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Inhaltsverzeichnis

 

Einleitung 3

 

I. Religiöser Bezug der Novelle 4

I.1 Erläuterung der christlichen Motivik 4

I.1.1 Vertreibung aus dem Paradies bzw. Sündenfallmotiv 4

I.1.1.1 Rahmenerzählung 6

I.1.1.2 Binnenerzählung 6

I.1.2 Tag der Rechenschaft/ Tag des jüngsten Gerichts 11

I.1.2.1 Rahmenerzählung 11

I.1.2.2 Binnenerzählung 11

I.1.2 Das Schlachtlied und der Meteor 12

 

I.2 Religiöse Leitmotive 14

I.2.1 Wiederherstellung der alten Ordnung 14

durch das Aussprechen der Wahrheit

I.2.2 Unendliche Harmonie durch den 16

übergeordneten Gedanken von "Paci et Providentiae"

 

II. Bezug der Novelle zur Kunst 18

 

II.1 Erläuterung der Denkmalsmotivik 18

 

II.2 Die Rolle der Kunst 19

II.2.1 Das Denkmal als Mahnmal der Menschen 19

II.2.2 Die Konstitution der Erzählung im Denkmal 19

 

III. Brentanos Selbstverständnis und Weltanschauung 21

 

III.1 Brentanos Verständnis von Kunst 21

und seiner Rolle als Künstler bzw. Dichter

III.2 Die ontische Welt 22

 

Literaturverzeichnis 25

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Einleitung

 

Die Erzählung "Die Schachtel mit der Friedenspuppe" entstand zur Zeit des Wiener Kongresses, als die Wirren um die Französische Revolution und ihre Auswirkungen auf die französische Thronfolge weitestgehend abgeklungen waren. Erschienen ist die Novelle im Januar 1815 in der Wiener Zeitschrift "Die Friedensblätter", die während der hundert Tage Napoleons von Brentano mitprojektiert wurde.

 

Genauso wie Brentano, der sich zugleich als Reaktionär und Katholik versteht, ist auch die vorliegende Erzählung ihrem Publikationsmedium durch ihre politische Thematik verbunden. Die beiden Komponenten der Friedensblätter - nationale und christliche Idee - lassen sich auch in der Erzählung lokalisieren. Die Verbindung und Vermischung dieser beiden Elemente zieht sich als doppeldeutiges Moment durch die gesamte Erzählung.

So werden in der Novelle "moralischer Verfall, Bosheit und Verbrechen vor dem Hintergrund des Zerfalls gesellschaftlicher und religiöser Normen während der Französischen Revolution gesehen". (Kluge: 1978: 120)

 

Wie die nationalen und historischen Parallelen taucht also auch der Religiöse Gedanke auf ähnlich wiederkehrende Weise auf. In der vorliegenden Arbeit versuche ich, die Erzählung von diesem Ansatz aus zu interpretieren.

In den Kapiteln I und II arbeite ich aus diesem Grunde zunächst am Text bzw. ihren religiösen und künstlerischen Bestandteilen, die durch die Denkmalssymbolik letztlich stark miteinander verbunden sind. Zu diesem Zwecke gilt es zunächst auf die komplizierte Verschachtelungstechnik einzugehen, die für Brentanos Prosa im Gegensatz zu seiner direkten und emotional gehaltenen Lyrik sehr typisch ist. Im III. Teil der Arbeit widme ich mich der freien Interpretation und der Frage nach Brentanos Selbstverständnis und seiner Auffassung von Welt und Wirklichkeit.

 

 

 

 

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I.1 Erläuterung der christlichen Motivik

 

Bei der Analyse der Novelle "Die Schachtel mit der Friedenspuppe" fällt auf, daß die Charaktere der Figuren sehr konträr gehalten sind. Brentano schafft nur Personen mit eindeutig guter (Baron, Frenel, Antoinette) oder böser Haltung (Sanseau, Sanseaus Frau, Dumoulin). In der vorliegenden Novelle findet auf jedoch eine sehr klare Überwindung des Bösen durch das Gute statt. Dieser offenkundige Sieg ist bei Brentano nicht oft derart eindeutig zu finden.

Die vorherrschende schwarz-weiße Weltsicht erinnert sehr an

 

I.1.1 Vertreibung aus dem Paradies bzw. Sündenfallmotiv

Das Sündenfallmotiv wurde in den Erzählungen und vor allen Dingen in den Gedichten Brentanos in der Zeit von 1816 bis 1819 des öfteren thematisiert und ist auch in der Romantik allgemein ein Element von zentraler Bedeutung.

"Die sogenannte triadische Folge: Paradies, verlorenes - und wiederzugewinnendes Paradies [ist dabei] typisch für das romantische Geschichtsdenken" (Brandstetter, Bd. 33: 127)

 

Die triadische Folge

geht einher mit

und wird in der Novelle symbolisiert durch

 

1. Paradies

Zufriedenheit

 

 

  • gesellschaft. Rang, Titel und Erbe (Frenel, Antoinette)

2. Verlorenes Paradies

Verlust der Unschuld

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4

  • Überbringung der Kindsleiche (Antoinette)
  • Hochmut, Eitelkeit und der Verlust innerer moralischer Werte (Mademoiselle Montpreville)
  • Verleugnung des Glaubens bzw. Gottes (Dumoulin)

 

 

2. (Fortsetzung)

Sündenfall (Vgl. 1. Mose 2)

 

  • Habsucht (Sanseau)
  • Verbrennen des Stammbaumes (Mademoiselle Montpreville)
  • Unterschiebung der Kindsleiche Dumoulin und Sanseau)

 

 

Verlust der Kenntnis über das Schöpfungsgeheimnis

  • verlorenes Wissen über Geburtsstand bzw. Vermögen (Frenel, Antoinette)

 

3. und wiederzugewinnen

des Paradies

Christus besiegt den Tod, der Einzug ins Paradies nach dem Tode ist damit wieder möglich

  • Wiedergewinnung der Identität, aller Rechte und des Erbes (Frenel, Antoinette)

 

Die Vertreibung aus dem Paradies 2 war Gottes Strafe für die erste menschliche Sünde, die durch die Versuchung des Satans bzw. der Schlange entstanden ist. Durch das Essen der verbotenen Frucht verloren Adam und Eva nicht nur das Paradies, sondern auch das göttliche Buch der Schöpfung. Dieses von Gott gegebene Buch sollte dem unschuldigen Adam das Schöpfungsgeheimnis enthüllen. Die Unschuld des paradiesischen Menschen lag also in der Unschuld seines Wissens. Durch den Sündenfall, die Untreue und den Hochmut Gott gegenüber "ist das Wissen des Menschen schuldig; es muß mühsam erworben werden und bleibt Stückwerk, zusammengesetzt aus Rekonstruktionsversuchen der paradiesischen Existenz und aus der Ansammlung von Kulturwissen in der Tradition": (Brandstetter, Bd. 33: 128 ff) Vor der Wiedererlangung paradiesischer Verhältnisse 3 wird also die Suche nach dem Wissen gesetzt.

Die Darstellung der "Schachtel mit der Friedenspuppe" als Kriminalfall ist von Brentano wohl nicht zufällig gewählt worden, denn dieses Erzählschema impliziert schon automatisch eine Suche nach Wissen bzw. Wahrheit. Das Schöpfungsgeheimnis wäre demnach evtl. als das Geheimnis um die Herkunft des Frenel bzw. um seine geburtliche Abstammung. zu interpretieren

Der typologische Dreischritt (1, 2, 3) wird sowohl in der Rahmenerzählung als auch in den Binnengeschichten deutlich thematisiert.

 

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I.1.1.1 Rahmenerzählung

In der Rahmenerzählung berichtet Brentano zwar nicht näher über die Existenz von ursprünglichen paradiesischen Verhältnisse, doch er deutet an, daß zumindest vor auf dem Gut des Barons vor der Französischen Revolution unter dem König Ludwig XVI. alles in bester Ordnung war 1. Erst die Französische Revolution, der Streit um das Bourbonenerbe, die Feldzüge Napoleons, der deutsche Befreiungskrieg und damit auch der militärische Einzug des Barons warfen die Verhältnisse durcheinander: Die Völker bekriegen sich, die Angestellten und die Familie des Barons müssen flüchten und Haus und Hof laden zur Plünderung ein 2. Erst mit der Krönung des französischen Königs Ludwigs XVIII. kehren wieder Ordnung und paradisiesche Verhältnisse ein 3.

 

I.1.1.2 Binnenerzählung

In den Binnenerzählungen muß das verlorene Wissen der Schöpfungsgeschichte erst in Form der wahren Lebensverhältnisse wiedergefunden werden. Baron, Gerichtshalter und mit ihnen der Leser müssen in einzelnen Schritten rekonstruieren 3, welche Rolle den einzelnen Figuren ursprünglich zugestanden hat 1, bevor Korruption und Habgier von ihnen Besitz ergriffen haben 2.

Betrachtet man die Figurenkonstellation, so fällt auf, daß Brentano auch hier Gut und Böse in Form zweier Personengruppen thematisiert hat. Während die Guten (Frenel und Antoinette) ohne eigenes Verschulden aus dem Paradies vertrieben wurden 2, haben Sanseau, seine Frau und Dumoulin ihre Sünden zu verarbeiten. Durch die Aufdeckung und Sühne ihrer Freveltaten erreichen zumindest Frenel und Antoinette wieder ihre ihnen zustehende Position 3. Es findet also eine klare Überwindung des Bösen durch das Gute statt. "Ein [weltliches] Urteil [über die Bösen] wird in der Novelle [jedoch] nicht gefällt. Ehe es dazu kommen konnte, sterben die Delinquenten von eigener Hand: Sanseau löst seinen Verband, um zu verbluten. Dumoulin erschießt sich" (Hosch 1988: 68) und Mademoiselle zieht sich ins Kloster zurück.

 

 

 

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Die Guten

Luis Frenel/ junger Chevalier de Montpreville

Frenel hat (wie Antoinette) durch die vergangenen Ereignisse in seinem Leben Erbe und damit auch den Titel des Chevaliers de Montpreville verloren 2. An der Unterschiebung der Kindesleiche waren Sanseau, Dumoulin und in gewissem Maße auch Antoinette beteiligt. Frenels ursprüngliche Situation symbolisiert die Urszene des Verlustes. Ohne eigenes Verschulden und sogar ohne Kenntnis zu haben, wird er aus dem Paradies des Wohlstands-Adels vertrieben. Nachdem alle Verhältnisse und Intrigen aufgedeckt sind, erlebt Frenel einen weiteren Rollenwechsel. Beraubte man ihn zuerst seiner Geburtsposition, so gewinnt er nun seine alte Identität und Rechte zurück 3. Er wandelt sich im Laufe der Erzählung vom Adligen 1 zum Bürger 2 und wieder zum Chevalier 3. (Hosch 1988: 79)

 

Antoinette Frenel/ ursprünglich: Marie Genevieve de Renaut

Antoinette wurde von Dumoulin ebenfalls um ihr Erbe und den Titel gebracht. Nachdem er Antoinette dazu benutzte, der 2. Frau de Montpreville ihren toten Bruder unterzuschieben 2, lebte sie mit einem (unbewußten) Schuldgefühl weiter bei ihrem Ziehvater Dumoulin. Sie konnte nicht wissen, zu welchen kriminellen Machenschaften sie mißbraucht worden war und welche Auswirkungen ihr "Botengang" auf ihren späteren Ehemann Frenel hatte.

Antoinette wurde zwar aus dem Paradies ihres Familienhauses vertrieben 1, aber auch bei ihr kann man wegen ihrer kindlichen Unschuld nur sehr eingeschränkt von einem Sündenfall sprechen. Für Frenel wechselt seine junge Frau durch die Aufdeckung ihrer Mittäterschaft kurzzeitig ihre bisher so tugendhafte Rolle. Er ist so entsetzt über sie, daß er nicht weiter nach den Hintergründen fragt.

"‘Unseliges Weib!’ rief Frenel aus, ‘du hast die Leiche des neugeborenen Kindes hingesetzt; du, mein Weib, mußtest mich um alles bringen!’ Hier sprang er auf, und überließ sich einer vollkommenen Verzweiflung" (99)

Erst als der Baron eingreift, und "darauf verweist, daß Mme Frenel zu jung ist, um wissentlich Anteil an diesem Handel gehabt zu haben" (Hosch 1988: 74), vollzieht für Frenel ein erneuter Rollenwechsel der Antoinette. "Die Rolle des Vorsatzes, der Absicht und des Willens, auf die der Baron das Augenmerk lenkt, scheint für Frenel völlig nebensächlich zu sein. Etwas später erkennt er an, daß man die junge Marie Genevieve ‘gemißbraucht’ habe, aber er insistiert: ‘es ist doch ein schreckliches Ereignis, das sie befleckt’." (ebd.)

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Die Bösen

Mademoiselle Montpreville

Die Tochter des alten Chevaliers de Montpreville aus erster Ehe und spätere Ehefrau des französischen Sergeanten Sanseau wird von Brentano mit besonderer Ironie - ja fast schon mit beißendem Spott beschrieben. Auf fast zweieinhalb Seiten wird ihre Entwicklung bzw. der Rollenwechsel vom behüteten Töchterchen 1 bis zur verwerflichen Aufgabe der Familienrechte geschildert. Ihr Sündenfall besteht in der Aufgabe des Adelsstandes, die durch das Verbrennen des Montpreville-Stammbaums symbolisiert wird 2. (97)

Während dieser Akt nur ein abschließendes Moment ihres Sittenverfalls darstellt, ging die Unschuld der Mademoiselle de Montpreville schon an früherer Stelle verloren 2:

"Der Gleichheitsrock wurde geschneidert und angezogen. Der dezenteste war er eben nicht; die Gesellschaft fand die Mademoiselle bezaubernd, der junge Sanseau umarmte sie, und der ganze Unterschied zwischen ihr und der schlechten Gesellschaft, in der sie sich befand, ihre Unschuld, ging an diesem Tage verloren 2. Sie waren alle frei und gleich, obschon sie eine ziemlich garstige Gleichheit vorstellte, denn sie war häßlich; und so gleich und eben sie überall war, wo man Unebenheiten nicht uneben findet, so war sie doch auf der einen Schulter etwas zu uneben, und die Pariser Witzlinge bemerkten, als sie in dem Tempel der Vernunft spazierte, da sie etwas hautaine, daß sie eine Achselträgerin, daß sie noch nicht ganz gleich sei." (96)

"Eitelkeit, hautaine, Hochmut sind Motivationen, die auf eine verkappte theologische Deutung des Sündenfalls bezogen werden könnten. Die Freiheit, die als Tugend der Gleichheit und als Patriotismus allegorisch gefeiert und proklamiert wird, bringt, da sie jedes religiösen oder philosophischen Hintergrundes entbehrt, die Aufhebung jeder moralisch-sittlichen Verantwortlichkeit und erlaubt schrankenlose Willkür, Egoismus, der jedem Verbrechen Tür und Tor öffnet. Der Verlust ursprünglich metaphysisch begründeter Werte und die bewußte, freche Negation jeder sittlich-religiösen Verpflichtung des Menschen, aus der seine soziale Verantwortlichkeit resultiert, wird zum Anlaß für um sich greifendes Unglück, Unfrieden und Verbrechen. [...] 2. In der ‘Schachtel mit der Friedenspuppe’ bedeutet die historische Umbruchsituation zugleich die Zerstörung alter Ordnungen und Wertsysteme, die durch jene bewußt befördert wird, die aus falschem Ehrgeiz, aus fehlgeleitetem Bewußtsein oder aus Angst freiwillig ihre Familientradition verbrannten und mit ihr auch deren geistig-moralische Werte." (Kluge 1978: 121-122)

Der moralische Verfall der jungen Frau ist damit ganz eindeutig mit dem Sündenfallmotiv verbunden. Ihre Schuld ist jedoch sicher anders zu beurteilen als die von Sanseau und Doumulin, da ihr offensichtlich das Bewußtsein für ihr politisches Engagement und die Korruptheit ihres Gatten fehlte. Ihre Schuldfähigkeit wird dadurch gemindert, daß sie schon ihre Kindheit unter dem Einfluß der revolutionären Familie Sanseaus verbracht hat,

"[...] da sie ihre Mutter früh verloren und ihr Vater eben nicht glücklich bei der Wahl ihrer Erzieherinnen mag gewesen sein". (95)

 

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Außerdem scheint sie nicht Mittäterin an der Erbschleicherei und den damit verbundenen Machenschaften ihres Mannes Sanseau zu sein, zumindest wird dies in der Novelle nicht erwähnt. Als Sühne für ihren Sündenfall gibt Mademoiselle de Montpreville ihr Vermögen an den rechtmäßigen Erben Frenel zurück und zieht sich in ein Kloster zurück.

 

St. Luce/ Dumoulin

Der Totengräber Dumoulin wird als der eigentliche Schurke in der Erzählung angeführt. Von Sanseau beauftragt, unterschiebt er der Mutter Frenels die Kindsleiche und bringt Frenel so um sein Erbe 2. Sein Hang zu Verbrechen und Gaunereien und seine moralische Korruptheit werden mit einem gestörten Verhältnis zu Gott begründet. Mit seiner "verlorenen Gotteskindschaft" (Kluge 1978: 122) wird der Verlust seiner Unschuld erklärt (Vgl. ebd.) 2:

"Dumoulin war ein Jude gewesen, der aus Gewinnsucht schon in seinem vierzehnten Jahre die Rolle eines Christen zu spielen angefangen; er war eigentlich nie getauft, und hatte eine Menge Stände durchlaufen, bis er endlich die Tochter eines Totengräbers heiratete und mit ihr den Dienst erhielt. Er hatte lange Zeit die Gräber geplündert, und war dadurch zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen, das meistens in Ringen und Kleinodien bestand, die er aber nicht zu veräußern wagte." (108)

Dieser Verrat an seinem Glauben und der christlichen Moral erinnert dabei sehr an die biblische Gestalt des Judas, der Jesus im entscheidenden Moment an seine Feinde ausliefert. Brentano liefert mit dieser Charakterisierung massive Hinweise auf seine antisemitische Einstellung. Der Einfluß der christlich-deutschen Tischgesellschaften mit Arnim, bei denen es schon mal aus antisemitischen Gründen Ohrfeigen gab, zeichnet sich hier ab.

 

Allerdings gibt auch die Figur des Ganoven Dumoulin in "Die Schachtel mit der Friedenspuppe" keine eindeutige Rolle vor. So galt er nicht immer nur als einer der Bösen, sondern war bis zur Binnenerzählung von Frenel als guter Pflegevater von Antoinette und Schwiegervater Frenels bekannt. Erst durch den plötzlichen Rollenwechsel entpuppt er sich als Entführer und Schurke. (Vgl. Hosch 1988: 75)

Das Schicksal des Dumoulin wird endgültig durch seine Weigerung zur Reue und Buße besiegelt. Er bittet zwar seine Pflegetochter um Verzeihung (Vgl. 103), kann jedoch auch im Moment seines Todes nicht zu seinem Glauben zurückfinden und stirbt deshalb ohne Vergebung.

 

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"[...] ich brauche keine Gnade, was soll mir die Gnade? Mein Geld werden sie mir doch nehmen!" (109)

Diese unchristliche Reaktion macht ihn für alle zum unbekehrbaren Sünder, der in einer Kartoffelgrube sein Grab findet. Der Gerichtshalter drückt Dumoulins Verwerflichkeit und seine Weigerung zur Reue noch einmal aus:

"[...] wie ein Feind der Freiheit und des Friedens, während unseres Festes. möchten alle Feinde des Guten, alle Diener des Eigennutzes, alle Sünder, die den Mut nicht haben, Buße zu tun, heute mit ihm gestorben sein!" (108)

"‘Mit Kälte und Niederträchtigkeit’ weist Dumoulin jede Bitte um Vergebung und Gnade, um eine Entsühnung durch Gott ab, und er stirbt unerlöst, in verhärteter Abwehr gegen jegliche persönliche moralische und metaphysische Verantwortung für seine Taten." (Kluge 1978: 123)

 

Pigot/ Sanseau

Während Dumoulin im Laufe der Erzählung einen Rollenwechsel vom positiven zur negativen Figur erfährt, erfolgt dieser bei Sanseau umgekehrt. In der Binnenerzählung wird er zunächst als mit negativen Titeln überhäuft. Er ist ein "Taugenichts" (97), ein "undankbare[s] Kind[er] (98), er zeigt "Härte und Grausamkeit" (ebd.), er erlaubt sich "freche Reden und Handlungen" (97), "Insolenzen" (ebd.) und "beleidigendste[n] Äußerungen" (98). Während Sanseau zunächst als "bitterster Feind" (ebd.) Mme Frenels beschrieben wird, ist am Schluß von ihm nur noch vom "Schwager" die Rede (110). (Vgl. Hosch 1988: 76) Der offenkundige Rollenwechsel scheint bei Sanseau auch noch in anderer Hinsicht glaubhaft: während der Revolution war er nämlich Schauspieler. (Vgl. Hosch 1988: 79)

Sanseaus verlor seine Unschuld durch seine Habgier 2:

"Sanseau hatte kaum den Tod meines Vaters erfahren, als er unter den beleidigendsten Äußerungen mit einigen Gerichtspersonen seines Gelichters in die Wohnung meiner Mutter drang, um sich in den Besitz der Verlassenschaft meines Vaters zu setzen". (98)

An dieser Erbschleicherei bzw. an der Kindesunterschiebung läßt sich sein Sündenfall festmachen 2. Im Gegensatz zu Dumoulin bereut Sanseau seine Taten auf dem Sterbebett und setzt auf das Erbarmen Gottes (102) und auf die Vergebung Frenels (ebd.). Als reuiger Sünder gibt er sein ergaunertes Erbteil an Frenel zurück und kann so in Frieden sterben. 3 Er wird in einem aufwendigen Denkmal bestattet und in guter Erinnerung behalten. Bei Brentano gibt es für Sünder also genau zwei Möglichkeiten: Genauso wie Haß und das Böse sich innerhalb der Dumoulin-Figur selber zerstören (Selbstmord), werden diese Sünden bei Sanseau durch reli

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giöse Reue und Buße geläutert. (Vgl. Kluge 1978: 128)

Betrachtet man den Werdegang Sanseaus, so wird man stark an das neutestamentarische "Gleichnis des verlorenen Sohnes" (Vgl. Lukas 15) erinnert. Darin geht es um einen Sünder, der von seinem Vater auch wieder freudig ins Elternhaus aufgenommen wird, nachdem er sein Erbe durchgebracht hat. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes/ Sanseaus ist dem Vater/ Gott Reue genug und Anlaß zur Freude.

 

I.1.2 Tag der Rechenschaft/ Tag des jüngsten Gerichts

Die beiden Komponenten der Friedensblätter (s. S. 3) treten mit den Motiven "Tag der Rechenschaft" (103) und dem "Tag des jüngsten Gerichts" (Vgl. Offenbarung 20) sehr deutlich hervor.

I.1.2.1 Rahmenerzählung

Die nationale Komponente wird mit dem "Tag der Rechenschaft" innerhalb der Rahmenerzählung auf weltliche Weise gefeiert. Die Figuren der Rahmenerzählung - Adlige und Bürger - finden in einer Feier wieder zueinander und erzählen sich ihre Kriegserlebnisse (104). Auf diese Weise wird der Jahrestag der Leipziger Schlacht und die Völkerversöhnung festlich begangen.

"[...] heute aber ist ein Tag der Rechenschaft. Heute vor einem Jahr rechneten die Völker miteinander; es ist dir für dein Gericht ein sehr heiliger Tag anberaumt; geh in dich [...]" (103)

Dieser "sehr heilige Tag" der nationalen Befreiung und Erlösung bildet den Hintergrund für die menschliche. (Vgl. Kluge 1978: 127)

 

I.1.2.2 Binnenerzählung

Innerhalb der Binnenerzählungen wird das historische Ereignis deshalb auch im persönlichen Bereich zum "Tag der Rechenschaft". Jede einzelne Figur (Frenel, Antoinette, Dumoulin, Sanseau) wird zur Rechenschaft gezogen und muß in je einer Binnenerzählung ihr Statement abgeben. Am "Tag des Selbstgerichts" (Vgl. 108) steht jeder vor dem "Tribunal der Wahrheit", aber es sind "keine grausamen Richter" (103), die da ein Urteil fällen. Hier spielt versteckt die Theologie des jüngsten Gerichts (Offenbarung 20, 10-15) hinein. (Vgl. Kluge 1987: 126)

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Die Schuldigen (Dumoulin, Sanseau) werden entlarvt und gezwungen, sich sogar schriftlich zu rechtfertigen.

Damit werden sie "zugleich vor ihre metaphysische Verantwortung gestellt. So konfrontiert Brentano Menschen, die diese Verantwortung nie preisgegeben haben (wie der Hausherr) mit solchen, die sie verleugnen (Dumoulin), in der Reue wiederbekennen (Sanseau) [...]." (Kluge 1978: 127)

Die Schuldigen werden in der Novelle - wie schon erwähnt - nicht von einem weltlichen Gericht bzw. dem Gerichtshalter verurteilt. Mit ihren Bekenntnissen stehen Dumoulin und Sanseau vielmehr vor dem jüngsten Gericht und damit vor Gott. Erst durch das Aussprechen der Wahrheit können sie vor diesem göttlichen Gericht auf Gnade hoffen. Man kann an dieser schon ablesen, welchen Stellenwert Gott für die Menschen bzw. den Leser einnehmen soll. Während nationale und christliche Idee der Novelle sonst etwa gleichrangig von Brentano behandelt werden, so erkennt man hier doch schon erste Ansätze seiner hierarchischen Weltanschauung: Gott steht über allen Nationalitäten und über Gut und Böse; kurz: er steht über allem bzw. allen!

 

I.1.2 Das Schlachtlied und der Meteor (105-106)

Durch die zahlreichen Bezüge zur Gegenwart und zur christlichen Symbolik rückt die Feier der Schlacht bei Leipzig in den Mittelpunkt. Das Schlachtlied und der Meteor nehmen dabei zentrale Positionen ein (195-106).

Beide Elemente sind dabei biblischer Abstammung. Sowohl das Schlachtlied als auch der Meteor u. a. Details finden ihr Pendant im 2. Buch Mose, dem Auszug der Israeliten aus Ägypten:

 

1. Strophe: Gott erzählt Moses über die zehn Plagen für den ägyptischen Pharao, der sein Volk nicht ziehen läßt. (Vgl. 2. Mose 11)

Hier finden sich Parallelen zur Schreckensherrschaft Napoleons. Brentanos politische Einstellung wird mit seiner Ablehnung ganz deutlich.

Refrain: Das israelische Volk besingt die Befreiung vom Pharao nach der Verfolgung durch die Ägypter im Schilfmeer (Vgl. Moses Lobgesang, 2. Mose 15), das französische Volk besingt die Befreiung der napolitanischen Herrschaft.

 

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3. Strophe: Bei Tag zeigte Gott seinem Volk mit eine Wolkensäule und bei Nacht durch eine Feuersäule den Weg aus Ägypten. (Vgl. 2. Mose 13)

5. Strophe: Historische Parallele zum Brand Moskaus nach dem Rußlandfeldzug Napole ons 1812. Die reinigende Wirkung des Feuers wird hier zusammen mit der "Flut" erwähnt, die die Israeliten im Schilfmeer vor den Ägyptern rettete.

(Vgl. 2. Mose 14)

7., 9. + 11. Konkrete Hinweise auf die Leipziger Schlacht und Parallelen zwischen den

Strophe: Franzosen und den Israeliten. Beide wollen "Den Bund des Heils erneuern".

 

Mit dem Erscheinen der Feuerkugel nach dem Schlachtlied erhalten die Bürger noch einmal eine himmlische Bestätigung. Mit der Erscheinung des Meteors wird Gottes Allgegenwärtigkeit und seine einigende Macht noch einmal mehr bestätigt. Im Glauben an den einen Gott brechen "Frieden und Kraft und Dauer" (107) unter den Bürger aus. In frommer Gesinnung finden sie - wie die Israeliten im alten Testament - Zusammenhalt und für eine kurzen Moment "unendliche Harmonie" (ebd.).

 

 

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I.2 Religiöse Leitmotive

 

Die Konzeption von "Die Schachtel mit der Friedenspuppe" läßt verschiedene Leitmotive erkennen, die Rahmen- und Binnenerzählungen thematisch miteinander verbinden:

Die Wiederherstellung der alten Ordnung, unendliche Harmonie und der Gedanke von Frieden und Versöhnung zwischen Völkern und einzelnen Menschen.

 

I.2.1 Wiederherstellung der alten Ordnung durch das Aussprechen der Wahrheit

Alle Schandtaten, die während der Französischen Revolution verübt wurden bzw. nicht ans Licht kamen, werden am "Tag der Rechenschaft" (103) aufgedeckt und soweit gesühnt, bis die ursprünglichen Verhältnisse wiederhergestellt werden können. So kehrt der Baron als preußischer Edelmann auf sein Gut zurück, der Gerichtshalter kann sich sein souveränes Auftreten wieder erlauben und Frenel und Antoinette erhalten Erbe und ihren Adelstitel zusammen mit den Geburtsrechten zurück. "All das spiegelt die wiederhergestellte alte Ordnung" (Schönhaar 1969: 106) und erinnert stark an die triadische Folge (Vgl. S. 4-5) bzw. die Wiedergewinnung des Paradieses (3).

 

Nach Ansicht Gerhard Schaubs handelt es sich bei der Novelle um eine Restaurations-erzählung, in der die alten Verhältnisse proklamiert und dargestellt werden. Auf drei verschiedenen Ebenen findet seiner Meinung nach die Wiederherstellung statt:

Diese von Frenel gestiftete Hautelisse-Tapete liefert mit ihrem biblischen Thema ein weiteres religiöses Motiv. Sie stellt das Urteil Salomons über ein totes und ein lebendiges Kind dar (Vgl. 1. Kön. 3). Brentano hat diese Bibelstelle beim Schicksal von Frenel und

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Antoinette auch inhaltlich verarbeitet. Frenel wird durch Sanseaus Intrige mit der untergeschobenen Kinderleiche um sein Erbe gebracht und später als ‘Wechselbalg’ verspottet. Auch die heimliche Entführung von Antoinette durch Dumoulin ist indirekt in der Geschichte vom Urteil Salomons vorgebildet. (Vgl. Hosch 1988: 53)

"Salomo" ist hebräisch und heißt übersetzt: "Friedemann". Die Tapete paßt mit ihrer Motivik also bestens zur Friedensthematik der Novelle. (Vgl. 417)

 

Die Wiedereinsetzung der alten Ordnungen wird erst durch die zahlreichen Aussagen und Berichte der Binnenerzählungen ermöglicht, in denen sich die einzelnen Figuren zur Wahrheit bekennen. In der sog. Katharsis werden einige Figuren infolge einer seelische Erschütterung geläutert. Sowohl Antoinette als auch Frenel, Dumoulin und Sanseau (und auch der Baron) werden durch das Auftauchen der Schachtel so in innerliche Erregung versetzt, daß sie sich nacheinander offenbaren. (Katharsisfunktion)

"Das Bekenntnis zur Wahrheit ist das Bekenntnis zu einem Absoluten, denn mit ihm steht der Mensch nicht nur vor sich selbst und seinen irdischen Richtern, den Zuhörern, sondern auch vor Gott, und erst durch ihn wird die vollkommene Befriedung der Menschen und der Welt erreicht, ‘unendliche Harmonie’. Die nationale Befreiung und Erlösung ist der Hintergrund für die menschliche." (Kluge 1987: 126-127)

Mit dem Motiv der alten Ordnungen appelliert Brentano deutlich für das Aussprechen der Wahrheit, "weil der Mensch, indem er seine Taten und das Vergangene erinnert, sich zu sich selbst bekennt und dadurch innerlich frei wird". (ebd.)

Dies ist eine hoch-moralische Funktion, die in fast allen Erzählungen Brentanos thematisiert wird, in denen es um die Wirkung von zerstörerischen Kräften auf eine geordnete Welt und die anschließende Bewältigung dieses Chaos geht. Die Zurückführung einer zerstörten Wirklichkeit zu einer friedlichen ist oft ein Thema der Novelle überhaupt - auch in der Romantik. (Vgl. Kluge 1978: 125).

 

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I.2.2 Unendliche Harmonie durch den übergeordneten Grund- gedanken von "Paci et Providentiae"

Erst durch die Befreiung und Erlösung wird die menschliche unendliche Harmonie (107) geschaffen, die in den letzten Szenen in vielen Motiven geschildert wird:

"Die Erscheinung des Meteors hatte über die ganze Versammlung eine tiefe Feierlichketi gebracht, alle sanken ohne Aufforderung auf die Knie nieder und sangen mit einer heiligen Rührung: ‘Herr Gott, dich loben wir! [...] In wahrer Begeisterung hört aller Zufall auf, sie ist unendliche Harmonie." (107)

Diese Harmonie hebt sich sehr stark gegen die vergangenen Verwirrungen ab, in der die Figuren tiefe Existenzkrisen überstanden (Frenel, Antoinette, Sanseau) oder eben nicht bestanden (Dumoulin). Die Wiederherstellung der alten Ordnung und die unendliche Harmonie werden durch die Wundererscheinung des Meteors als religiöses Ereignis nochmals bestätigt und verherrlicht: In der Feuersäule spiegelt sich die unendliche Harmonie (107).

 

Die vergangenen Verwirrungen im Familienleben der Figuren der Binnenerzählung sowie die Französische Revolution und die anschließenden Befreiungskriege sind Zerstörungen, die im Leben der Einzelnen und der Völker Auswirkungen hinterlassen. Kluge bezeichnet sie als "Spuren der moralischen Verrohung [...] als Folge einer maßstabslos gewordenen Welt [...]. (Kluge 1978: 128)

Während die Erzählung zum Zeitpunkt des Friedens und der damit verbundenen Rückkehr des Barons auf sein Gut beginnt, nehmen die Entwicklungen um den zwischenmenschlichen Frieden erst ihren Anfang. Die Ereignisse um die auf dem Gut eintreffenden Menschen offenbaren durch Haß und Feindschaft verstrickte Schicksale, die erst bereinigt werden müssen, bevor auch hier Frieden und unendliche Harmonie erreicht werden können. Durch den Tag der Rechenschaft stehen alle Figuren letztlich für sich selbst und müssen sich für ihr eigenes Handeln verantwortlich zeigen. Erst dann kann ein Ruhen in Gott möglich werden.

 

Der übergeordnete Gedanke des äußeren Friedens im Land und zwischen den Völkern wird somit durch den inneren Frieden der Menschen als Folge der Ruhe in Gott ergänzt. (Vgl. Kluge 1978: 128) Der Moment dieser Einheit des einzelnen Menschen mit seinem Volk und anderen Völkern und mit Gott wird symbolisch mit dem Jahrestag der Leipziger Schlacht demonstriert. Sogar der Himmel scheint für einen kurzen Moment seine Zustimmung zu zeigen. 16

Da jedoch unendliche Harmonie nie von Dauer ist, sollen die Menschen künftig mit Hilfe eines Denkmals an den denkwürdigen Augenblick der Einheit erinnert und ermahnt werden. Dieser Tempel trägt die Aufschrift "Paci et Providentiae" (111) (deutsch: Dem Frieden und der Vorsehung) und offenbart damit noch ein weiteres Element, daß zusammen mit der Völkerversöhnung bzw. dem übergeordneten Friedensgedanken den Sinnhorizont von Brentanos Erzählung bilden: Die Vorsehung.

"Die Schachtel mit der Friedenspuppe" scheint zunächst aus vielen scheinbaren Zufällen und unerwartet aufeinanderfolgenden Ereignissen zu bestehen. Diese Tatsache weist wieder einmal auf den märchenhaften Charakter der Erzählung hin. Der schicksalhafte Gang des Geschehens vollzieht sich jedoch bei genauerer Betrachtung nach einem Ablaufschema, daß der Aufklärung der Chaos dient. Da jedoch nur die Schachtel als "fatales Requisit" (Kluge 1978: 133) ein verbindendes Element ist und weder die Figuren im Text noch der Leser Einfluß auf den Ablauf nehmen kann, vollzieht sich das Geschehen nach einem unbekannten Plan. Die vermeintlichen Zufälle der Erzählung sind nicht planlos gestaltet, sondern können nach Brentanos Anschauung als Vorsehung interpretiert werden.

 

 

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II. Bezug der Novelle zur Kunst

 

II.1 Erläuterung der Denkmalsmotivik

Den wohl deutlichsten Bezug zur Bibelmotivik zeigt die nähere Betrachtung des Denkmals:

"[...] es bestand in einer kleinen gothischen Kapelle. Jener Stein sollte roh drin liegen bleiben, und auf demselben das Bild der Jungfrau Maria, welche die Schlange zertritt, aufgerichtet werden; sie sollte eine Lilie und das Jesuskind eine Palme in der Hand tragen, auf ihr Haupt aber die Taube mit dem Ölzweig niederlassen, die Aufschrift des Tempels aber: Paci et Providentiae sein." (111)

Mit der Beschreibung der Marienfigur und des Jesuskindes wird der Sieg des Guten über das Böse gleich zweimal in einem Satz dargestellt:

Durch Maria, eine Nachfahrin Evas erfüllt sich der Fluch, den Gott im Paradies über die Schlange verhängt, indem er sagt, daß ihr die Nachkommenschaft Evas "den Kopf zertreten soll". (Vgl. 1. Mose 3) Während Maria in der einen Hand eine Lilie - und damit ein verstärkendes Mariensymbol - hält, trägt sie in der anderen das Jesuskind mit der Palme. "Die Palme ist [hierbei] das Attribut der Märtyrer; sie ist das Zeichen des Sieges über den Tod und den Einzug in das Paradies. Wie Maria die Schlange, den Teufel überwunden hat, so hat Christus den Tod besiegt." (Vgl. Schaub: im Anhang 418).

Auch hier spielt die Paradiesthematik wieder eine besondere Rolle. Gott sprach den Fluch, als er Eva aus dem Paradies verbannte 2, Christus jedoch besiegte den Tod und machte so den Einzug ins Paradies wieder möglich 3. Hier nimmt Brentano wieder symbolischen Bezug zum Inhalt der Erzählung. Durch den Sieg der Guten über die Bösen (Dumoulin, Sanseau und seine Frau) wird der Einzug ins Paradies für Frenel und Antoinette auf schon beschriebene Weise wieder möglich. Die nach der Sintflut ausgeschickte Taube kam mit einem frischen Ölzweig im Schnabel wieder zurück. Sie ist demnach Sinnbild für wieder neu entstehendes Leben, Frieden und Heil, gleichzeitig aber auch ein Symbol für den neuen Bund zwischen Gott und dem Volke Israel. (Vgl. ebd.) Auch diese Symbolik findet ihr Pendant in der Erzählung. Der Gedanke der Völkervereinigung und des inneren Friedens wird nun durch den Gedanken des Friedens mit Gott ergänzt. Sowohl die Völker als auch jeder einzelne Mensch schließen ihren Frieden mit Gott (s. S. 15) und gehen somit genaugenommen einen "neuen Bund" ein, der von Gottes Seite mit der Feuersäule demonstriert wird.

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II.2 Die Rolle der Kunst

II.2.1 Das Denkmal als Mahnmal der Menschen

"Da die unendliche Harmonie keine Dauer besitzt, bedarf es der ständigen Mahnung des Menschen an seine metaphysische Bestimmung im Bild und Denkstein. Damit kommt die Kunst ins Spiel [...]" (Kluge 1978: 128)

Die christlich motivierte Mahnung an die Menschen manifestiert sich in einer neuen Dimension - der Kunst. Brentano schreibt ihr damit neben ihrer allgemein romantisch-ästhetischen Legitimation noch eine Appellfunktion zu.

Er setzt damit nicht nur durch seine vielfältigen religiösen Motive im Text der Erzählung, sondern erstmals auch durch ein gegenständliches Bildnis mahnende Zeichen für die Leser bzw. "die forschende Nachwelt" (111). Die Thematik der Erzählung wird so noch einmal in einem anderen Medium wiederholt. "So entstehen jene ambivalenten Schlußallegorien in Brentanos Erzählungen mit ihrer zwischen Geist und Gehalt, Kunst und Religion, Text und Bild vermittelnden Spannung." (Kluge 1978: 128)

 

II.2.2 Die Konstitution der Erzählung im Denkmal

"Die Schachtel mit der Friedenspuppe" erhält ihren Sinn erst in den letzten vier Zeilen und ist daher auch erst vom Schluß her zu deuten.

"Da sich auf dem Dache desselben ein zierlicher Turm und auf diesem ein kupferner Knopf erheben wird, so soll diese Geschichte, zur Freude einer forschenden Nachwelt, in diesem Knopfe niedergelegt werden."(111)

Die Erzählung wird als Geschichte im Denkmal konstituiert und soll so als Mahnung der Menschen für alle Zeiten im Denkstein zu finden sein.

Indem die gesamte Thematik der Erzählung auf Papier gebannt noch einmal im Kunstwerk niedergelegt ist, wird eine Allegorie zwischen der gegenständlichen Kunst des Denkmals und der Erzählung als stoffliches Kunstwerk geschaffen. Die Erzählung Brentanos erscheint mit ihren durchkonstruierten Zufällen und überraschenden Zusammenhängen ein wirkliches Kunstwerk an Komposition und Erzähltechnik.

 

Neben dieser Selbstreflektion der Erzählung tritt zudem eine starke Einbindung des Lesers ("der forschenden Nachwelt") zu Tage. Der Erzähler macht sich zwar auch an wenigen ande

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ren Stellen bemerkbar, meldet sich am Schluß jedoch deutlich zu Wort und äußert sich zur Funktion der aufgeschriebenen Geschichte. Die bisher objektiv gehaltene Rahmenerzählung wendet sich dabei ganz deutlich gegen die subjektiven und privaten Binnenerzählungen. Die einzelnen Schicksale der Hauptfiguren wirken zum erstenmal nicht mehr wichtig, evtl. sogar störend und werden deshalb eingeschlossen und bis auf weiteres verbannt. Genau wie der Erzähler besieht sich der Leser die Geschichte erstmals von einem erhöhten Standpunkt aus (von der Kuppel des Denkmals). Durch die Distanz zum Geschehen schafft Brentano sogar eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen Erzähler und Leser.

 

Der Leser soll in jedem Fall die Erinnerung an das Geschehen bewahren. Das Denkmal demonstriert ganz deutlich die beiden verschiedenen Aspekte und Funktionen der Erzählung. Einerseits soll die in das Kuppelinnere eingeschlossene Geschichte die Ereignisse rekapitulieren und zur Freude und Unterhaltung der Leserschaft taugen. Dieser Aspekt dient daher der ästhetischen Reflektion.

Andererseits repräsentiert das Äußere des Denkmals die christlichen Aspekte und transzendiert den Sinn der Erzählung damit ins Religiöse. (Vgl. Kluge 1978: 124-125) Mit ihrem mahnenden Hintergrund erhält die Erzählung Brentanos bzw. die Dichtung der Romantik allgemein neben ihrer geschilderten ästhetischen noch eine moralische Legitimation.

 

 

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III. Brentanos Selbstverständnis und Weltanschauung

 

III.1 Brentanos Verständnis von Kunst und seiner Rolle als Künstler bzw. Dichter

Laut Dennerle möchte Brentano die Kunst auf keinen Fall in den Dienst einer Religion oder Konfession gestellt sehen. Mit der Verbindung der beiden Disziplinen Religion und Kunst (z.B. innerhalb der Denkmalsmotivik) offenbart Brentano eher die "transzendente Komponente der Kunst" (Dennerle 1976: 35) (Vgl. S. 19)

 

Nach romantischem Verständnis ist es Hauptaufgabe der Kunst, Wahrheit zu finden, d.h. Erkenntnisse auf allen erdenklichen Wissensgebieten aufzubereiten. Während Wahrheit in der Geschichte und der menschlichen Natur unmittelbarer erscheint, ist sie in vergangener Kunst und Wissenschaft bereits konserviert. "Brentano versteht Wahrheit dabei in der Nachfolge Platonischen Gedankengutes als absoluten Wert und ewige Idee, Aufgabe aller an der Kunst Beteiligten [...] ist es, der in der Zeit entstellten oder ganz verschütteten Wahrheit zum Siege zu verhelfen." (Dennerle 1976: 31) Alles Erfahrene und Erkannte soll dabei durch Kunst repräsentiert werden. So spiegelt sich nach Brentanos Verständnis die Natur der Welt in künstlerischer Dichtung wieder. Die Welt erscheint hierbei insgesamt als ein Kunstwerk Gottes.

"Nur die wahre Kunst, welche die Schöpfung selbst ist, ist ewig. Kunst ahmt das Lebendige nach [...]" (Dennerle 1976: 34)

 

Künstlern bzw. Dichtern kommt demnach die Aufgabe zu, die wahre Welt mit Hilfe der Kunst stellvertretend für alle anderen Menschen zu erschließen und verständlich zu machen. Aufrüttelung bzw. Mahnung der Menschen erscheinen als wesentliche Aufgaben aller Künstler/ Dichter.

In einem Brief an seine Freundin Emilie Linders beschreibt Brentano seine Funktion als Schriftsteller als die eines "abgesonderten Beobachter[s] der sich im Kreis drehenden und wirbelnden Menschheit, als den ‘Fixierer’ im doppelten Sinne: dem Beschauer und demjenigen, der das Kreisende zum Stillstand bringt, um seine wahre Beschaffenheit zu identifizieren." (Kastinger-Riley 1980: 352)

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Anders ausgedrückt befindet sich Brentano in einem "Kommunikationsprozeß zwischen dem ‘Ewigen’ und dem ‘Wahren’ und dem Publikum" (Kastinger-Riley 1980: 350). Damit versteht er sich selbst als "Mittlerfigur" (ebd.) und als "Objekt der Poesie" (ebd.). Als ein solches Medium schafft der Dichter Brentano mit Hilfe seiner kreativen Talente einen "transzenden-talen Impuls" der den Heilungsprozeß der Gesellschaft beschleunigen kann und sich in Form seiner Texte fortpflanzt. (Vgl. ebd.)

 

In seinen Werken arbeitet Brentano mit einem aus der deutschen Mystik bekannten Verständnis. Die Seele wurde hier als Bestandteil des Göttlichen im Menschen dargestellt. Wenn Kunst es nun ermöglicht, das beseelte Leben nachzuahmen, bewirkt sie gleichzeitig eine Kommunikation aller am Kunstprozeß Beteiligten mit dem Göttlichen. (Vgl. Dennerle 1976; 33) Diese Interpretation demonstriert noch einmal sehr genau die enge Verbindung von Kunst und Religion, die in vielen Werken Brentanos zu finden ist.

 

Die Kunst stellt aber nicht nur für Clemens Brentano eine zentrale Komponente seiner Werke um 1800 dar, sie ist in ihrer ästhetischen Funktion ein bevorzugter Faktor der Romantik, einer literarischen Epoche, die Kunst in letzter Konsequenz sogar über die Philosophie stellt. (Vgl. Mittenzwei: 192)

 

III.2 Die ontische Welt

Innerhalb der Klasse der romantischen Dichter ordnet Mittenzwei Brentano einer ganz besonderen Fraktion zu. In seinen Werken findet man - wie bei vielen seinen Kollegen - keine Hinweise einer bestimmten Weltauffassung, die dann aufs Konkret-Persönliche umzudeuten ist. Vielmehr schildert er konkrete Situationen, die sich eher am äußeren Geschehen bzw. am Wesen der Welt und damit seiner Art von Weltvertrauen orientiert.

Dies läßt sich schon an der komplizierten Konstruktion von "Die Schachtel mit der Friedenspuppe" erkennen. Während zunächst das Geschehen der Binnenerzählungen in den Mittelpunkt rückt, erhebt sich zum Schluß die Rahmenerzählung mit ihrem metaphysischen Inhalt über das Binnengeschehen. (Vgl. S. 19)

 

 

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Brentano vermischt in der Novelle:

Er bevorzugt damit oft eine Mischform aus vorgegebenem, alten und persönlichen Elementen. "Er setzt Teile der Welt und der Religion wieder anders aufeinander und konstruiert etwas Neues". (Mittenzwei: 194) Kunst ergibt sich demzufolge automatisch als Resultat aus "Harmonie, Gleichgewicht, [und dem] Zusammenspiel einander angemessener, aufeinander zu gerichteter Kräfte in Welt und Mensch:" (a.a.O.: 199) Diese Kräfte zeigen sich in der vorliegenden Novelle innerhalb verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen. So offenbart sich in der Erzählung eine Spannung, die sowohl zwischen "Geist und Gehalt, Text und Bild" als auch zwischen "Kunst und Religion" Verbindungen schafft. (Vgl. Kluge 1978: 128) Es findet somit eine Art metaphysische Verschmelzung der Disziplinen statt.

 

Mit seiner Arbeitsweise gehört Brentano eher zu den plakativen Künstlern der Romantik, da er mit seinen Werken die Philosophie des Anschauens verfolgt bzw. "die Natur als ein Gedicht betrachtet, da[s] in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt". (Mittenzwei: 194) Brentano bevorzugt damit das "Ontische vor dem Logischen" (ebd.), d.h. er stellt die Abbildung des Lebens, der Natur und auch der göttlichen Schöpfung vor die verstandesorientierte Interpretation der Worte bzw. der Erzählung.

"Das Schaffen des Dichters besteht darin, sich als ‘schaffende(r) Spiegel der Schöpfung’ zu bewähren: das heißt, nicht sich selbstherrlich über diese zu erheben und ihr eine eigenen entgegenzusetzen, vielmehr sie im Kunstwerk zu vermitteln." (a.a.O.: 197)

Die Schöpfung als Kunstwerk Gottes zu erkennen ist dabei eine Voraussetzung für Dichtung.

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Mit der Abbildung der Natur bzw. der göttlichen Schöpfung im dichterischen Werk manifestiert sich (wie bei der Denkmalssymbolik) das Absolute im Irdischen im Sinne der romantischen Ästhetik. (Vgl. ebd.: 198)

Der Dichter ist demnach derjenige, der das Talent hat und sich soweit mit der Natur und der Welt verbunden fühlt, daß er diesen Einklang bestätigen und vernehmbar machen kann. (Vgl. ebd.)

 

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Literaturverzeichnis

 

 

Brandstetter, Gabriele: Erotik und Religiosität. Zur Lyrik Clemens Brentanos.

In: Münchner Universitäts-Schriften, Münchner Germanistische Beiträge. Bd. 33. Hrsg. v. Wolfgang Harms, Renate von Heydebrand, Theo Vennemann.

 

Brentano, Clemens: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek, Friedhelm Kemp. München 1963-1968.

 

Dennerle, Dieter (1976): Kunst als Kommunikationsprozess - Zur Kunsttheorie Clemens

Brentanos. In: Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissen schaft. Bd. 9. Hrsg. v. Bernhard Gajek.

 

Hosch, Reinhard (1988) (Diss.): Immanente Reflexion und Binnen-Rahmen-Struktur.

Zum formalen und stofflichen Zusammenhang von Clemens Brentanos Erzählungen. Tuttlingen.

 

Kastinger Riley, Helen M. (1985): Clemens Brentano. Stuttgart.

 

Kluge, Gerhard (1978): Brentanos Erzählungen 1810-1818. In: Beiträge des Kolloquiums im freien deutschen Hochstift. Hrsg. v. Detlef Lüders.

 

Mittenzwei Ingrid ( ): Kunst als Thema des frühen Brentano.

 

 

Schönhaar, Rainer (1969): Novelle und Kriminalschema. Ein Strukturmodell deutscher

Erzählkunst um 1800. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich.