: Da Struktur und Funktion der Sprache zusammenhängen müssen(22), kann man über die wesentliche Funktion der Sprache, nämlich der Kommunikation, ihrer Struktur näherkommen. Es gäbe eine wesentliche Verknüpfung zwischen Sprechakt und Bedeutung und letztere lasse sich durch einen Rekurs auf die Sprecherintention eruieren.
Chomsky kritisiert dabei folgendes: Zum einen sieht er Kommunikation nur als eine Funktion der Sprache. Er gibt zwar zu, daß die Erfordernisse der Kommunikation Einfluß auf die Struktur haben können, er hält jedoch diese These für wenig aussagekräftig(23). Darüber hinaus sieht er keine Möglichkeit, durch Rekurs auf die Funktion das Prinzip der Strukturabhängigkeit der sprachlichen Regeln zu erklären. (24) Die Hypothese der Sprecherintention widerlegt Chomsky, indem er anzweifelt, daß bei allen Formen der Kommunikation eine Intention erkennbar ist, die die Bedeutung eindeutig erklärt.(25) Außerdem wendet er sich gegen die Forderung, daß eine Intention in jedem Fall vorhanden sein muß.(26)
Der Gegenstand seiner Beschäftigung ist also die
Sprache als lebendiger, mit den Sinnen erfahrbarer Ausdruck mentaler Strukturen,
wobei über die Analyse jener hinaus, tiefere Erkenntnisse über
die Arbeitsweise des Gehirns möglich scheinen.
Fußnoten:
1 vgl. Büntig, S.15, Abb.1., "Überblick über linguistische
Tätigkeiten"
2 Büntig, S.16
3 Chomsky, S.12
4 Chomsky, S.13
5 Chomsky, S.19
6 Wobei Chomsky als Vertreter einer generativen, transformationellen
Grammatik auch einen hohen Grad an Formalismus erreicht, der die Untersuchungsergebnisse
explizit machen soll.
7 Chomsky, S.13
8 Chomsky, S.16
9 Chomsky, S.50
10 Hier nur vereinfacht, außer Acht gelassen sind Varianz
der Spracherwerbsfähigkeit und Häufigkeit und Art der Stimuli,
also der zu analysierenden Daten. Vgl. dazu Chomsky, S.23ff
11 Chomsky, S.51
12 Büntig, S.54
13 "Dieser Zustand inkorporiert zudem Gewohnheitsstrukturen, Dispositionen,
sowie die Fähigkeiten, kognitive Strukturen verwenden zu können.",
Chomsky, S.52
14 gemeint ist kognitive Kompetenz (oder cognition)
15 Chomsky geht davon aus, daß die UG hinreicht um eine
spezielle Grammatik zu determinieren. Es könnte aber auch sein, "daß
die Sprachfähigkeit nur in Verbindung mit anderen Fähigkeiten
des Geistes eine Grammatik konstruiert.", Chomsky, S.55
16 Chomsky, S.56ff
17 Chomsky, S.57
18 Chomsky, S.58
19 Chomsky, S.68
20 Chomsky, S.69
21 Diese dynamischen Mechanismen der Sprache werden auch als generative
Grammatiken bezeichnet. Vgl. zu statisch-dynamisch auch die
Saussuresche Dichotomie Langue-Parole, sowie die Humboldtsche Konzeption
ergon-energeia.
22 vgl. das Beispiel Herz-Blut, Chomsky, S.71
23 vgl. das Beispiel Bewegung-Beine, Chomsky, S.74
24 Denn die Sprache könnte auch mit strukturunabhängigen
Regeln funtionieren. Chomsky, S.74
25 Bei einer Lüge oder einer bewußten Täuschung
bleibt die Bedeutung der Rede dem Hörer verborgen, sichtbar ist nur
die wörtliche Bedeutung.
26 vgl. Chomsky, S.78 und die Widerlegung des Griceschen "Situations-Bedeutung
in Abwesenheit eines Hörers"-Modells